Jetzt ist auch schön

Jetzt ist auch schön

Mit der Nase in einem Buch oder mit den Augen auf der Suche nach den Spuren einer Vergangenheit, die vielleicht nicht besser, aber anders war, Loriot würde vielleicht sagen, mehr Lametta hatte, so sind wir unterwegs auf Hiddensee.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus, der „Klausner“, die Lietzenburg, die Kirche in Kloster mit dem Friedhof, die Hausmarken, das Ostseehotel, das um 1906 noch die Rufnummer 3 hatte, das frühere Hotel, in dem Fallada „Kleiner Mann – was nun?“ vollendete, die Fährinsel, von der aus die Reisenden einst mit der Kutsche oder auf den Schultern der Fährleute durch die Furt zur Insel gebracht wurden, das Haus Karusel der Stummfilmgröße Asta Nielsen, das und mehr lässt sich finden, manches muss man suchen, aber das erhöht noch das Vergnügen.

Als ob die Insel es nicht wert wäre, als ob die Gegenwart nur ein Brückenkopf der Vergangenheit wäre. Hiddensee ist zauberhaft schön, mit seinen bewaldeten Hügeln, der Steilküste im Norden und dem Sandstrand hinunter bis zum Gellen, dem Bodden und der Aussicht vom großen Inselblick, die einen seufzen macht. Die eigenwilligen Öffnungszeiten, Servicewüste, wird manch einer denken, auf ist, wenn auf ist und um 17 Uhr ist zu. Jedenfalls im Mai, in der Zwischensaison. Ein Glas Rum im Figurentheater und dann auf der kleinen Bühne „Die Schatzinsel“. Im Biergarten des Klausners Hornfisch mit grünen Gräten, Grätenturnen inklusive.

Urlauber mit einem Eis in der Hand, Sanddorneis, sowas gibt’s nicht überall. Bestimmt nicht jedermanns Geschmack,  etwas herber, wie der Osten, den man auch hört, Berliner sind hier, Sachsen, Thüringer mit ihren Meinungen, die gleich raus müssen, freundlich aufgeregt. Aber die Ruhe der Insel wirkt, schnell geht hier nichts, keine Autos, okay, die Post, die Polizei, die Müllabfuhr, ein Inselbus.

Sandwege im Ortskern von Kloster, Betonplatten auf den Wegen zum Strand oder hinaus zum Leuchtturm, Platten aus DDR-Zeiten, erschütternd in wahrsten Sinne des Wortes. Die Lerche steigt auf und Rinder in allen Farben ziehen über eine Weide am Hang. Eine Allee, links eine Weide mit einer Million Weißwangengänsen, einem Haus als Ruhepunkt für das  Auge und dahinter der Bodden, das ruhige, kaum einmal schiffbare Gewässer, Schwäne in großen Gruppen, rechts die Hügel, die von den Ausstattern der Teletubbies entworfen worden sein könnten, dabei waren es die Gletscher der letzten Eiszeit, die natürlich auch nicht an Hiddensee vorbei konnten. Ein paar Bäume auf der Kuppe eines dieser Hügel, ein Postkartenmotiv, dann gleich daneben der Leuchtturm. Eingepackt wegen notwendiger Arbeiten. Ich will mein Geld zurück. Als hinge die Mona Lisa falsch rum im Louvre.

Natürlich ist auch Hiddensee nicht perfekt. Der Backfisch in dem Imbiss, der im vergangenen Jahr noch selbstgeräucherten Lachs zum Niederknien verkaufte, wird jetzt im Brillenetui geliefert – oder war das etwa eine Panade? Die Brötchen könnten knuspriger, das Bier kälter und der Wind wärmer sein, die Sandwege weniger sandig. Und vor allem: der Urlaub länger.

Eine Insel braucht Reklame

Eine Insel braucht Reklame

Gerhart Hauptmann, den Katia Mann einst ihrem und unserem Thomas gegenüber als König von Hiddensee bezeichnete, war bekannt dafür, die Bewohner der kleinen Insel, wenn sie nicht gerade zur kulturellen Elite des Reichs oder der Republik gehörten oder ihm nützlich und trinkfest waren, sorgfältig zu ignorieren. Als Hauptmann 1935 den 50. Jahrestag seines ersten Aufenthalts auf der Insel feierte oder feiern ließ, erwähnte er tatsächlich nur einen Inselbewohner namentlich und ausgerechnet den, mit dem die Insulaner alles andere als glücklich gewesen waren: Alexander Ettenburg.

Hauptmann und Ettenburg stammten aus Schlesien, waren fast gleich alt (Ettenberg war vier Jahre älter, starb aber schon 1919), beide waren Autoren, wenn auch mit sehr unterschiedlichem Erfolg, beide waren dem Alkohol nicht abholt und beide trugen bei passender und unpassender Gelegenheit gern auch einmal eine Kutte. Hauptmann hatte seine Kutte aus einem italienischen Kloster mitgebracht, Ettenburg die seine wohl eher selbst entworfen.

Dieser Alexander Ettenburg verfasste den ersten Reiseführer für Hiddensee und förderte eifrig, sicher auch nicht ganz uneigennützig, den Tourismus. Er war, was man eine schillernde Figur nennt, jemand, der, wenn sich das mit dem Abstand von mehr als 100 Jahren sagen lässt, sich alles zutraute und lieber groß scheiterte, als kleinbeizugeben. Offizier sollte er werden, aber mit kaum 19 wurde er Schauspieler. Wenige Jahre später musste er aus gesundheitlichen Gründen ans Meer ziehen, weil er ein gar zu intensives Leben geführt hatte.

Ettenburg kaufte von den Resten des väterlichen Vermögens eine Villa auf Rügen und mutierte zum Gastgeber für Sommerfrischler, der seinen Hausgästen zu den üblichen Mahlzeiten auch gleich noch das Unterhaltungsprogramm bot, Theater, Lesungen und etwas, das man heute open mic nennen würde. Weil er zunächst keine Schanklizenz besaß, durfte auch schon mal umsonst bei ihm gezecht werden. Betriebswirtschaftlich vielleicht nicht die beste Idee.

Als sein Vermögen nahezu aufgebraucht war, zog er weiter, vom brausenden Leben auf Rügen in die Stille Hiddensees, begleitet von seinem Esel und einer Katze. Ettenburg eröffnete eine Schankwirtschaft in Grieben und baute sich mit einfachsten Materialien auf dem Dornbusch die „Bergwaldschänke Eremitage auf Tannhausen“.

Für die Kenner der Insel oder Leser des Romans Kruso von Lutz Seiler: Der Klausner, die Gaststätte auf dem Dornbusch, verdankt ihren Namen natürlich Alexander Ettenburg. Seilers Kruso bezieht sich sogar ausdrücklich auf ihn: „Länger war von einem Mann namens Ettersberg oder Ettenburg die Rede, den er mit warmer Stimme den Urklausner nannte, ein Mann in langen Gewändern…“ und machte den Vorläufer wenige Seiten später zu einer Art Idol seiner Inselaussteiger: „… wie eine Ikone auf der Spitze des Altars, thronte die Fotografie Alexander Ettenburgs im Mönchsgewand, begleitet von einem Esel und einer Katze…“.

Für die Tagesgäste gab es die Schenke, einfache Holzhütten für die Übernachtungswilligen und in einer Meeresbucht richtete er ein Naturtheater ein, in dem er mit einheimischen Statisten eigene Stücke aufführte. Ich sehe es vor mir und höre es rumpeln, denn Ettenburg reimte manchmal durchaus wuchtig.

Und von des Dornbuschs waldigen Höhn

Meilenweil könnt ihr das Leuchtfeuer sehn,

Sorgsam gehütet von treuer Hand

Auf meinem einsamen söten Land!

Doch steigt der Nebel vom Meeresgrund,

Dröhnet warnend der Kanonenmund:

Nicht Tod und Verderben sendet ihr Lauf,

Zum Segen der Menschheit stellt man sie auf.

O würde doch in jeglichem Land

Solch Zweck von Kanonen bald bekannt!!

(aus Alexander Ettenburg: Der Einsiedler von Hiddensee)

Ettenburg hatte sich ein Mausoleum mit Sarg eingerichtet und schlief wohl auch in einem Sarg, eine Lebensweise, die bei seinen Sommergästen eher für Verwirrung sorgte, es war sogar die Rede vom Spektakelwald mit Oberpriester, so dass 1910 auch schon wieder Schluss war mit der Eremitage und der Umzug nach Vitte folgte. Die dortige Einsiedelei Mathilde war, soweit sich das klären lässt, als Pension mit alkoholfreien Getränken gedacht, aber der Gastgeber bekam seine Alkoholprobleme nicht in den Griff und starb 1919 in Stralsund.

