Gute Presse

Es ist ja immer ein wenig Glückssache, wie eine Zeitung berichtet, ob Namen richtig sind, Fakten stimmen. Diesmal stimmte alles, sachlich richtig und gut und freundlich formuliert, beschrieb der Text meine geplante Lesung in Telgte. Okay, eigentlich kein Wunder, denn schließlich hatte ich den Text selbst verfasst.

Eigenes Bild, erstellt mit AI

Hiddensee to go

Hiddensee to go

Noch steht der Leuchtturm nicht, noch gibt es keine Fährverbindung, keinen Hafen, noch sind die Hügel, die Berge fast baumlos und kahl. Die „Briefe eines Schiffbrüchigen“ von  Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten,  1794 veröffentlicht, enthalten eine Beschreibung Hiddensees, die ich etwas gekürzt und in den Schreibweisen vorsichtig modernisiert habe, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

„Ich (…) ersuchte meine Führer, mich nun des kürzesten Weges nach Hiddensee zu bringen. Diese kleine Überfahrt war sehr angenehm. Das Seewasser ward von der Sonne bis auf den Grund erleuchtet, dessen silberfarbiger mit unzählbaren Muscheltrümmern durchsetzter Sand einen schillernden Glanz von sich warf. Schwärme von Plötzen, Barschen und andern Fischen spielten in dem grünlichen Element, und schossen pfeilschnell unter unsern Rudern fort.

Um Mittag etwa setzten meine Führer mich auf dem Alten Bessin aus, einem Haken des Hiddenseeischen Landes, welchen ich nun erst umwandern musste, um den bewohnten und angebauten Teil der Insel zu erreichen. Dieser Alte Bessin ist wahrlich das allerödeste Land, was ich je gesehen. Weder Gras noch Gebüsch bekleidete den abgestorbenen Boden. Einige verkrüppelte Hagebuttensträucher schienen bloß dazustehen, um den Mangel alles Schattens und alles Labsals desto fühlbarer zu machen. 

Der Haken zog sich mehr in die Länge, als ich erwartet hatte, und das Gehen ward mir sehr beschwerlich. Es war Mittag und drückend schwül. Die Luft schien alle Elastizität verloren zu haben. Einzelne matte Wellen plätscherten kraftlos an das dürre Ufer. Lechzend nach Schatten und Erquickung, mit schmerzendem Haupte und durchgeborstenen Lippen, vermochte ich nur sehr langsam mich fortzuschleppen, und der verwünschte Haken nahm gar kein Ende. Anderthalb gute Stunden dauerte es, eh ich seine Krümmung hinter mir, und ich mich wieder auf bewohntem Boden sah. Ganz erschöpft warf ich auf dem ersten grasigen Abhange unter einer Gruppe noch dichtbelaubter Weiden mich nieder, und versank in eine schlummerähnliche Betäubung. Ein großer Jagdhund, der des Wegs gelaufen kam, und mir seine kalte Schnauze an den Backen legte, erweckte mich. Ich sprang auf, und fühlte durch die minutenlange Anspannung meiner Fibern nicht nur mein Kopfweh verstreut, sondern auch meine Kräfte völlig wieder hergestellt. Voll jenes Vergnügens, welches der Anblick nie gesehener Landschaften mir allezeit gewährt, setzte ich meinen Stab weiter. Eine Allee noch grünender Weidenbäume zog sich den Strand entlang. Zur Linken hatte ich das Ufer. Zur Rechten türmten sich die Berge, deren nächste Abhänge, so steil sie auch zum Teil schienen, dennoch Spuren des Anbaus verrieten.

Durch Grieben, das nördlichste Dorf des Landes, gelangte ich bald zu dem sogenannten Kloster, wo der Besitzer der Insel und der Prediger wohnen. Bei Letzterem sprach ich ein. Er sowohl als seine gastfreie Gattin empfingen mich mit vieler Freundschaft. Er ist auf dem Lande geboren und erzogen, äußerte auch mit seinem einsamen Aufenthalt und sehr mäßigen Einkommen eine mir sehr rührende Zufriedenheit.

Nachdem ich mich ein wenig erfrischet hatte, führte er mich in die Berge. Schöne romantische, wild durcheinander geworfene Berge, größtenteils ohne Spuren einiger Kultur, und aller Kultur unempfänglich.

Du weißt, Liebe, wie ich an den Bergen hänge. Berge gehen mir nächst dem Meere über alles. Inselberge nun gar, umrauscht vom heiligen Vermögen des Meeres, sind mir der höchste Gipfel aller Naturerhabenheit. Kein Wunder demnach, wenn ich nicht müde werden konnte, in diesen Höhen umherzuschwärmen. Bergauf, bergab, Ufer hinan, Ufer hinunter rannte und kletterte ich, während der ehrliche etwas schwerfällige Pastor, an der besonnten Seite des Abhanges gelagert, in Frieden sein Pfeifchen schmauchte, und sich herzlich freute, dass ich an seinem Vaterlande ein so großes Behagen fände. Ich sah die Sonne untergehen von diesen Bergen, doch hinter drohenden Wolkengebirgen. Ich sah den Mond hervortauchen aus den Wellen in seinem vollen Licht, und diese öden Gipfel mit mildem Strahl versilbern. Bis tief in die Nacht hinein würde ich in den Bergen herumgeschwärmt sein, wenn mein freundschaftlicher Führer nicht angefangen hätte, vor Frost zu zittern, und über den sinkenden Tau sich zu beschweren. Also begleitete ich ihn wieder zu seinem Hause, wo ein gastliches Mahl und dann ein weiches, nur zu weiches und zu heißes Bette meiner harrte!

