Noch steht der Leuchtturm nicht, noch gibt es keine Fährverbindung, keinen Hafen, noch sind die Hügel, die Berge fast baumlos und kahl. Die „Briefe eines Schiffbrüchigen“ von Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten, 1794 veröffentlicht, enthalten eine Beschreibung Hiddensees, die ich etwas gekürzt und in den Schreibweisen vorsichtig modernisiert habe, um die Lesbarkeit zu erhöhen.
„Ich (…) ersuchte meine Führer, mich nun des kürzesten Weges nach Hiddensee zu bringen. Diese kleine Überfahrt war sehr angenehm. Das Seewasser ward von der Sonne bis auf den Grund erleuchtet, dessen silberfarbiger mit unzählbaren Muscheltrümmern durchsetzter Sand einen schillernden Glanz von sich warf. Schwärme von Plötzen, Barschen und andern Fischen spielten in dem grünlichen Element, und schossen pfeilschnell unter unsern Rudern fort.
Um Mittag etwa setzten meine Führer mich auf dem Alten Bessin aus, einem Haken des Hiddenseeischen Landes, welchen ich nun erst umwandern musste, um den bewohnten und angebauten Teil der Insel zu erreichen. Dieser Alte Bessin ist wahrlich das allerödeste Land, was ich je gesehen. Weder Gras noch Gebüsch bekleidete den abgestorbenen Boden. Einige verkrüppelte Hagebuttensträucher schienen bloß dazustehen, um den Mangel alles Schattens und alles Labsals desto fühlbarer zu machen.
Der Haken zog sich mehr in die Länge, als ich erwartet hatte, und das Gehen ward mir sehr beschwerlich. Es war Mittag und drückend schwül. Die Luft schien alle Elastizität verloren zu haben. Einzelne matte Wellen plätscherten kraftlos an das dürre Ufer. Lechzend nach Schatten und Erquickung, mit schmerzendem Haupte und durchgeborstenen Lippen, vermochte ich nur sehr langsam mich fortzuschleppen, und der verwünschte Haken nahm gar kein Ende. Anderthalb gute Stunden dauerte es, eh ich seine Krümmung hinter mir, und ich mich wieder auf bewohntem Boden sah. Ganz erschöpft warf ich auf dem ersten grasigen Abhange unter einer Gruppe noch dichtbelaubter Weiden mich nieder, und versank in eine schlummerähnliche Betäubung. Ein großer Jagdhund, der des Wegs gelaufen kam, und mir seine kalte Schnauze an den Backen legte, erweckte mich. Ich sprang auf, und fühlte durch die minutenlange Anspannung meiner Fibern nicht nur mein Kopfweh verstreut, sondern auch meine Kräfte völlig wieder hergestellt. Voll jenes Vergnügens, welches der Anblick nie gesehener Landschaften mir allezeit gewährt, setzte ich meinen Stab weiter. Eine Allee noch grünender Weidenbäume zog sich den Strand entlang. Zur Linken hatte ich das Ufer. Zur Rechten türmten sich die Berge, deren nächste Abhänge, so steil sie auch zum Teil schienen, dennoch Spuren des Anbaus verrieten.
Durch Grieben, das nördlichste Dorf des Landes, gelangte ich bald zu dem sogenannten Kloster, wo der Besitzer der Insel und der Prediger wohnen. Bei Letzterem sprach ich ein. Er sowohl als seine gastfreie Gattin empfingen mich mit vieler Freundschaft. Er ist auf dem Lande geboren und erzogen, äußerte auch mit seinem einsamen Aufenthalt und sehr mäßigen Einkommen eine mir sehr rührende Zufriedenheit.
Nachdem ich mich ein wenig erfrischet hatte, führte er mich in die Berge. Schöne romantische, wild durcheinander geworfene Berge, größtenteils ohne Spuren einiger Kultur, und aller Kultur unempfänglich.
Du weißt, Liebe, wie ich an den Bergen hänge. Berge gehen mir nächst dem Meere über alles. Inselberge nun gar, umrauscht vom heiligen Vermögen des Meeres, sind mir der höchste Gipfel aller Naturerhabenheit. Kein Wunder demnach, wenn ich nicht müde werden konnte, in diesen Höhen umherzuschwärmen. Bergauf, bergab, Ufer hinan, Ufer hinunter rannte und kletterte ich, während der ehrliche etwas schwerfällige Pastor, an der besonnten Seite des Abhanges gelagert, in Frieden sein Pfeifchen schmauchte, und sich herzlich freute, dass ich an seinem Vaterlande ein so großes Behagen fände. Ich sah die Sonne untergehen von diesen Bergen, doch hinter drohenden Wolkengebirgen. Ich sah den Mond hervortauchen aus den Wellen in seinem vollen Licht, und diese öden Gipfel mit mildem Strahl versilbern. Bis tief in die Nacht hinein würde ich in den Bergen herumgeschwärmt sein, wenn mein freundschaftlicher Führer nicht angefangen hätte, vor Frost zu zittern, und über den sinkenden Tau sich zu beschweren. Also begleitete ich ihn wieder zu seinem Hause, wo ein gastliches Mahl und dann ein weiches, nur zu weiches und zu heißes Bette meiner harrte!