Selbst das Ende seines Lebens wirkt, als habe es ein zweifelhafter Drehbuchautor geschrieben, gleich in zwei Varianten, denn es gibt zwei verschiedene Geschichten zu Ettenburgs Tod. Einmal heißt es, Ettenburg habe in Stralsund auf offener Straße einen Selbstmordversuch unternommen und sei im Krankenhaus gestorben, alternativ wird uns als Ort seines Todes aber auch eine Hafenkneipe in Stralsund angeboten.

Damit nicht genug, Ettenburg wollte auf Hiddensee begraben werden, aber auch daraus wurde nichts, jedenfalls nicht, wenn man den Überlieferungen glaubt, Überlieferungen, denn hier haben wir gleich drei Fassungen.

1. Die Urne geht auf dem Postweg nach Hiddensee verloren.

2. Die Urne wird von einem Fährdampfer ins Wasser geworfen und

3. Ettenburg wird in seiner schlesischen Heimat beigesetzt.

Tatsächlich kann ich mich nicht recht entscheiden, welches Ende dieser Geschichte angemessen wäre, aber vielleicht war ja auch alles ganz anders im Leben, im Sterben und nach dem Tod von Alexander Friedrich Otto Eggers, der sich Alexander Ettenburg nannte.

Hiddensee to go

Hiddensee to go

Noch steht der Leuchtturm nicht, noch gibt es keine Fährverbindung, keinen Hafen, noch sind die Hügel, die Berge fast baumlos und kahl. Die „Briefe eines Schiffbrüchigen“ von  Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten,  1794 veröffentlicht, enthalten eine Beschreibung Hiddensees, die ich etwas gekürzt und in den Schreibweisen vorsichtig modernisiert habe, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

„Ich (…) ersuchte meine Führer, mich nun des kürzesten Weges nach Hiddensee zu bringen. Diese kleine Überfahrt war sehr angenehm. Das Seewasser ward von der Sonne bis auf den Grund erleuchtet, dessen silberfarbiger mit unzählbaren Muscheltrümmern durchsetzter Sand einen schillernden Glanz von sich warf. Schwärme von Plötzen, Barschen und andern Fischen spielten in dem grünlichen Element, und schossen pfeilschnell unter unsern Rudern fort.

Um Mittag etwa setzten meine Führer mich auf dem Alten Bessin aus, einem Haken des Hiddenseeischen Landes, welchen ich nun erst umwandern musste, um den bewohnten und angebauten Teil der Insel zu erreichen. Dieser Alte Bessin ist wahrlich das allerödeste Land, was ich je gesehen. Weder Gras noch Gebüsch bekleidete den abgestorbenen Boden. Einige verkrüppelte Hagebuttensträucher schienen bloß dazustehen, um den Mangel alles Schattens und alles Labsals desto fühlbarer zu machen. 

Der Haken zog sich mehr in die Länge, als ich erwartet hatte, und das Gehen ward mir sehr beschwerlich. Es war Mittag und drückend schwül. Die Luft schien alle Elastizität verloren zu haben. Einzelne matte Wellen plätscherten kraftlos an das dürre Ufer. Lechzend nach Schatten und Erquickung, mit schmerzendem Haupte und durchgeborstenen Lippen, vermochte ich nur sehr langsam mich fortzuschleppen, und der verwünschte Haken nahm gar kein Ende. Anderthalb gute Stunden dauerte es, eh ich seine Krümmung hinter mir, und ich mich wieder auf bewohntem Boden sah. Ganz erschöpft warf ich auf dem ersten grasigen Abhange unter einer Gruppe noch dichtbelaubter Weiden mich nieder, und versank in eine schlummerähnliche Betäubung. Ein großer Jagdhund, der des Wegs gelaufen kam, und mir seine kalte Schnauze an den Backen legte, erweckte mich. Ich sprang auf, und fühlte durch die minutenlange Anspannung meiner Fibern nicht nur mein Kopfweh verstreut, sondern auch meine Kräfte völlig wieder hergestellt. Voll jenes Vergnügens, welches der Anblick nie gesehener Landschaften mir allezeit gewährt, setzte ich meinen Stab weiter. Eine Allee noch grünender Weidenbäume zog sich den Strand entlang. Zur Linken hatte ich das Ufer. Zur Rechten türmten sich die Berge, deren nächste Abhänge, so steil sie auch zum Teil schienen, dennoch Spuren des Anbaus verrieten.

Durch Grieben, das nördlichste Dorf des Landes, gelangte ich bald zu dem sogenannten Kloster, wo der Besitzer der Insel und der Prediger wohnen. Bei Letzterem sprach ich ein. Er sowohl als seine gastfreie Gattin empfingen mich mit vieler Freundschaft. Er ist auf dem Lande geboren und erzogen, äußerte auch mit seinem einsamen Aufenthalt und sehr mäßigen Einkommen eine mir sehr rührende Zufriedenheit.

Nachdem ich mich ein wenig erfrischet hatte, führte er mich in die Berge. Schöne romantische, wild durcheinander geworfene Berge, größtenteils ohne Spuren einiger Kultur, und aller Kultur unempfänglich.

Du weißt, Liebe, wie ich an den Bergen hänge. Berge gehen mir nächst dem Meere über alles. Inselberge nun gar, umrauscht vom heiligen Vermögen des Meeres, sind mir der höchste Gipfel aller Naturerhabenheit. Kein Wunder demnach, wenn ich nicht müde werden konnte, in diesen Höhen umherzuschwärmen. Bergauf, bergab, Ufer hinan, Ufer hinunter rannte und kletterte ich, während der ehrliche etwas schwerfällige Pastor, an der besonnten Seite des Abhanges gelagert, in Frieden sein Pfeifchen schmauchte, und sich herzlich freute, dass ich an seinem Vaterlande ein so großes Behagen fände. Ich sah die Sonne untergehen von diesen Bergen, doch hinter drohenden Wolkengebirgen. Ich sah den Mond hervortauchen aus den Wellen in seinem vollen Licht, und diese öden Gipfel mit mildem Strahl versilbern. Bis tief in die Nacht hinein würde ich in den Bergen herumgeschwärmt sein, wenn mein freundschaftlicher Führer nicht angefangen hätte, vor Frost zu zittern, und über den sinkenden Tau sich zu beschweren. Also begleitete ich ihn wieder zu seinem Hause, wo ein gastliches Mahl und dann ein weiches, nur zu weiches und zu heißes Bette meiner harrte!

Mit dem grauenden Morgen brach ich wieder auf. Meine Fenster gingen auf den gebirgigen Teil der Insel. Rasch kleidete ich mich an, um diese interessanten Berge noch einmal zu durchirren. Es stürmte stark aus Westen, und das Grollen des Meeres, das Rauschen der an dem hohen Gestade sich brechenden Wogen erhöhten die Herrlichkeit der Szene über alle Beschreibung. Gewaltsam musste‘ ich mich ihr entreißen, weil ich gerne noch den übrigen Teil der Insel sehn, und doch vor Abend noch wieder zu Hause sein musste.

Ich kehrte zu meinem lieben Wirt zurück, der sich höchstlich wunderte, dass ich schon wieder in den Bergen gewesen sei, und sich erbot, mich jetzt auch in das flachere Land zu führen. Gleich hinter seinem Dorfe nämlich senkt sich das Land mit einmal in eine beinahe waagerechte Fläche, welche mehr denn anderthalb deutsche Meilen bis an das südliche Ende der Insel fortläuft, ganz aus Moor und Sumpf und Sande besteht, und zwar wohl einiger Viehzucht, des Ackerbaues aber fast gar nicht empfänglich ist. Wir spazierten den westlichen Strand hinunter bis zur Hiddenseeischen Vitte, dem größten Dorfe des Landes, dessen Einwohner sich größtenteils vom Fischfange nähren. Armseligere Hütten als die, so ich in diesem Dorfe fand, sind mir noch nicht vorgekommen. Da es der Insel an Lehm fehlt, um die Wände aufzurichten, und an Stroh, um die Dächer zu decken, so sind ausgestochene Rasen das einzige, womit sie wider die Unbilden der Witterung sich schützen können. Das Innere dieser Hütten aber war so rauchig und so unrein, dass ich mit aller meiner Hüttenliebe nicht im Stande war, nur wenige Minuten in ihnen auszudauern.