Mit dem grauenden Morgen brach ich wieder auf. Meine Fenster gingen auf den gebirgigen Teil der Insel. Rasch kleidete ich mich an, um diese interessanten Berge noch einmal zu durchirren. Es stürmte stark aus Westen, und das Grollen des Meeres, das Rauschen der an dem hohen Gestade sich brechenden Wogen erhöhten die Herrlichkeit der Szene über alle Beschreibung. Gewaltsam musste‘ ich mich ihr entreißen, weil ich gerne noch den übrigen Teil der Insel sehn, und doch vor Abend noch wieder zu Hause sein musste.

Ich kehrte zu meinem lieben Wirt zurück, der sich höchstlich wunderte, dass ich schon wieder in den Bergen gewesen sei, und sich erbot, mich jetzt auch in das flachere Land zu führen. Gleich hinter seinem Dorfe nämlich senkt sich das Land mit einmal in eine beinahe waagerechte Fläche, welche mehr denn anderthalb deutsche Meilen bis an das südliche Ende der Insel fortläuft, ganz aus Moor und Sumpf und Sande besteht, und zwar wohl einiger Viehzucht, des Ackerbaues aber fast gar nicht empfänglich ist. Wir spazierten den westlichen Strand hinunter bis zur Hiddenseeischen Vitte, dem größten Dorfe des Landes, dessen Einwohner sich größtenteils vom Fischfange nähren. Armseligere Hütten als die, so ich in diesem Dorfe fand, sind mir noch nicht vorgekommen. Da es der Insel an Lehm fehlt, um die Wände aufzurichten, und an Stroh, um die Dächer zu decken, so sind ausgestochene Rasen das einzige, womit sie wider die Unbilden der Witterung sich schützen können. Das Innere dieser Hütten aber war so rauchig und so unrein, dass ich mit aller meiner Hüttenliebe nicht im Stande war, nur wenige Minuten in ihnen auszudauern.

Das Dorf ist volkreich; aber wenig Menschen waren vorhanden. Man sagte uns, sie wären all am Strande und fischten Bernstein. (…)

Tiefer in das Land zu dringen, hielt ich für unnötig, weil mein Begleiter mich versicherte, dass es dem, worauf wir uns jetzt befänden, überall vollkommen ähnlich wäre. Ich will also den Rest meiner kleinen Anmerkungen hier kürzlich zusammenfassen. (…)

Die Insel hält zwei Meilen in die Länge; aber die Breite ist desto unbedeutender. Man bemerkt, dass der flache Teile des Landes ansetze, der gebirgige aber von den Wellen immer mehr weggespült werde.

Die Zahl der jetzigen Einwohner beträgt zwischen vier und fünfhundert. Sie nähren sich von einigem Ackerbau; hauptsächlich aber vom Fischfang und der Schifffahrt. So arm das Land auch ist, so hegen sie doch eine so unüberwindliche Vorliebe dafür, dass sie fast nie ermangeln, aus der Fremde zurück zu kommen, und auf dem undankbaren Boden, auf dem sie geboren wurden, ihr Leben zu beschließen.

Der fühlbarste Mangel des Landes ist der gänzliche Mangel des Brennholzes. Statt seiner müssen sich die Einwohner mit gedörrtem Kuhmist behelfen, und mit einem Torfe, dessen unerträglicher Gestank die Hütten, die Kleider, die Geräte, ja selbst die Speisen und Getränke der Einwohner durchdringt, und dem Fremden, der seiner nicht gewohnt ist, Übelkeit und Erbrechen erregt.

Gleich nach Mittage beurlaubte ich mich bei meinem gastfreiem Wirte, und bestieg eine Jolle, die auf den Heringsfang ausfuhr, und mich an dem Posthause aussetzte.“

Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten: Briefe eines Schiffbrüchigen, 1794

Im nächsten Teil: Alexander Ettenburg, Gerhart Hauptmann, jede Menge Künstler und eine verlorene Urne.

Edgar Selge

Edgar Selge

Wieso ich das eine Buch lese, das andere aber nicht, ich kann es nicht wirklich erklären. Früher waren es Klappentexte und Rezensionen, die meine Entscheidungen beeinflussten, das geschieht jetzt seltener, weil ich schneller vergesse, was ich da gehört oder gelesen habe. „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge wurde mir in die Hand gedrückt, ein Geschenk. Eins, für das ich dankbar bin. Also eigentlich bin ich ja grundsätzlich dankbar, wenn ich beschenkt werde, einfach deshalb, weil Menschen mich beschenken, auch wenn das bei manchen Anlässen eben so üblich ist und das Nichtschenken viel bemerkenswerter wäre. „Du, ich schenke dir mal nichts, weil ich keinen Bock hatte, etwas für dich zu kaufen. Geschweige denn dir etwas zu basteln“, das sagt man ja nicht.