Mit dem grauenden Morgen brach ich wieder auf. Meine Fenster gingen auf den gebirgigen Teil der Insel. Rasch kleidete ich mich an, um diese interessanten Berge noch einmal zu durchirren. Es stürmte stark aus Westen, und das Grollen des Meeres, das Rauschen der an dem hohen Gestade sich brechenden Wogen erhöhten die Herrlichkeit der Szene über alle Beschreibung. Gewaltsam musste‘ ich mich ihr entreißen, weil ich gerne noch den übrigen Teil der Insel sehn, und doch vor Abend noch wieder zu Hause sein musste.
Ich kehrte zu meinem lieben Wirt zurück, der sich höchstlich wunderte, dass ich schon wieder in den Bergen gewesen sei, und sich erbot, mich jetzt auch in das flachere Land zu führen. Gleich hinter seinem Dorfe nämlich senkt sich das Land mit einmal in eine beinahe waagerechte Fläche, welche mehr denn anderthalb deutsche Meilen bis an das südliche Ende der Insel fortläuft, ganz aus Moor und Sumpf und Sande besteht, und zwar wohl einiger Viehzucht, des Ackerbaues aber fast gar nicht empfänglich ist. Wir spazierten den westlichen Strand hinunter bis zur Hiddenseeischen Vitte, dem größten Dorfe des Landes, dessen Einwohner sich größtenteils vom Fischfange nähren. Armseligere Hütten als die, so ich in diesem Dorfe fand, sind mir noch nicht vorgekommen. Da es der Insel an Lehm fehlt, um die Wände aufzurichten, und an Stroh, um die Dächer zu decken, so sind ausgestochene Rasen das einzige, womit sie wider die Unbilden der Witterung sich schützen können. Das Innere dieser Hütten aber war so rauchig und so unrein, dass ich mit aller meiner Hüttenliebe nicht im Stande war, nur wenige Minuten in ihnen auszudauern.
Das Dorf ist volkreich; aber wenig Menschen waren vorhanden. Man sagte uns, sie wären all am Strande und fischten Bernstein. (…)
Tiefer in das Land zu dringen, hielt ich für unnötig, weil mein Begleiter mich versicherte, dass es dem, worauf wir uns jetzt befänden, überall vollkommen ähnlich wäre. Ich will also den Rest meiner kleinen Anmerkungen hier kürzlich zusammenfassen. (…)
Die Insel hält zwei Meilen in die Länge; aber die Breite ist desto unbedeutender. Man bemerkt, dass der flache Teile des Landes ansetze, der gebirgige aber von den Wellen immer mehr weggespült werde.
Die Zahl der jetzigen Einwohner beträgt zwischen vier und fünfhundert. Sie nähren sich von einigem Ackerbau; hauptsächlich aber vom Fischfang und der Schifffahrt. So arm das Land auch ist, so hegen sie doch eine so unüberwindliche Vorliebe dafür, dass sie fast nie ermangeln, aus der Fremde zurück zu kommen, und auf dem undankbaren Boden, auf dem sie geboren wurden, ihr Leben zu beschließen.
Der fühlbarste Mangel des Landes ist der gänzliche Mangel des Brennholzes. Statt seiner müssen sich die Einwohner mit gedörrtem Kuhmist behelfen, und mit einem Torfe, dessen unerträglicher Gestank die Hütten, die Kleider, die Geräte, ja selbst die Speisen und Getränke der Einwohner durchdringt, und dem Fremden, der seiner nicht gewohnt ist, Übelkeit und Erbrechen erregt.
Gleich nach Mittage beurlaubte ich mich bei meinem gastfreiem Wirte, und bestieg eine Jolle, die auf den Heringsfang ausfuhr, und mich an dem Posthause aussetzte.“
Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten: Briefe eines Schiffbrüchigen, 1794
Im nächsten Teil: Alexander Ettenburg, Gerhart Hauptmann, jede Menge Künstler und eine verlorene Urne.