Das Dorf ist volkreich; aber wenig Menschen waren vorhanden. Man sagte uns, sie wären all am Strande und fischten Bernstein. (…)

Tiefer in das Land zu dringen, hielt ich für unnötig, weil mein Begleiter mich versicherte, dass es dem, worauf wir uns jetzt befänden, überall vollkommen ähnlich wäre. Ich will also den Rest meiner kleinen Anmerkungen hier kürzlich zusammenfassen. (…)

Die Insel hält zwei Meilen in die Länge; aber die Breite ist desto unbedeutender. Man bemerkt, dass der flache Teile des Landes ansetze, der gebirgige aber von den Wellen immer mehr weggespült werde.

Die Zahl der jetzigen Einwohner beträgt zwischen vier und fünfhundert. Sie nähren sich von einigem Ackerbau; hauptsächlich aber vom Fischfang und der Schifffahrt. So arm das Land auch ist, so hegen sie doch eine so unüberwindliche Vorliebe dafür, dass sie fast nie ermangeln, aus der Fremde zurück zu kommen, und auf dem undankbaren Boden, auf dem sie geboren wurden, ihr Leben zu beschließen.

Der fühlbarste Mangel des Landes ist der gänzliche Mangel des Brennholzes. Statt seiner müssen sich die Einwohner mit gedörrtem Kuhmist behelfen, und mit einem Torfe, dessen unerträglicher Gestank die Hütten, die Kleider, die Geräte, ja selbst die Speisen und Getränke der Einwohner durchdringt, und dem Fremden, der seiner nicht gewohnt ist, Übelkeit und Erbrechen erregt.

Gleich nach Mittage beurlaubte ich mich bei meinem gastfreiem Wirte, und bestieg eine Jolle, die auf den Heringsfang ausfuhr, und mich an dem Posthause aussetzte.“

Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten: Briefe eines Schiffbrüchigen, 1794

Im nächsten Teil: Alexander Ettenburg, Gerhart Hauptmann, jede Menge Künstler und eine verlorene Urne.

Hiddensee, mal wieder

Hiddensee, mal wieder

Mein Handy gab Laut. „Willkommen in Schweden“ las ich. Okay, manchmal verfährt oder verläuft man sich und gerade im deutsch-niederländischen Grenzgebiet sind wir uns manchmal sekundenlang nicht ganz sicher, auf welcher Seite der Grenze wir gerade sind, aber Schweden? Bevor ich das weiter thematisiere, ich verstehe es bis jetzt nicht. „Willkommen in Dänemark“ wäre genauso falsch gewesen, dafür aber etwas plausibler. Vom schwedischen Bornholm aus sind es ca. 113 km, vom dänischen Møn nur 54 km nach Hiddensee, Luftlinie, versteht sich. Offenbar haben unsere skandinavischen Nachbarn leistungsfähigere Mobilfunknetze, aber dieses „Willkommen in Schweden“ ist auch eine Erinnerung daran, dass Hiddensee 1648 in der Folge des Westfälischen Friedens schwedisch wurde und das blieb es bis 1815, wenn wir die drei, vier Jahre französische Herrschaft in der Zeit Napoleons mal großzügig übergehen. Dann kamen die Preußen, das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die DDR, die Bundesrepublik und dass all das nicht einfach weg und vergessen ist, dafür sorgt mein Handy: „Willkommen in Schweden“.

Urlaub machen kann ja jeder, vorausgesetzt, er oder sie hat noch Urlaubsanspruch und ein paar Euro…äh, Urlaub machen kann nicht jeder, aber nein, das führt jetzt zu weit. Wir waren auf Hiddensee, wir machten Urlaub und zugleich eine Zeitreise, eine, die uns hauptsächlich in das frühe 20. Jahrhunderte führte, in die Zeit Gerhart Hauptmanns. Dann blättert man, liest hier und dort und schließlich muss man sortieren, was sich da an Zufallswissen angehäuft hat. Und das versuche ich jetzt.

Hiddensee lag gleich hinter dem Ende der Welt. Obwohl es liegt, wo es immer lag, liegt es heute nicht mehr jenseits von Gut und Böse, sondern westlich von Rügen. Dat söte Länneken, so nennen es die Menschen, die dort leben und es war keine Agentur, die ihnen diesen Slogan verpasst hat.  Das zeugt von ganz viel Heimatliebe, aber die brauchte man wohl auch, wenn ein kleines Stückchen Sand und Stein, Grass und Busch alles ist, was einen vor den Launen der See schützt. Dass die Insel See heißt, Hiddensee, wird damit erklärt, dass es Heddins Insel war, die Insel eines Wikingers, Heddinsoe. Es dauerte einige Jahrhunderte, bis aus dem oe das see wurde, Jahrhunderte, in denen die Insel als karg und lebensfeindlich betrachtet wurde.  

Jacob Philipp Hackert, Public domain, via Wikimedia Commons

1810 begann auf Rügen der Bädertourismus. Da waren die Bauern und Fischer auf Hiddensee noch Leibeigene.  Die Tuschepinselzeichnung „Auf Hiddensee“ von Jakob Philipp Hackert entstand 1764. Die Steilküste, an der die bezopften Herren stehen, hat inzwischen sicher die Ostsee geholt, die beständig an der Westseite der Insel knabbert. Trotzdem sieht es an der Ostseeküste vom Enddorn bis nach Kloster auch heute noch so aus, wie Hackert es darstellte. Nur die Segler sind kleiner und zum Vergnügen unterwegs.

1875 war es der Maler Gustav Schönleber, der seine Sicht auf die Insel darstellte, der, wie es bei Wikipedia hieß, Hiddensee „entdeckte“. Ich nehme allerdings an, dass diese Ehre Edmund Hoefer zukommen sollte, der die deutschen Küsten und Inseln in seinem 1880/81 erschienenen Buch „Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee“ porträtierte. Dass sein Text die feine Berliner Gesellschaft auf die Insel gelockt hat, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Bei Hoefer heißt es:

„Des Contrastes wegen erwähnen wir hier sogleich das schon berührte, schwer zugängliche Hiddensoe. Drei Stunden lang streckt sich der auf mehreren Stellen nur ein paar hundert Schritt breite Streifen aus und die Entfernung von der rügenschen Küste ist zum Theil so gering, daß man wohl an einen früheren Zusammenhang und eine erst spätere Trennung beider Ladestheile glauben muss (…). Daß sich der schmale Landstreifen bisher erhalten hat, spricht dafür, wie selten im Allgemeinen die verderblichen Sturmfluten der Ostsee sind. Doch ist das arme Eiland gerade in der neuesten Zeit und besonders wieder durch die Novemberflut von 1872 mehrmals durchbrochen worden. Ein armes Land ist Hiddensoe aber, ein unendlich armes Land. Die Bewohner stecken zum Theil noch in den ärmlichsten Hütten, an Ackerbau ist auf dem unfruchtbaren Boden kaum zu denken, das Ländchen ist im Grunde ganz öde und fast ohne Baumwuchs; der einzige Nahrungszweig ist die Fischerei und sie bietet auch die einzige Kost. Und dennoch lieben diese Menschen ihre Heimat einmal wieder auf das Herzinnigste und heißen sie „dat söte Länneken“.

Gustav Schönleber in: Edmund Hoefer: Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee, ca. 1881

Im nächsten Teil: Was Kosegarten 1794 zu berichten wusste – die Kuttenträger Alexander Ettenburg und Gerhart Hauptmann – eine verlorene Urne und jede Menge Inselsehnsucht

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Die Insel der grauen Mönche

Die Insel der grauen Mönche

Zugegeben, das klingt wie der Titel eines Horrorfilms, ist aber nur die Übersetzung des Namens der Insel, auf der wir ein paar Tage verbringen wollen: Schiermonnikoog. Schier steht für das Grau der Kutten, Monnik für Mönch und Oog ist in Friesland wohl ein Wort für Insel oder war mal eins, damals vor 700 Jahren. Die Mönche sind schon lange weg, die Walfänger auch, dafür sind die Touristen gekommen, die die Ruhe der Insel zu schätzen wissen. Ein Ort, ein großes Naturschutzgebiet, Strand und Wasser. Der niederländische Kabarettist und Autor Godfried Bomans (1913-1971) hat sich schon vor Jahrzehnten dort aufgehalten. Den folgenden Text habe ich aus dem Niederländischen übersetzt, ich nehme an, dass er sich da selbst interviewt hat.

Herr Bomans, Sie wohnen für einige Wochen auf Schiermonnikoog. Was tun Sie hier?

Nichts.