Meistens gibt es aber, was ich mir gewünscht habe, eine mögliche Enttäuschung habe ich mir dann also selbst zuzuschreiben. Hätte natürlich auch was, ein paar Sachen auf die Wunschliste zu schreiben, die man bestimmt nicht will und dann mal zu sehen, was davon tatsächlich geschenkt wird.  Das böte dann Anlass für interessante Gespräche. „Vielen Dank, das wäre aber nicht nötig gewesen“ oder „Hast du wirklich geglaubt, dass ich sowas lesen würde? Ich dachte, du würdest mich besser kennen.“

Edgar Selge also. Dem allgemeinen Hintergrundrauschen hatte ich schon entnommen, dass das Buch gelobt wurde. Heißt ja nichts, Leute werden dafür bezahlt, Rezensionen zu schreiben und wenn man nicht weiß, was die jeweiligen Rezensenten sonst so gefeiert haben, ist ein Urteil schwer einzuordnen. Jetzt habe ich das Buch gelesen. Ich mochte es.

Das wäre doch mal eine Rezension, gerade auch für Leute, die keine Zeit haben, aber die lesen vermutlich auch keine Bücher. Also ausführlicher. Ein Roman, heißt es. Autofiktion oder autobiografisch geprägt, jedenfalls nah am Leben des Autors, nehme ich an, die biografischen Details des Autors und des Protagonisten stimmen zumindest überein. Die Frage, ob das alles so stimmt, ob Selge das alles so erlebt hat, verbietet sich eigentlich, weil er sein Buch eben nicht als Autobiografie bezeichnet, er wird wissen, warum. Es wird kein Leben erzählt, kein Lebenslauf erläutert, sondern im Kern des Textes sind wir im Herford der fünfziger Jahre. Vor dort aus blickt er zurück und nach vorn, auch mal von heute aus zurück auf spätere Ereignisse, den Tod des Bruders und der Eltern. Doch es ist die Kindheit, um die es geht. Das Leben kurz nach der Katastrophe des Nationalsozialismus.

Ich bin nur wenige Jahre jünger, aber in meinem Elternhaus war die Nazizeit kein Thema, vielleicht auch, weil ich keine älteren Geschwister hatte, die Fragen gestellt hätten. Vielleicht auch, weil meine Eltern nicht unter der Niederlage, unter dem Verlust des großen Glaubens an die Volksgemeinschaft, den Führer und den Sieg litten. Während des Lesens des Buchs wurde mir für mich viel nachvollziehbarer, welche Last auf dem Leben, auf dem Denken und Sprechen der Nachkriegszeit lag und wie unmittelbar Verfolger, Gleichgültige und Opfer in der erzwungenen Demokratie miteinander leben mussten und wie schnell es die Täter und die Mitläufer wieder zu Macht und Einfluss gebracht hatten. Selge handelt das nicht theoretisch ab, er lässt uns teilhaben an den Gesprächen am Mittagstisch, an der Begeisterung für Musik und Kunst und an der Gewalt, an der psychischen und physischen, die der Vater über die Familie hat.

Edgars Leiden unter diesem Vater, aber auch seine Prägung durch diesen Vater, zieht sich durch die Episoden des Buchs. Episoden sind es, die Selge erzählt, vom Kino und von der Schule, vom Spielen im Garten und von Besuchen bei den Nachbarn.

Seine Familie war anders, gebildeter, musischer, aber auch verstrickter in die NS-Vergangenheit, als meine Familie, aber Selge erzählt nicht nur von sich, er erzählt von uns, von diesem Land und den Menschen, von ihren Werten und ihren Urteilen. So waren wir und ob wir anders sind, besser, wird eine andere Generation erzählen müssen.

Foto: Martin Kraft, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Die Insel der grauen Mönche

Die Insel der grauen Mönche

Zugegeben, das klingt wie der Titel eines Horrorfilms, ist aber nur die Übersetzung des Namens der Insel, auf der wir ein paar Tage verbringen wollen: Schiermonnikoog. Schier steht für das Grau der Kutten, Monnik für Mönch und Oog ist in Friesland wohl ein Wort für Insel oder war mal eins, damals vor 700 Jahren. Die Mönche sind schon lange weg, die Walfänger auch, dafür sind die Touristen gekommen, die die Ruhe der Insel zu schätzen wissen. Ein Ort, ein großes Naturschutzgebiet, Strand und Wasser. Der niederländische Kabarettist und Autor Godfried Bomans (1913-1971) hat sich schon vor Jahrzehnten dort aufgehalten. Den folgenden Text habe ich aus dem Niederländischen übersetzt, ich nehme an, dass er sich da selbst interviewt hat.

Herr Bomans, Sie wohnen für einige Wochen auf Schiermonnikoog. Was tun Sie hier?

Nichts.

Überhaupt nichts?

Überhaupt nichts!

Ist das schwierig?

Das ist das Schwierigste, das es gibt.

Und warum wählten Sie dafür Schiermonnikoog?

Weil andere Orte unseres Vaterlandes noch einige Aktivitäten fordern und hier geschieht nichts. Man gerät also auch nicht in die Versuchung etwas zu tun. Es gibt Wind, es gibt Möwen und die beobachtet man.

Wissen Sie etwas über die Geschichte dieser Insel?

Nein, überhaupt nichts.

Hat sie vielleicht keine Geschichte?

Glückliche Länder haben keine Geschichte, das ist ein Zitat von eh… Tacitus.