Überhaupt nichts?

Überhaupt nichts!

Ist das schwierig?

Das ist das Schwierigste, das es gibt.

Und warum wählten Sie dafür Schiermonnikoog?

Weil andere Orte unseres Vaterlandes noch einige Aktivitäten fordern und hier geschieht nichts. Man gerät also auch nicht in die Versuchung etwas zu tun. Es gibt Wind, es gibt Möwen und die beobachtet man.

Wissen Sie etwas über die Geschichte dieser Insel?

Nein, überhaupt nichts.

Hat sie vielleicht keine Geschichte?

Glückliche Länder haben keine Geschichte, das ist ein Zitat von eh… Tacitus.

Godfried Bomans

Foto: Der graue Mönch von Martin van Waning

Ich hätte auch etwas Nettes schreiben können (wollte ich aber nicht)

Ich hätte auch etwas Nettes schreiben können (wollte ich aber nicht)

Den Helder liegt im Kop van Holland, ist also der nördliche Zipfel der Provinz Noord-Holland. Heute kennen viele den Ort, weil dort der Fährhafen für Texel liegt. Den Helder bietet sich aber auch als Reiseziel an für alle, die genug haben von diesen hübschen niederländischen Städtchen mit Grachten und Giebelhäusern aus dem 17. Jahrhundert, mit Glockenspielen und lebhaften Straßencafés, Wochenmärkten mit nieuwe Haring, blühenden Tulpen und Poffertjesständen. Es muss doch auch mal anders gehen.

Nicht gleich so wie in Rotterdam, wo die Niederlande ein bisschen aussehen wie Frankfurt. Das ist okay, Amsterdam sieht auch so aus und Den Haag, aber nicht mal Frankfurt sieht aus wie Frankfurt, sondern wie London oder New York oder wie irgendwelche Städte in China. Ich kann nicht mal sagen, dass mir solche Städte nicht auch gefallen, doch, kann ich. Sie gefallen mir nicht, also manches schon und keineswegs nur die Ecken, die so tun, als seien sie echt. Es gibt spannende Architektur und es gibt großkotzige Architektur und Architektur, die nur noch auf die Welt herabzuschauen scheint, Häuser wie Goldberge und Münzstapel, die aussehen, wie begehbares Geld, die uns zeigen, wo oben und wo unten ist.

Den Helder ist anders. Ja, auch Den Helder hat eine großartige Geschichte hinter sich und es gibt Zeugnisse dieser wehrhaften Zeiten, aber Den Helder sieht im winterlichen Regen des Jahres 2022 bzw. 2023 aus, als habe man vergessen, es ordentlich wegzuräumen. Es gibt Wasser, es gibt den Hafen, es gibt Museen. Richtig leckere Fritten. Aber es gibt eben auch Den Helder. Ein Einkaufszentrum mitten in der City, in dem es fast keine Läden mehr gibt. Leerstand, Abriss, Verfall. Es regnet. Ein Hippster-Café, unsere Töchter mögen das, lecker Kaffee, der auch noch gut aussieht. Keinen Kaffee für uns, überhaupt keine Heißgetränke, Stromausfall. Kann natürlich überall passieren. Passiert aber in Den Helder.

An anderen Tagen, in einer anderen Jahreszeit oder einem anderen Jahrhundert, mag Den Helder einen rauen Charme zeigen, wir fahren mit dem guten Gefühl, dass auch in Holland nicht alles glänzt und eine Stadt auch mal aussehen darf wie unser Schuppen.

Photo: Lars van der Heide, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

(Ja, es gibt da auch nette Leute, freundliche Mitarbeiter einer Kfz-Werkstatt zum Beispiel, die uns mit Kaffee versorgten, während sie unser Auto checkten und feststellten, dass alles überhaupt nicht schlimm war)

Einmal Baltrum

Einmal Baltrum

Ferien auf Saltkrokan, mindestens. Darauf haben wir doch wohl ein Recht. Ich meine, ich habe das Buch nicht gelesen und auch die Fernsehserie nicht gesehen, damals, zu den Zeiten, als wöchentlich eine Folge ausgestrahlt wurde und  man die Hälfte der Sendezeit brauchte, um zu beschreiben, was bisher geschehen war. Ein großer Hund war dabei. Und natürlich spielte es in Schweden, da war ich auch schon. Also nicht auf Saltkrokan, das übrigens klingt, als sei es von Ikea erfunden worden und beschreibe irgendetwas Knuspriges mit Salz.

Aber Schweden und Sommer, das passt überraschenderweise richtig gut zusammen. Das schwedische Fremdenverkehrsamt, falls es sowas gibt, hat da saubere Arbeit geleistet, denn wo bitte gibt es weniger Sommer als in Schweden? Okay, in Finnland vielleicht. Oder in Norwegen. Die fahren Ski, das ganze Jahr über und es ist dunkel und kalt. Rentiere knabbern das Kostüm des Weihnachtsmanns an und betrunkene Kobolde machen Jagd auf Walfische. Genug davon, mir gehen gerade die Klischees aus.

In Wahrheit fallen mir sofort die Schären ein, eine betörend stille Ostsee, bunt gestrichene Holzhäuser, überall Fahnen und Boote und Kinder mit einem Eis in der Hand und es riecht nach trockenem Holz und nassen Badesachen, nach Erdbeeren und natürlich nach nassem Hund. Oh, die Klischees waren doch noch nicht alle.

Aber so muss doch Urlaub sein. Nein, so müssen Ferien sein. Schon die Umbenennung in Urlaub macht was kaputt. Ferien waren sechs Wochen lang und die kamen, ob man sie buchte oder nicht. Buchen mussten wir Baltrum. Drei Tage. Also wir mussten nicht, wir wollten schon. Und es war nicht Juli, auch nicht August, sondern schon Anfang September. Baltrum ist eine kleine Insel, eine ziemlich kleine. Verglichen mit den Schären ist sie vermutlich ein Kontinent. Wenn man morgens rechtzeitig losgeht, hat man mittags die Insel umrundet. Soweit man darf, da gibt es ein Naturschutzgebiet. Die Häuser sind nicht bunt, sondern norddeutsch sachliche rote Klinkerbauten. Hier wird Urlaub gearbeitet.

Die Seeseite der Insel ist dort, wo das Westdorf liegt, eine Festung gegen die Gewalten der Nordsee. Wenn Abschreckung gegen Sturmfluten helfen würde, schon die nächste Flut würde ausfallen! Aber wenn ich hinter dem Deich leben müsste oder wollte, mir könnten die Steine auch nicht groß genug sein, die Mauern nicht hoch genug. Die Touristen stört das nicht, die sitzen abends auf und zwischen den Betonklötzen, einen Aperol Spritz oder ein Bier in der Hand und erwarten den Sonnenuntergang. Und wenn es keinen grandiosen Sonnenuntergang gibt, war zumindest der Alkohol nicht umsonst. Man isst und trinkt gut auf Baltrum.

Das Personal kommt aus Osteuropa, für die Insulaner macht das keinen großen Unterschied, denke ich. In den Jahren, die ich in Ostfriesland gelebt habe, war es so, dass jeder, der nicht von der Insel kam, zu den potenziellen Feinden gehörte. Das hat sich inzwischen sicher geändert, aber bei den Touristenmassen bestimmt nicht verbessert. Immerhin erzeugt das wunderschöne Situationen. Der polnische Kellner und die Gäste aus dem Ruhrgebiet begrüßen sich mit Moin. Natürlich den ganzen Tag über, so gehört sich das in Ostfriesland.

Baltrum wird geliebt, das spürt man überall. Überall stehen Bänke, die Anhänglichkeit und Dankbarkeit langjähriger Gäste macht es möglich. Sowas gibt es sonst nur in Bad Sassendorf, einem Kurort, der bei Senioren eine übermäßige Popularität genießt. Auf Baltrum sieht man auch mehr Rollatoren als Surfbretter und das ist ja auch gut so. Irgendwo müssen wir ja hin, wir Babyboomer, die wir uns die Inseln leisten können, auch wenn die Mieten und die Heizkosten steigen. Mit Kurt Vonnegut ließe sich sagen, dass alles schön war und nichts wehtat. Es war schön auf Baltrum und wir fahren bestimmt nicht wieder hin. Warum nicht? Vielleicht, weil es einfach nicht Schweden war, nicht die Ferien unserer Kindheit. Leider bietet Baltrum keine Zeitreisen an.

Manni, kein Nobelpreis, ein Hafen und der Kaiser

Es goss und wir saßen mit unseren selbstgedrehten Zigaretten in einem der Salons der Fähre nach Terschelling. Manni und ich, Ende der sechziger Jahre. Ich war ein umgezogner Jugendlicher. Wenige Jahre zuvor waren meine Eltern nach Leer umgezogen und ich war mit umgezogen worden. Aus Hagen, einer Großstadt, so fühlte sich die Stadt jedenfalls in der Erinnerung an, in ein ostfriesisches Kleinstädtchen mit plattdeutschem Umland und touristischem Potenzial. Ein Schuljahr später war ich angekommen, fühlte mich zwar immer noch wie der Großstädter unter Landeiern, wusste in Wahrheit aber über das Großstadtleben genauso wenig wie über das Erwachsenwerden.

Ob es der ewige ostfriesische Wind war oder das völlig grundlose, aber zweifellos vorhandene Gefühl einer Überlegenheit: Ich hob plötzlich die Nase aus dem schulischen Sumpf, tat, was ich konnte und sah, dass es gut war, wählte meinen eigenen Weg und der führte zur Handelsschule.

Ja, ich weiß. Nichts klingt weniger nach Befreiung und Revolte als die zweijährige kaufmännische Handelsschule, aber dort fingen wir alle gemeinsam neu an, ich war nicht mehr der Neue, ich war einer von den Neuen und plötzlich saß ich nicht mehr allein in meinem Zimmer und hörte  Lutz Ackermann in „Musik für junge Leute“ auf NDR 2, sah aus dem Fenster und hoffte, dass es anfangen würde, irgendwas, was auch immer, keine Ahnung. Plötzlich gab es  Leute, die auch ihre Haare wachsen ließen, mit denen ich zur Schule fuhr, mit denen ich in der Pause auf dem Schulhof stand und mit denen ich nach der Schule in der Stadt eine Cola trank und eine Runde flipperte, in einem Eiscafé, dessen Chef wir Charly nannten und duzten, einen Erwachsenen!

Plötzlich gab es auch Mädchen, ich weiß nicht, wo die sich bis dahin versteckt hatten, aber jetzt waren sie nicht mehr zu übersehen und legten mir im Gespräch eine Hand auf den Unterarm oder wollten von mir zur Weiterlesen

Hiddensee (2)

Hiddensee (2)

» Heute morgen verließ Ringelnatz das Haus in Badehosen, knallrote Badeschuhe, ein gelbes Tuch um den Kopf und eine bunte Tasche auf dem Bauch für Bernsteine, die er zu suchen beabsichtigte. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass er nicht einen einzigen gefunden hatte «, das schrieb Asta Nielsen am 12. Juni 1929 in ihr Tagebuch. Keinen Bernstein zu finden, das gehörte lange Zeit auch zu unseren Strandbeschäftigungen. Auf Hiddensee haben wir unsere Aktivitäten aber um das keine-Hühngergötter-finden angereichert.

Hühnergötter sind nicht etwa geflügelte Eier legende Gottheiten, sondern Steine, die ein natürlich entstandenes Loch aufweisen. Am Enddorn, dem südlichen Ende der Insel Hiddensee, die übrigens auf der Landkarte wie ein zorniges Seepferdchen aussieht, gibt es Steilküsten und eine Menge Steine, die von den Gletschern der Eiszeit dort abgeliefert wurden. Die Steine liegen am Strand oder im Wasser, kleine Steine, große Steine, oder sie stecken noch in der Steilküste.

Wir kamen an einem Samstag an, gegen 18:00 Uhr, was an sich nicht weiter bemerkenswert wäre, allerdings ist es für meine Hypothese zum Nichtfinden von Hühnergöttern ein wichtiger Baustein. Hiddensee ist nämlich eine ordentliche Insel am Rande der Welt. Das mit dem Rand der Welt fühlt sich nur so an. Wenn man hinguckt, sieht man nämlich zunächst nur Hiddensee, dann Rügen, dann das Festland. Erst wenn  man sich umdreht, sieht man nichts außer der Ostsee.

Egal, es geht um Hiddensee und darum, dass diese Insel trotz des Rebellen- und Außenseiterimages, das sie zu DDR-Zeiten hatte, trotz ihrer immernoch zumindest stellenweisen Unaufgeräumtheit mehr einer kunstvoll verwuschelten Frisur als wahrem Ungekämmtsein ähnelt,. Was erzähle ich hier überhaupt?

Also Hiddensee ist eine deutsche Insel und damit ist eigentlich alles gesagt. Es gibt Behörden und Regeln und deshalb nehme ich an, dass das mit den Hühnergöttern auch ordentlich geregelt ist, denn deutsch sein heißt bekanntlich, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Und getan, da sind wir wieder bei meiner Hypothese, wird im Rathaus. Das Hiddenseer Rathaus steht in Vitte,  im größten Ort der Insel und es steht auch Rathaus dran, da gibt es also kein Vertun.

Ich nehme fest an, dass dort im Keller –  sonst würde es die ganzen Akten zustauben, die abgelehnten Baugenehmigungen und Anträge auf eine Ausnahmegenehmigung zur Nutzung eines PKWs – ein kurz vor der Pensionierung stehender Mitarbeiter in einem grauen Kittel und mit schütterem grauen Haar an einem Tisch aus alten Bootsplanken sitzt. Jemand, der sich damit auskennt, hat dort eine Tischbohrmaschine befestigt. Hinter dem Gemeidebediensteten erkennen wir auf einem Regalbrett eine Thermoskanne, eine Tupperdose und ein etwas staubiges Foto von einer Frau, einem blassen Mädchen und einem dünnen Hund. An der Wand hängt ein Abreißkalender, der den 8. November 1989 zeigt, auch wenn das Blatt offensichtlich mit einer Büroklammer nachträglich wieder befestigt wurde. Der Mann setzt die Sicherheitsbrille auf, wirft noch einen sehnsüchtigen Blick durch das vergittertete Kellerfenster, sieht zappelige Kinderbeine und gleich darauf ein Eis in den Sand fallen. Dann heult die Bohrmaschine kurz auf und wieder ist ein Hühnergott fertig.

Soweit klar? Die Nachfrage nach Hühnergöttern übersteigt die Möglichkeiten einer Moränenlandschaft, andererseits darf man die Wünsche der Touristen nicht einfach ignorieren. Behörden arbeiten aber auch auf Ferieninseln nicht an sieben Tagen in der Woche, deshalb werden die letzten Hühnergötter freitags im Verlauf des Vormittags produziert, in unbeschrifteten Kisten an die Steilküsten transportiert und von den Auszubildenden, angehenden Inselverwaltungsfachangestellten und Küsteninspektorenanwärterinnen so unauffällig wie möglich unter das bereits vorhandene Geröll gemischt.

Es hätte zwar die Möglichkeit gegeben, Hühnergötter aus chinesischer Produktion in größeren Stückzahlen und zu günstigeren Preisen zu beziehen. Die stets gleichbleibenden Steine, die sich bei Sonnenaufgang zudem immer nach Osten ausrichteten, irritierten allerdings die älteren Besucher der Insel, sodass wieder auf das in den zwanziger Jahren noch von Gerhart Hauptmann angeregte Verfahren zurückgegriffen wurde.

Klar? Freitags letzte Lieferung an den Strand, schönes Wetter, viele Besucher, da ist vor Montag, ach was, vor Dienstag nicht mit Nachschub an Hühnergöttern zu rechnen. Aber ich denke ja immer erst hinterher nach. Deshalb heißt es ja auch nachdenken.

Hiddensee (1)

Hiddensee (1)

Hauptmanns Feder am Himmel über Hiddensee

Gerhart Hauptmann machte Urlaub auf Hiddensee. Ringelnatz auch. Autoren, Bildhauer, Maler, Regisseure, alle kamen und hatten Spaß. Nehme ich zumindest an. Ehrlich gesagt hatte ich, wie ich nur ungern zugebe, nie daran gedacht, dass nicht nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, vielleicht auch Beamte und Gewerbetreibende, Urlaub machen, ach was, das ist, was ich dachte: Wie kann es sein, dass Ringelnatz Urlaub brauchte, Hauptmann Berlin verließ, um baden zu gehen? Wovon brauchten die Urlaub? Vom Genie? Geht das? Meine Verwirrung darüber war so groß, dass ich außer Acht ließ, dass ich Urlaub brauchte, na ja, brauchte, machte, ich als Rentner. Wovon? Von meinem beschaulichen, recht selbstbestimmten Dasein außerhalb der großen Tretmühle?