Godfried Bomans

Foto: Der graue Mönch von Martin van Waning

Ich mit fremden Federn

Ich mit fremden Federn

Es war Jules van der Ley, der mich auf die Idee brachte, ein paar meiner Texte zusammenzustellen und ein Buch daraus zu machen. Das ist schon eine Weile her, aber im Sommer dachte ich mir, ich könnte doch meine weihnachtlichen Texte einmal daraufhin anschauen, ob sie für eine kleine Veröffentlichung reichen.

Sie reichten nicht, also mir nicht, ich kannte sie ja alle schon. Also suchte ich nach Gedichten, die ich so zwischen meine Texte packen könnte, dass sie die Aufmerksamkeit von ihnen ablenken und meinem Buch den erwünschten weihnachtlichen Glanz verleihen würden. Gesagt, getan. Dann war es nur noch die Arbeit von Monaten, all das in ein hoffentlich akzeptables Format zu bringen, die Seitennummerierung hinzubekommen und ein Cover zu gestalten.

Spätestens daran wäre ich vermutlich gescheitert, aber ich habe eine Tochter, die sich mit solchen Dingen auskennt, die lesen und schreiben kann und die Fehler gefunden hat, die ich sorgfältig über den Text verteilt hatte. Ohne Amelies Arbeit wäre das alles nichts geworden und das es jetzt ein schönes Buch ist, also eins, das schön aussieht, liegt an ihrer geschmackvollen Gestaltung des ganzen Covers und nicht zuletzt an der Grafik von kirillslov.

Weil das Buch – Ich mit fremden Federn heißt es übrigens – bei epubli erschienen ist, kann man es dort auf kaufen. Später einmal auch bei Amazon oder im Buchhandel. Also nächstes Jahr in der Weihnachtszeit, falls man mit seinen Entscheidungsprozessen nicht ganz so schnell ist.

Es gibt eine Softcoverausgabe, die schön ist und ein Hardcover, das richtig schön ist. Aber ich nehme es nicht persönlich, wenn nur die preiswertere Softcoverversion bestellt werden sollte. Ja, ich würde es sogar akzeptieren, wenn weder die eine noch die andere Ausgabe gekauft würde, aber das schreibe ich hier besser nicht.

Hiddensee (1)

Hiddensee (1)

Hauptmanns Feder am Himmel über Hiddensee

Gerhart Hauptmann machte Urlaub auf Hiddensee. Ringelnatz auch. Autoren, Bildhauer, Maler, Regisseure, alle kamen und hatten Spaß. Nehme ich zumindest an. Ehrlich gesagt hatte ich, wie ich nur ungern zugebe, nie daran gedacht, dass nicht nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, vielleicht auch Beamte und Gewerbetreibende, Urlaub machen, ach was, das ist, was ich dachte: Wie kann es sein, dass Ringelnatz Urlaub brauchte, Hauptmann Berlin verließ, um baden zu gehen? Wovon brauchten die Urlaub? Vom Genie? Geht das? Meine Verwirrung darüber war so groß, dass ich außer Acht ließ, dass ich Urlaub brauchte, na ja, brauchte, machte, ich als Rentner. Wovon? Von meinem beschaulichen, recht selbstbestimmten Dasein außerhalb der großen Tretmühle?

Da haben wir ja auch schon die Erklärung: Urlaub macht vielleicht, wer ihn braucht, aber jeder braucht Urlaub, weil der Urlaub das andere ist, die Abweichung von der Regel, der Moment des Innehaltens oder auch des Aufdrehens, der Besinnung oder auch der Besinnungslosigkeit. Jedenfalls sollte das Recht auf Urlaub im Grundgesetz stehen. Mindestens. 1903 haben übrigens Brauereiarbeiter das Recht auf Urlaub erstmals durchgesetzt. Drei Tage im Jahr. Natürlich bei einer Sechstagewoche. Drei Tage!

Hauptmann hatte Hiddensee zu jener Zeit längst als Urlaubsziel festgemacht. Für drei bis vier Monate im Jahr. Natürlich hat er auch auf Hiddensee gearbeitet. Was manche Künstler eben so Arbeit nennen. Denken und Formulieren. Produktivspaziergänge hat er seine Strandspaziergänge genannt, weil ihm am Strand der Ostsee klar wurde, was die Träume der vergangene Nächte an Rohmaterial zurückgelassen hatten. Im Schlaf kamen die Bilder, die Ideen, am Strand der rote Faden und im Kreuzgang in Haus Seedorn die Wörter und Sätze, wenn er seiner Helferin Fräulein Jungmann, seinem Jungmännchen, im Gehen und Stehen diktierte, was in abendlicher Runde zum Klingen gebracht wurde. Gerhart Hauptmann also machte Urlaub auf Hiddensee – und wir auch. Also nicht zusammen, nicht einmal gleichzeitig.

Obwohl, wenn man so will, also eigentlich… ja, doch. Gerhart Hauptmann ist auf Hiddensee begraben worden, das war nicht sein Plan, falls es denn zu seinem Plan gehörte, irgendwann zu sterben und begraben werden zu müssen. Seine schlesische Heimat gehörte 1946, als er starb, nicht mehr länger zu Deutschland und die Polen, die neuen Herren im Lande, wollten ihn nicht. Hiddensee wollte ihn, den Literaturnobelpreisträger, der Hiddensee wohl erst zum Ferienparadies der Künstler und Intellektuellen gemacht hatte. Also kann jetzt, wer will, Hauptmann auf Hiddensee besuchen und bei der Gelegenheit auch gleich Haus Seedorn besichtigen, Hauptmanns Domizil, das jetzt als Gerhart-Hauptmann-Haus ein Museum geworden ist und auch ohne Führung eine Menge über den Mann und seine Zeit erzählt.