Da haben wir ja auch schon die Erklärung: Urlaub macht vielleicht, wer ihn braucht, aber jeder braucht Urlaub, weil der Urlaub das andere ist, die Abweichung von der Regel, der Moment des Innehaltens oder auch des Aufdrehens, der Besinnung oder auch der Besinnungslosigkeit. Jedenfalls sollte das Recht auf Urlaub im Grundgesetz stehen. Mindestens. 1903 haben übrigens Brauereiarbeiter das Recht auf Urlaub erstmals durchgesetzt. Drei Tage im Jahr. Natürlich bei einer Sechstagewoche. Drei Tage!

Hauptmann hatte Hiddensee zu jener Zeit längst als Urlaubsziel festgemacht. Für drei bis vier Monate im Jahr. Natürlich hat er auch auf Hiddensee gearbeitet. Was manche Künstler eben so Arbeit nennen. Denken und Formulieren. Produktivspaziergänge hat er seine Strandspaziergänge genannt, weil ihm am Strand der Ostsee klar wurde, was die Träume der vergangene Nächte an Rohmaterial zurückgelassen hatten. Im Schlaf kamen die Bilder, die Ideen, am Strand der rote Faden und im Kreuzgang in Haus Seedorn die Wörter und Sätze, wenn er seiner Helferin Fräulein Jungmann, seinem Jungmännchen, im Gehen und Stehen diktierte, was in abendlicher Runde zum Klingen gebracht wurde. Gerhart Hauptmann also machte Urlaub auf Hiddensee – und wir auch. Also nicht zusammen, nicht einmal gleichzeitig.

Obwohl, wenn man so will, also eigentlich… ja, doch. Gerhart Hauptmann ist auf Hiddensee begraben worden, das war nicht sein Plan, falls es denn zu seinem Plan gehörte, irgendwann zu sterben und begraben werden zu müssen. Seine schlesische Heimat gehörte 1946, als er starb, nicht mehr länger zu Deutschland und die Polen, die neuen Herren im Lande, wollten ihn nicht. Hiddensee wollte ihn, den Literaturnobelpreisträger, der Hiddensee wohl erst zum Ferienparadies der Künstler und Intellektuellen gemacht hatte. Also kann jetzt, wer will, Hauptmann auf Hiddensee besuchen und bei der Gelegenheit auch gleich Haus Seedorn besichtigen, Hauptmanns Domizil, das jetzt als Gerhart-Hauptmann-Haus ein Museum geworden ist und auch ohne Führung eine Menge über den Mann und seine Zeit erzählt.

Wir waren also bei Gert, ich hoffe, das klingt nicht despektierlich, immerhin sind wir inzwischen häufige Besucher seiner Grabstätte und des Hauses bzw. der Buchhandlung, die zum Museum gehört. Elfie, meine Frau, hat während ihrer Schulzeit den Bahnwärter Thiel gelesen, also nicht während ihrer gesamten Schulzeit, so dick ist das Reclamheftchen auch nicht. Gelesen ist auch zu schwach, durchgearbeitet, Zug um Zug.

Ich mit meiner kaufmännischen Bildung, Ausbildung wohl besser, hatte nichts von ihm gelesen oder jedenfalls nichts, was ich bei einem Verhör gestehen könnte. Also musste ich das nachholen, mit einem der dünneren Bücher aus der Museumsbuchhandlung, weil ich fand, ich könnte nicht in seinem Haus herumstreifen und an seinem Grab stehen, ohne seine Stimme im Ohr zu haben. Ach ja, die habe ich mir bei YouTube angehört. Aber seine Sätze, seine ausschweifende, etwas altväterliche Art der Formulierung, seine Adjektive, seine Sprache wollte ich lesen, weil ich ihm, wie ich das an anderer Stelle schon sagte, nicht einmal an seinem Grab oder in seinem Haus näher kommen kann, als in seinen Texten.

Hinter Singravens Mauern

Hinter Singravens Mauern

Wenn es auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche gab, paranormale Vorfälle auch in Reihenhäusern glaubhaft zu machen, zu einem Gespenst gehört etwas Großzügigeres, eine Burg, ein Schloss, zumindest aber ein Herrenhaus. Nur dürftig darauf vorbereitet, haben wir das Landgoed Singraven bei Denekamp besucht, ohne Kenntnis seiner Geschichte, ohne irgendwelche Amulette, Knoblauchketten oder andere Schutzmaßnahmen. Dass wir in den Innenräumen nicht fotografieren durften, hätte uns misstrauisch machen müssen, denn was wir nicht durch die Linse unserer Kameras oder Smartphones gesehen haben, das haben wir nicht gesehen, doch wer weiß, was die Kamera festgehalten hätte, wo unsere wenig geschärften Sinne versagt hätten?

Die Kette unglückseliger Ereignisse, die mit dem Landgut Singraven verbunden sind, dort ihren Ursprung hatten oder ihr Ende fanden, ist wahrlich zu lang, um sie hier aufzulisten, erwähnt sei nur der unglückliche Herr des Hauses, dessen Bart in Flammen geriet und der nicht mehr zu retten war, obwohl ihn seine herbeistürzenden Bediensteten in den nahen Fluss geworfen hatten. Dann war da noch Jan Adriaan Laan, der das Gut 1915 ersteigerte und mit seiner Frau Eva und zwei seiner Kinder fortan dort lebte. Oder eben nicht, denn erst starb seine Frau, dann raffte es ihn dahin und 1922 schließlich auch noch seine Tochter Agatha. „Het zwarte huis“, das schwarze Haus, so wird Singraven wohl auch genannt.

Früher, also viel früher, im 15. oder 16. Jahrhundert, war Singraven ein Kloster und eine der Nonnen, deren Name bedauerlicherweise nicht überliefert ist, nahm es wohl nicht so genau mit den Regeln ihres Ordens. Unkeusch sei sie gewesen, heißt es und da fand man es natürlich nur angemessen, sie  bei lebendigem Leibe einzumauern. Jetzt ist es nicht weiter überraschend, dass diese Dame, der man das Verlassen des Hauses unmöglich gemacht hatte, es fürderhin auch nicht mehr verließ und bis auf den heutigen Tag immer mal wieder das Haus begeistert.

An manchen Tagen, so heißt es, könne man sie hinter einem der Fenster des Hauses stehen sehen. Die Nummer mit dem Einmauern glaube ich jederzeit, in diversen Kirchen haben sich Menschen einmauern lassen, mir fällt kein gescheiter Grund dafür ein, und zu sehr vielen Burgen gibt es ähnliche Geschichten, nur dass sie eben nichts mit freiwilliger Entsagung, sondern eher mit ungebührlichem Verhalten oder einer unglücklichen Liebe verknüpft waren.

Was hinter den Mauern Singraven geschah, ob es mehr als eine Schauergeschichte ist, ich weiß es nicht. Aber in den neunzehnhundertzwanziger Jahren wurde, so heißt es, hinter einer Mauer ein Hohlraum gefunden, über dessen Inhalt bisher Schweigen bewahrt wurde. Gut, über manche Räume unseres Hauses würde ich auch gern schweigen.

Ein unpassendes Gedicht

Ein unpassendes Gedicht

Entlang des Nordhorn-Almelo-Kanals radelt es sich gut in Richtung Denekamp. Denekamp liegt in Twente und Twente ist ein Teil der Provinz Overijssel. Tukker nennen sich die Menschen, die in Twente leben. Eine Erklärung für diesen Ausdruck bezieht sich auf die Hosentaschen, die im Platt, das man in Twente spricht, Tuk heißen. Beide Hände in den Hosentaschen, etwas rustikal, bäuerlich, so sei der Tukker. Vermutlich gibt es noch reichlich andere Erklärungen. Na gut, Regionen basteln sich ihr Selbstbild. Übrigens kenne ich die Bezeichnung schon etwas länger, aber wie das so ist, wenn man etwas dazu erzählen will, schaut man mal nach.

Der Nordhorn-Almelo-Kanal ist nur einer der Kanäle in der Gegend und es fährt sich wunderschön unter den herbstbunten Bäumen und über das großzügig verteilte Laub auf den mal schmalen, mal breiteren aber immer gut ausgeschilderten Radwegen. In den Niederlanden, aber auch in der Grafschaft, ist das Knoppunten-System verbreitet, eine simple Methode, die eigene Tour zu planen und die Wege auch zu finden. Ab Denekamp kennen wir den Weg nicht mehr und sind augenblicklich überrascht, wie schön es weitergeht. Bald gelangen wir an eine Brücke, der meine Frau nicht traut, was natürlich nicht heißt, dass sie nicht auf die andere Seite will, sondern dass ich vorgehen soll. Ich bin zwar nicht mutig, habe aber keine Wahl. Die Brücke hält wider Erwarten.

Wie schön und fremd eine Gegend doch sein kann, wenn man abseits der Hauptstraßen unterwegs ist. Ich denke an ein Gedicht von Hendrik Marsman. Es heißt „Herinnering aan Holland“ und eigentlich denke ich auch nur an die erste Strophe.

Denkend aan Holland

zie ik breede rivieren

traag door oneindig

laagland gaan,

Übersetzt könnte es etwas so heißen:

Denke ich an Holland,

sehe ich breite Flüsse

träge durch endloses

Tiefland strömen

Okay, das passt überhaupt nicht zur Landschaft, zu dem eher lieblichen Kanal, den schmalen Wegen, den schmucken Bauernhäusern, aber was kann ich denn dafür, das mir gerade dieses Gedicht einfällt? Der Hälfte der Niederländer fällt es auch ständig ein, zumindest die ersten zwei Zeilen und Marsman war am Mittelmeer, als er in den frühen dreißiger Jahren das Gedicht schrieb. Es ist also überall und jederzeit erlaubt, völlig unpassende Gedichte zu erwähnen. Regelmäßig denke ich an dieses Gedicht, wenn wir bei Deventer über die Ijssel fahren. Und während ich sowas vor mich hin denke, sind wir auch schon beim Landgoed Singraven und das wollen wir uns gern zeigen lassen.

Komm, erzähl was

Komm, erzähl was

Komm, sag ich, erzähl mir eine Geschichte. So funktioniert es ja – wenn es funktioniert, wir erzählen uns die Geschichten, die wir dann weitererzählen. Was für eine Geschichte, frage ich dann meistens, um Zeit zu gewinnen, weil es ja eigentlich egal ist, was für eine Geschichte das wird. Nachts, wenn Elfie nicht schlafen kann, dann erzähle ich ihr auch Geschichten, Geschichten, von denen ich hoffe, dass sie möglichst wenig davon hören wird und wenn ich Glück habe und sie am anderen Morgen frage, was sie denn noch gehört hat, dann sagt sie: Nichts. Darüber freue ich mich, weil das ja der Zweck der Geschichte war, aber es ist natürlich auch ein bisschen schade, denn diese Geschichte ist dann vergangen wie die Nacht. Aber so schade ist es auch wieder nicht, weil es nämlich stille Geschichten sind, langsame Geschichten, in denen eigentlich nichts passiert, Geschichten, in denen ich einen Spaziergang mache oder eine Besichtigung. Ihr müsstet das mal hören, oder nein, vielleicht besser nicht, denn wenn ihr es hören würdet und es würde funktionieren, wie es funktionieren soll, dann würdet ihr spätestens jetzt gähnen und gleich, zwei drei Sätze weiter, ruhig und regelmäßig atmen, vielleicht mit einem kleinen Laut, nein, kein richtiges Schnarchen, aber so ein Geräusch, wie man es nur im Schlaf machen kann. Solche Geschichten sind das, von einem bekannten Weg, bei dem ich mich an jedes Haus und jeden Baum zu erinnern versuche und in fünf Minuten manchmal keine fünf Meter weit komme.

Aha, so eine Geschichte erzähle ich mir gerade, na, das reicht dann aber für heute, sonst schlafe ich dabei ein. Eine andere Geschichte? Eine von einer Reise, einer kleinen Reise, einer, bei der man nachts nach Hause fahren könnte, um dort zu schlafen, oder Socken zu holen, wenn man sie vergessen hat. Nach Nordhorn. Das liegt in der Grafschaft Bentheim und ich finde, das klingt schön. In der Grafschaft. Obwohl ich es mit den Kaisern, Königen, Fürsten und Grafen ja nicht so habe, weder als historische Figuren, die oft keine gute Figur gemacht haben, noch als aktuelle Großgrundbesitzer und Antragsteller. Nein, nicht auf staatliche Sozialleistungen, oder doch, vielleicht könnte man das ja auch so nennen. Millionen für Schlösser, die man verloren hat.

Puh, die Geschichte will ich auch nicht erzählen. Das ist nicht gut für meinen Blutdruck. Doch lieber eine von einem Spaziergang um den See.

Einen See hat Nordhorn auch. Den Vechtesee. Nordhorn ist unspektakulär. Ich hoffe, niemand aus der Grafschaft liest mit. Die Stadt war mal eine ganz große Nummer im Textilgeschäft. Also nicht im Textilgeschäft im Sinne von Tante Emmas Sockenladen. Ich weiß auch nicht, warum ich es heute immer mit Socken habe. Nordhorn produzierte in ein paar Webereien den Stoff für das Land und kaum einer bekam das mit. Nino war der größte Arbeitgeber und so eine Weberei war schon etwas anderes als der kleine Webrahmen, mit dem man in den siebziger Jahren farbige Läppchen produzierte. Meine Schwester machte das, ich kann nichts, was mit Garn und Stoff zu tun hat, na gut, vielleicht „Die Weber“ lesen. Gerhart Hauptmann. So einer bin ich. Praktisch unpraktisch. Das Gelände, nein, eines der Gelände, die nach dem Ende der Textilproduktion in Deutschland zu Industriebrachen wurden, wird gerade wiederbelebt. Entgiftet. Da grübelt man schon, was die Leute tragen mussten. Zum Glück wird das ja nicht mehr bei uns produziert, sondern in Asien. Obwohl ich nicht so genau weiß, zu wessen Glück. Gesünder ist die Produktion wohl nicht geworden, aber viel billiger natürlich und das ist ja auch was wert.

Oh Mann, nachdem ich gerade die Hohenzollern verärgert habe, schlage ich mich jetzt auch noch mit der deutschen Wirtschaft rum. Das ist kein guter Tag für einen Text. Ich lasse das besser und erzähle heute Nacht weiter, bei diesem Baum hatte ich aufgehört, dem mit den Falten um die Füße, der am Ufer des Emssees steht. Gleich neben dem Busch, der jetzt im Herbst noch Blätter hat, so graubraune, ganz unspektakuläre, wie Nordhorn.

Bild: Philippe Jolyet, Public domain, via Wikimedia Commons

From the Bodden to the Top

From the Bodden to the Top

Gerhart Hauptmann besaß ein Haus auf Hiddensee. Damit stellen sich gleich zwei Fragen: Wer war Gerhart Hauptmann und wo ist Hiddensee? Zwei Fragen, die ich hier nicht beantworten werde. Die Frau im Verkehrsverein hatte gesagt, dass um diese Jahreszeit nicht  mehr so viele Leute das Schiff nach Hiddensee nehmen würden. Außerdem seien sechs Stunden Fahrzeit doch recht viel für einen Aufenthalt von drei Stunden. Wir machten uns trotzdem auf den Weg zum Schiff und fanden gerade noch zwei freie Plätze.

Der Bodden liegt vor uns, es ist noch ziemlich kühl. Schwäne, Kormorane, Grau- und Silberreiher, Möwen, Enten und Gänse. Später dann auch noch ein Seeadler und Kraniche. Jede Menge Natur im Angebot.

Ein Mitreisender versucht, amerikanischen Passagieren die heimische Tierwelt zu zeigen und fachgerecht zu benennen.

Der Bodden ist ziemlich flach, an manchen Stellen wohl nur 20 oder 30 cm tief, also schwimmen die Vögel oft nicht, sondern stehen einfach im Wasser. Stralsund und die Rügen-Brücke sind gut zu sehen, ein Stück weiter ein ehemaliger Wachturm der DDR-Grenztruppen. Dann, es ist Mittag, Hiddensee.

Wir mieten uns Fahrräder, die das Naturerlebnis noch mal deutlich steigern, zumindest die Wahrnehmung von Unebenheiten und Steigungen. Hiddensee ist schön. Unglaublich schön. Vom Dornbusch, einer Erhebung, die während der Eiszeit zur Freude heutiger Touristen zusammenkomponiert wurde, schaut man über die Insel, über das Wasser, die Ostsee und den Bodden und kann sich nicht sattsehen. Hiddensee ist klein, manchmal sind die Wege wirklich nur Wege, breit, aber kaum befestigt. Dann wieder Betonplatten. Als Hauptmann Hiddensee für sich entdeckte, gab es noch keinen Tourismus. Wie schön muss die Welt gewesen sein, bevor wir damit begannen, sie für uns zu entdecken. Aber kann ich denn anders? Muss ich nicht davon erzählen und muss ich nicht zurückkehren, um meine Eindrücke zu überprüfen, das nächste Mal für ein paar Tage, denn das drei Stunden nicht reichen, damit hatte die Frau im Verkehrsverein recht.