Wir waren also bei Gert, ich hoffe, das klingt nicht despektierlich, immerhin sind wir inzwischen häufige Besucher seiner Grabstätte und des Hauses bzw. der Buchhandlung, die zum Museum gehört. Elfie, meine Frau, hat während ihrer Schulzeit den Bahnwärter Thiel gelesen, also nicht während ihrer gesamten Schulzeit, so dick ist das Reclamheftchen auch nicht. Gelesen ist auch zu schwach, durchgearbeitet, Zug um Zug.

Ich mit meiner kaufmännischen Bildung, Ausbildung wohl besser, hatte nichts von ihm gelesen oder jedenfalls nichts, was ich bei einem Verhör gestehen könnte. Also musste ich das nachholen, mit einem der dünneren Bücher aus der Museumsbuchhandlung, weil ich fand, ich könnte nicht in seinem Haus herumstreifen und an seinem Grab stehen, ohne seine Stimme im Ohr zu haben. Ach ja, die habe ich mir bei YouTube angehört. Aber seine Sätze, seine ausschweifende, etwas altväterliche Art der Formulierung, seine Adjektive, seine Sprache wollte ich lesen, weil ich ihm, wie ich das an anderer Stelle schon sagte, nicht einmal an seinem Grab oder in seinem Haus näher kommen kann, als in seinen Texten.

Ein unpassendes Gedicht

Ein unpassendes Gedicht

Entlang des Nordhorn-Almelo-Kanals radelt es sich gut in Richtung Denekamp. Denekamp liegt in Twente und Twente ist ein Teil der Provinz Overijssel. Tukker nennen sich die Menschen, die in Twente leben. Eine Erklärung für diesen Ausdruck bezieht sich auf die Hosentaschen, die im Platt, das man in Twente spricht, Tuk heißen. Beide Hände in den Hosentaschen, etwas rustikal, bäuerlich, so sei der Tukker. Vermutlich gibt es noch reichlich andere Erklärungen. Na gut, Regionen basteln sich ihr Selbstbild. Übrigens kenne ich die Bezeichnung schon etwas länger, aber wie das so ist, wenn man etwas dazu erzählen will, schaut man mal nach.

Der Nordhorn-Almelo-Kanal ist nur einer der Kanäle in der Gegend und es fährt sich wunderschön unter den herbstbunten Bäumen und über das großzügig verteilte Laub auf den mal schmalen, mal breiteren aber immer gut ausgeschilderten Radwegen. In den Niederlanden, aber auch in der Grafschaft, ist das Knoppunten-System verbreitet, eine simple Methode, die eigene Tour zu planen und die Wege auch zu finden. Ab Denekamp kennen wir den Weg nicht mehr und sind augenblicklich überrascht, wie schön es weitergeht. Bald gelangen wir an eine Brücke, der meine Frau nicht traut, was natürlich nicht heißt, dass sie nicht auf die andere Seite will, sondern dass ich vorgehen soll. Ich bin zwar nicht mutig, habe aber keine Wahl. Die Brücke hält wider Erwarten.

Wie schön und fremd eine Gegend doch sein kann, wenn man abseits der Hauptstraßen unterwegs ist. Ich denke an ein Gedicht von Hendrik Marsman. Es heißt „Herinnering aan Holland“ und eigentlich denke ich auch nur an die erste Strophe.

Denkend aan Holland

zie ik breede rivieren

traag door oneindig

laagland gaan,

Übersetzt könnte es etwas so heißen:

Denke ich an Holland,

sehe ich breite Flüsse

träge durch endloses

Tiefland strömen

Okay, das passt überhaupt nicht zur Landschaft, zu dem eher lieblichen Kanal, den schmalen Wegen, den schmucken Bauernhäusern, aber was kann ich denn dafür, das mir gerade dieses Gedicht einfällt? Der Hälfte der Niederländer fällt es auch ständig ein, zumindest die ersten zwei Zeilen und Marsman war am Mittelmeer, als er in den frühen dreißiger Jahren das Gedicht schrieb. Es ist also überall und jederzeit erlaubt, völlig unpassende Gedichte zu erwähnen. Regelmäßig denke ich an dieses Gedicht, wenn wir bei Deventer über die Ijssel fahren. Und während ich sowas vor mich hin denke, sind wir auch schon beim Landgoed Singraven und das wollen wir uns gern zeigen lassen.

Lüfte fragen

Rainer Strobelt hat ein neues Buch veröffentlich und ich habe ein paar hoffentlich verkaufsfördernde Zeilen dazu geschrieben.

Lüfte fragen

Sagen Sie nicht, dass Sie mit Lyrik nichts am Hut haben.

Wir alle kennen Gedichte und seien es die, die wir in der Schule auswendig lernen mussten und die manchen von uns die Freude an dieser kunstvollen Form des Umgangs mit Sprache verdorben haben. Rainer Strobelt verlangt nicht von Ihnen, dass Sie seine Gedichte auswendig lernen. Er würde es, wenn er es könnte, da bin ich mir sicher, aber Sie sind auf der sicheren Seite, wenn Sie sein neues Buch einfach nur kaufen und lesen.