Fahrräder abgeben, ein Fischbrötchen auf die Hand und Rückfahrt. Es ist nicht mehr ganz so voll. Dafür stehen kurz nach dem das Schiff abgelegt hat, zwei Leute mit ihren Rädern an der Kaimauer und sehen unglücklich aus. Die dürfen nicht, die müssen länger bleiben.

Nicht lange, und die Sonne beginnt mit einem unbeschreiblichen Lichterzauber, der Himmel über dem Bodden färbt sich in mehr leuchtenden Tönen, als ich zu benennen weiß und während des spektakulären Sonnenuntergangs sind auf einmal die Kraniche am Himmel, erst kleinere Züge, dann  große Scharen. Glücksvögel, wie unser Kapitän durchsagt. Kraniche krakeelen, fliegen flach über dem Wasser und hoch am Himmel, schwarze Silhouetten zeichnen sich gegen den abendroten Himmel ab. Kameras. Ferngläser. Ein Hin und Her an Bord. Backbord die Kraniche, die im flachen Boddenwasser landen, Steuerbord das Lichterspiel. So viel zu sehen. Dann wird es  langsam dunkel, kälter und leise.

Wasserwege

Wasserwege

67 Kilometer sind für einen Fluss nicht so richtig viel, obwohl die Pader es mal gerade auf vier bringt und dennoch als Fluss durchgeht und einer Stadt – richtig: Paderborn – ihren Namen gibt. 67 Kilometer sind ganz okay. Sie reichten sogar aus, um den Werseradweg zu entwickeln. Der ist – Überraschung – 125 Kilometer lang. Man fängt einfach etwas früher an und fährt noch ein bisschen weiter und auch mal etwas flussferner, kriegt man schon hin.

Bevor nun jemand auf den Gedanken kommen könnte, sich für seine Touren einen etwas längeren Fluss zu suchen, will ich ein bisschen Reklame für die Werse machen. Sie ist nämlich schön. Schön schmal, schön leise, mal rechts, mal links des Weges, flach, mit dicken Steinen darin, die ein Überqueren möglich machen, mit Stromschnellen, okay, zugegeben, künstlich angelegten Stromschnellen, mit Fauna und Flora. Mit Graureihern, die sich in ihrer etwas nörgelig wirkenden Altmännerhaltung an einem kleinen Hügel versammeln, mit Kühen und Kälbern in den Farben der Saison, mit Ponys und Fohlen und Pferden, mit kleinen Mädchen, die stolz ihre ersten Reitstunden nehmen und vielen Rentnern, die mit ihren E-Bikes und unangepasster Geschwindigkeit die schmalen Wege noch schmaler wirken lassen. Mit Bauernhöfen und Kirchtürmen, mit Brücken und steilen Ufern.

Von Angelmodde nach Rinkerode, das war unsere Tagestour. Und zurück von Rinkerode nach Angelmodde. Ortsnamen, die klingen, als hätten ihre Wurzeln schon in der sumpfigen Ursuppe gestanden. Leider können die Orte trotzdem nicht mit der Flussromantik mithalten, weil unsere Automobilität ihre Ortskerne in Durchgangsstraßen verwandelt hat.

Rinkerode hat gerade mal dreieinhalbtausend Einwohner, einen Bahnhof und eine Bundesstraße. Münster ist nicht weit. Jeder grüßt. Eine Handvoll schöner alter Häuser, die hübscheste Sparkasse des Münsterlandes, eine Kirche, Kneipen, die alle noch geschlossen sind. Jeder grüßt.

Bei Tage wird hier nicht öffentlich getrunken. An der Durchgangsstraße, die reichlich und zügig befahren wird, eine Bäckerei und ein Fleischer, ein umzäuntes Grundstück, demnächst entsteht hier exklusiver Wohnraum. Mit einem Becher Kaffee und einem Liebesknochen, so heißt das Gebäck, knochentrocken übrigens, wieder auf die andere Straßenseite, zwei Bänke, ein voller Papierkorb, ein Brunnen, kein Trinkwasser, aber ohnehin abgestellt. Jeder grüßt.

Dörfliche Ruhe gibt’s hier nicht mehr, aber wer nicht gerade mit dem Fahrrad kommt, merkt das vielleicht nicht mal. Der letzte Happen des Liebesknochens, der mit der Schokolade, mundet dann doch. Und dann ist da ja auch noch der Rückweg.

Bild von I, Jkl-foto, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2491478

Sprachgrenze

Sprachgrenze

Wir waren in Haltern am See. Also nur in Haltern, nicht am See, aber die Stadt heißt eben Haltern am See. Der See ist in Wahrheit ein Stausee, aber Haltern am Stausee klänge natürlich bei weitem nicht so gut. Ein See und ein Römerlager, Aliso hieß es. Varus, lagerte dort. Der Feldherr, dessen Legion im Jahre 9 im Raum Kalkriese – oder doch im Teutoburger Wald? – von Arminus, der überhaupt nicht Hermann hieß, geschlagen wurde, also nicht von Arminus allein, sondern von einem germanischen Heer.

Noch einmal kurz zum Mitdenken: Arminus, der die Schlacht schlug, wurde für die deutsche Geschichte zu Hermann, weil es besser klingt, wenn der Held einen kernigen deutschen Namen hat, nehme ich an. Dieser falsche Hermann steht bei Detmold auf einem Sockel und droht mit erhobenem Schwert den Feinden des Reiches. Praktisch wäre gewesen, hätte man den Herrmann auf einen drehbaren Sockel gestellt, damit er immer den aktuellen Feinden drohen kann. Jedenfalls steht er am falschen Ort, dort hat die Schlacht eher nicht stattgefunden. Ob sie in Kalkriese stattfand, ist auch nicht so sicher, immerhin haben die dort ein Museum. In Haltern hat zumindest der Gegner des Arminius, der Feldherr Varus, gelagert, das scheint völlig unstrittig. Verzeihung: in Haltern am See.  

Mit Haltern am See gibt es ein anderes Problem, weil irgendwie nicht ganz klar ist, wohin es gehört. Ist es nun Ruhrgebiet oder Münsterland? Wikipedia sagt. „Die Stadt liegt am Nordrand des Ruhrgebiets und gleichzeitig am Südrand des Münsterlandes.“ Gleichzeitig? Kippt sie noch in die eine oder andere Richtung oder wird das am Schreibtisch entschieden, so wie bei Schiermonnikoog, der östlichsten der Westfriesischen Inseln? Schiermonnikoog ist durch Sandanspülungen in die Provinz Groningen gewachsen und  gehört nur dank eines Vertrages ganz zur Provinz Friesland. Damit auch das mal klar ist.

Ruhrgebiet und Münsterland? Das geht doch nicht zusammen. Gut, unter dem gemeinsamen Oberbegriff Westfalen schon, aber sonst? Wenn man im Ruhrgebiet unterwegs ist, dann trifft man auf Menschen, die freundlich und gesprächig sind, die etwas fragen oder etwas erzählen wollen, einem durch nichts gerechtfertigten Gruß auch noch ein paar freundliche Worte anhängen, sowas wie „Tschüss und noch ein schönes Wochenende“. Das wünscht man doch nicht Wildfremden? Jedenfalls nicht in einer städtisch geprägten Region? Okay, auf dem Lande, da, wo der Gruß und der prüfende Blick ein Teil der sozialen Kontrolle und Kriminalitätsprävention sind, da grüßt man schon jeden. Aber nicht freundlich.

In „Das Büro“, dem Romanzyklus des niederländischen Schriftstellers  J. J. Voskuil, ist einer der Protagonisten in das Bijlmermeer gezogen. Das Bijlmermeer ist eine 1965 entstandene Vorstadt Amsterdams, die für 100.000 Einwohner gebaut wurde und rasch zu einem sozialen Brennpunkt wurde. Zu viele Menschen in zu hohen Häusern auf zu wenig Raum. Jedenfalls grüßt die Romanfigur dort einen Nachbarn, der daraufhin mit „Krijgen we dit nou iedere dag?“ reagiert, also ungefähr mit „Machen Sie das jetzt immer?“ Das beschreibt sehr schön den Unterschied zwischen dem Ruhrgebiet und dem Münsterland. Der Münsterländer an sich kann auch sprechen, er muss es aber nicht.

Das Foto stammt von Dietmar Rabich, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29504769