Sie kriegen zwar nicht viel für Ihr Geld, aber so ist das mit Lyrik und wenn Sie es nicht mögen, sind Sie wenigstens schnell damit fertig. Aber Sie werden es mögen und mancher Text wird Ihnen nachschleichen wie Rilkes Panther. Und bei Lyrik ist es definitiv nicht die Länge, die zählt. Da ist zunächst einmal die Sprache und die offensichtliche Freude, die Rainer Strobelt daran hat, mit Worten zu gestalten. Dann ist da noch sein Humor, der Teelöffel Zucker, der uns hilft, die  – ich will es Ihnen nicht verschweigen – auch ernsteren Themen, die in diesem Buch anklingen, anzunehmen. Und ernster als das Leben ist das Buch auf keinen Fall, aber genauso kurz.

Lodge in Translation

Lodge in Translation

Vor einiger Zeit habe ich glaube ich zumindest erzählt, dass ich meine David-Lodge-Bücher erneut lese. Inzwischen bin ich damit fast durch, was nicht daran liegt, dass es so viele sind oder ich so langsam lese. Ich lese schon langsam, also jetzt nicht mit dem Finger in der Zeile jede Silbe mitsprechend, aber schon Wort für Wort und Satz für Satz und gern auch mal einen Satz zurück und eine Seite zurück, weil da etwas stand, das mich erst später erreichte, aber daran liegt es nicht, wie schon gesagt.

Es drängeln sich immer Bücher vor, die mir geschenkt werden, also meistens auf meinen nachhaltig geäußerten Wunsch hin,  Bücher, die schon so lange warten, dass sie unruhig werden und mit dem Klappentext klappern oder Bücherwurmbefall vortäuschen und Bücher, die mir von geliebten Autoren empfohlen werden. Nicht, dass mir  Arno Schmidt eine persönliche Buchempfehlung übermittelt hätte.

Wäre auch nur schwer vorstellbar, vielleicht mit einem Leuchtschriftband auf seinem Grabstein, seinem Grabfindling, aber woher sollte er meinen literarischen Geschmack kennen, mal davon abgesehen, dass er damit gegen die Totenruhe verstieße. Vertiefen wir das nicht weiter, obwohl vertiefen im Zusammenhang mit Totenruhe auch schon wieder seltsam ist. Gut, Schmidt hätte mir vielleicht verziehen.

Viele kennen das sicher auch, dass in einem Buch, das man sehr mag, ein anderes Buch, ein anderer Autor empfohlen wird und dann muss  man dieser Spur folgen. Gerade ging mir das noch so mit J.M.A. Biesheuvel, dessen „Reis door mijn kamer“ mir in „Des Sinn des Lesens“ von Pieter Steinz nahegelegt wurde. Und weil Steinz Niederländer ist, hat er vergessen, darauf hinzuweisen, dass es Biesheuvels Buch auch in deutscher Übersetzung gibt, die “Reise durch mein Zimmer“.  Nicht zu verwechseln mit Karl-Markus Gauss „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“.

Kenne ich nicht. Biesheuvel hingegen kannte ich schon seit vielen Jahren und wusste deshalb, dass er unter eine bipolaren Störung litt. Litt, weil er 2020 gestorben ist. Warum ist eigentlich immer die Rede von verstorben und nicht von gestorben? Gibt es da einen gravierenden physischen Unterschied oder ist gestorben unhöflicher? Egal. Jedenfalls musste ich Bisheuvel lesen und dann auch noch googeln, was es an Videos gibt und die gibt es natürlich und dann muss man die auch gucken und dann stößt man wieder auf… also so geht das.

Was ist aber sagen wollte: Meinen David Lodge lese ich in den deutschen Übersetzungen, also Lodge in translation, während ich niederländische Literatur manchmal im Original, manchmal in der Übersetzung lese. Biesheuvel zum Beispiel kommt aus der gleichen Ecke, räumlich wie konfessionell, wie Maarten ´t Hart, die beiden waren befreundet, haben sogar die gleichen Schulen und Unis besucht, aber – oh Wunder – ihr Wortschatz ist so unterschiedlich, dass ich bei Biesheuvel öfter mal etwas einfach überlese, um nicht immer nachschlagen zu müssen, während ich ´t Hart recht zügig lesen kann.

Bei ´t Hart habe ich, wenn ich denn mal eine deutsche Übersetzung lese, immer das Gefühl, die falsche Synchronisationsstimme zu hören. So klingt der Mann doch nicht, das stimmt doch nicht. Bei Biesheuvel ist das anders, der hat für mich keinen eigenen Klang, obwohl er in den Niederlanden als einmaliges Talent und Meister der Kurzgeschichte gefeiert wurde. Was also geht durch Übersetzungen verloren, was wird möglicherweise sogar gewonnen? Wir erinnern uns daran, dass es mal hieß, ein Buch müsse man in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen, weil es im Original doch sehr verliere. David Lodge könnte ich mir im Original nur zusammenstoppeln, nur den Plot verstehen, nicht den Humor genießen und trotzdem höre ich nicht seine Stimme, wenn ich ihn lese.

Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf Weiterlesen

Lebenslücken

Ich sitze vor einer Übung. Es geht um einen autobiografischen Text, in dem ein Kinderbuch vorgestellt werden soll, nicht irgendeins, sondern eins aus der eigenen Kindheit. Nun hatte ich leider keine Kindheit… nein, falsch, ich hatte nur keine Kinderbücher. Noch genauer: Ich erinnere mich nicht an Kinderbücher.

Jugendbücher, ja. Die habe ich gelesen, manche stehen noch heute in meinen Regalen. Mark Twain oder Jules Verne. Karl May und Salinger. Davor? Meine Kindheitserinnerungen sind sehr bruchstückhaft. Manches weiß ich aus der Zeit, als ich drei Jahre alt war, aus der Zeit, als meine Schwester geboren wurde. Aus den Jahren danach, als sie im Krankenhaus war und wir sie nur sonntags besuchen durften, hinter einer Glasscheibe die armen kranken Kinder, davor wir Besucher. Fast wie zu Coronazeiten.

Momentaufnahmen aus meiner Kindergartenzeit. Arztbesuche. Das Erwachen aus der Narkose, nachdem man mir die Polypen entfernt hatte. Ein eigener Krankenhausaufenthalt im Winter, ich war schon Schulkind und draußen vor dem Fenster rodelten alle Kinder, die es in Hagen gab und das waren ganz schön viele, während ich einen Schlauch schlucken musste. Durch die Nase. Aber da war ich dann schon sieben oder acht Jahre alt. Vorher… nee, da kommt nichts. Ich erinnere mich an Weiterlesen

Die Würze der Nacht

mons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20098881

Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah begleitete Kara Ben Nemsi durch den Orient, durch Afrika oder den Balkan – und mich zum Küchenschrank. Zu dem mit den Schiebetüren unter den Küchenfenstern. Links davon brummte der Kühlschrank, aber der interessierte mich nicht.

Wenn Karl May seine Helden in einem Zelt in der Wüste fremdartige Köstlichkeiten genießen ließ, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Da war es praktisch, dass meine Schlafcouch in der Küche unserer Zweizimmerwohnung stand.

Unbemerkt schleiche ich mich an, das Linoleum unter meinen nackten Füßen knackt nicht… oder was war das? Nein, nur der Kühlschrank, der sich schüttelt. Nirgendwo lauern feindliche Posten. Trotz der fast vollständigen Dunkelheit, kein Mond, keine Sterne leuchten in unsere Essschlafküche, komme ich gut voran. Die Nacht ist kühl, wie es selbst in der heißesten Wüste vorkommen soll. Besonders im Schlafanzug,  Papa hat mal wieder das Küchenfenster offen gelassen. Leise öffne ich die rechte Schiebetür des Schranks, Weiterlesen

Mit anderen Augen

Von Michielverbeek – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5129016

Maarten t’ Hart, der niederländische Schriftsteller, der vor nicht allzu langer Zeit seinen 75. Geburtstag feierte, na, sagen wir: dessen 75. Geburtstag vor kurzem gefeiert wurde, er selbst ist wohl kein Mensch, der Feierlichkeiten schätzt, hat, was sollte ein Schriftsteller auch sonst tun, ein Buch geschrieben und seinen Leser*innen damit ein Geschenk gemacht. De Nachtstemmer heißt es und ist wohl noch nicht auf Deutsch erschienen. Es handelt von einem Mann, der Orgeln stimmt. Es handelt auch von einer Frau und ihrer Tochter. Es spielt, und das ist für mich der Anlass, diesen Text zu verfassen, in Maassluis.

Na und, wird fragen, wer weiß, dass Maarten t‘ Hart aus Maassluis stammt und gefühlt 90 Prozent seiner Romane und Kurzgeschichten dort angesiedelt sind. Wer weder Maarten t‘ Hart noch Maassluis kennt, darf trotzdem weiterlesen, denn es geht mir nicht um Maarten t‘ Hart und auch nicht um Maassluis. Es geht um den literarischen Kunstgriff, mit dem der Autor in diesem neuen Buch ein ganz anderes Maassluis kreiert.

Gabriel Pottjewijd, so heißt der Nachtstimmer, stammt nämlich

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Driessen liest vor

Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / „Telgte, Clemenskirche und Gnadenkapelle — 2014 — 8455“ / CC BY-SA 4.0

Martin Michael Driessen sagte mir nichts, aber die Buchhändlerin unseres Vertrauens hatte ihn zu einer Lesung in Telgte eingeladen und wir wollten sie nicht mit einem fremden Mann allein lassen.

Sie war dann auch nicht allein. Für Coronazeiten war der Veranstaltungsraum gut besucht, zu anderen Zeiten hätten auch nicht mehr Leute Platz gefunden.

Gleich neben der Gnadenkapelle in einem schönen alten Raum mit Stühlen, die auf dem unebenen Steinboden wackeln, saß Driessen vor dem Kamin. Ein älterer Herr, also jünger als ich, aber mehr Herr. Ein Niederländer mit deutscher Mutter und langer Berufstätigkeit als Theater- und Opernregisseur in Deutschland, der jetzt in einem Hausboot in Rotterdam lebt.

Driessen liest und plaudert gern. Seine Tätigkeit als Regisseur hat seinen Blick auf Texte geprägt, er weiß, wie Texte funktionieren und welche Funktion bestimmte Textteile erfüllen. Das führt dazu, dass er nicht nur liest, sondern gleich die Interpretation mit liefert. Er beschreibt, warum er was wie gemacht hat und was er sich dabei gedacht hat, was ihm schwer fiel (ein Mord) und was mit eigenem Erlebnissen zu tun hat. Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Er liest langsam, nicht, weil ihm die Sprache Mühe bereitet, sondern weil er die Sätze wirken lassen will. Auch das erklärt er, will den Lesefluss verlangsamen mit sperrigen Begriffen, mit fremdsprachlichen Zitaten. Er kommentiert sich.

Ein schöner, ein langer Leseabend. Das Buch „An den Flüssen“, ein schmales Bändchen mit einer längeren Kurzgeschichte und zwei ganz kurzen Romanen, wie Driessen sagt, haben wir gekauft. Ich habe es noch nicht gelesen. Noch habe ich Driessen zu sehr im Kopf, um  eigene Bilder und eigene Töne für seine Texte finden zu können.

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Jean de Vaudetar presents his gift of a book to Charles V of Franc

Ich habe ein neues Buch geschenkt bekommen.
Es ist nicht Weihnachten und ich habe auch nicht Geburtstag.
Darum geht es also nicht.
Es geht darum, dass ein Buch ein ganz besonderes Geschenk ist, eins, das man nicht auspackt und sagt: Oh, ein Buch!
Sondern etwas, das man geschenkt bekommt und das dann Seite für Seite ein Geschenk ist. Nicht immer natürlich. Manchmal. Wenn es ist, wie es sein sollte.
Dann ist es ein Geschenk, wie es sonst wohl keines gibt, weil in diesem Buch etwas wartet, vielleicht eine Welt, vielleicht ein Abenteuer, eine Idee, eine Reise in einen anderen Kopf und eine Begegnung mit dem eigenen Kopf.
Was für ein Geschenk.

Auf der Warteliste

Meistens lese ich mehrere Bücher gleichzeitig. Warum das so ist, weiß ich eigentlich nicht. Es hat sich eben so ergeben. Hier oben in meinem Arbeitszimmer, wenn man die Ecke mit PC und Büchern und Kabeln und Videos und Ordnern und Krimskrams ein Zimmer nennen will, liegen die Bücher herum, die noch gelesen werden wollen. Also nicht das es ihre Absicht wäre, ihr Wille, gelesen zu werden, es ist schon mein Wille, aber mit einem einfachen „mein Wille geschehe“ ist das ja nicht getan. Manche stehen da und müssen warten, werden sogar wieder zurückgestuft, wenn sie fast dran gewesen wären.

Das ist vermutlich hart für sie. Oder für ihre Autoren, die in dem betreffenden Moment sicher Herzstechen kriegen oder zumindest ein nervöses Zucken des linken Auges. Gut, vielleicht auch nicht, wie sollte es dann all den Autoren gehen, deren Bücher nicht mal das Lager des Großhändlers verlassen.

Arno Schmidt hat das in „Tina oder über die Unsterblichkeit“ allerdings genau anders herum gesehen. Bei ihm gilt nicht, dass wer schreibt, bleibt, sondern dass, wer gelesen oder besprochen oder auch beworben wird, bleiben muss. Bei Schmidt bleiben die unglücklichen Autoren nach ihrem Tod in einer unterirdischen Welt und hoffen darauf, endlich vergessen zu werden. Den meisten Autoren, die ich kenne, geht es allerdings so, dass sie darauf hoffen, endlich gelesen zu werden. Okay, ich geben zu, dass es sie nicht danach drängt, zu erfahren, ob ich sie endlich gelesen habe.

Obwohl das ja auch was hätte, wenn Deon Meyer, ein niederländischer Krimiautor, der mir völlig unbekannt ist, mich anriefe um sich zu erkundigen, warum ich sein Buch „De vrouw in den blauwe mantel“ noch nicht gelesen habe, obwohl es schon seit dem 15.06.2017 hier rumsteht. Ich weiß das genau, weil der Kassenzettel noch im Buch liegt. Das Buch selbst war ein Geschenk. Nein, ich gehe mit Geschenken nicht generell so um, das hier war eines anlässlich der „Woche des spannenden Buchs 2017“, Beifang beim Kauf eines anderen Buches sozusagen.

Deon Meyer muss noch warten, obwohl er jetzt gerade links neben der Tastatur liegt. Hoffnungsvoll. Aber rechts liegt „Drachenblut“ von Christoph Hein. Das ist dran. Und Meindert Evers „Begegnungen mit der deutschen Kultur.“ Je nach Laune lese ich auch Peter Wohlleben weiter „Das geheime Netzwerk der Natur“. Seit ein paar Tagen ist Elisabeth Etty mit „Minnebrieven aan Maarten“ dazugekommen.

Wie gesagt, meistens lese ich mehrere Bücher gleichzeitig. Sage ich so, stimmt abe nicht, ich lese sie nicht gleichzeitig, sondern ich lese einfach nicht erst das eine zu Ende und beginne dann mit dem nächsten. Manche sagen ja auch, sie hätten ein Buch aus gelesen. Klingt für mich, als sei das Buch jetzt alle. Leer. Fertig. Nein. Ich lese Bücher nicht aus. Ich lasse sie warten, ruhen, reifen um ihnen dann meine geteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.