Falsche Zähne

Falsche Zähne

Meine Oma war alt. Schon immer. Immerhin war sie 53 Jahre älter als ich. Alte Menschen kleideten sich dunkel, trugen eine Brille und hatten keine eigenen Zähne mehr. Aber meine Oma hatte Söhne und Töchter, die sich darum kümmerten, dass sie ein Gebiss bekam. So eins, dass man abends in ein Glas mit Wasser stellte. Doch meine Oma ließ es dort auch den ganzen Tag über, weil es nicht passte.

Ich weiß nicht, ob es ihr nicht passte oder ob ihr einfach nicht passte, dass sie ein Gebiss tragen sollte. Alte Menschen sind da komisch, ich weiß, wovon ich spreche. Also redete die Familie ihr gut zu. Mit den künstlichen  Zähnen könne sie doch besser kauen, deutlicher sprechen und freundlicher lächeln. Doch statt der Welt die Zähne zu zeigen, vergrub meine Oma ihre neuen Zähne im Garten. Kiefern zu pflanzen, wäre billiger gewesen, aber in welchem anderen Garten gab es ganzjährig etwas zu beißen?

Bild: Garten des Architekten Henry van der Velde in Weimar (Villa Hohe Pappeln). Um 1909.

Der Nasenfaktor

Der Nasenfaktor

Nicht nur Geräteturnen, Völkerball oder Fußball, der Sportlehrer meiner neuen Klasse, ich will mich nicht an seinen Namen erinnern, war offen für andere Sportarten. Ich mochte während meiner Schulzeit nicht einmal die Sportarten, die ich später noch lieben lernte würde. Allerdings unter der Voraussetzung, dass andere sie ausübten.

Dass man außerhalb hochbezahlter Profikreise boxen konnte, hatte ich mir bis dahin nicht einmal vorstellen können, jetzt lagen da zwei Paar Boxhandschuhe und vier Stühle markierten die Grenzen des Ringes. Friedhelm sollte mein Gegner sein, einen Kopf kleiner als ich und eher hager.

Ich wusste nicht, dass Absprachen zwischen den Kontrahenten unzulässig waren und erklärte Friedhelm, dass ich sehr schnell Nasenbluten bekäme. Friedhelm nickte verständnisvoll und traf mit seinem ersten wohlgezielten Schlag meine Nase. Wenn man schon Goliath ist, sollte man David nicht auch noch den Stein für die Schleuder in die Hand drücken.

Bild: Athletics and manly sport (1890) von Internet Archive Book Images – https://commons.wikimedia.org

Nicht mal Bahnhof verstanden

<strong>Nicht mal Bahnhof verstanden</strong>

Wir waren erst vor wenigen Wochen nach Ostfriesland umgezogen. Ich kannte den Weg zur Schule und den in die Stadt, ansonsten wachte ich jeden Morgen in einem mir noch fremden Landstrich auf. Aber obwohl für mich alles neu war, hielt die Welt nicht inne und wartete, bis ich soweit war. Meine neuen Mitschüler hatten sich längst einen Praktikumsbetrieb für das Schulpraktikum gesucht, als ich noch nicht einmal ahnte, dass auch ich ins Praktikum gehen sollte. Die Landwirtschaftskammer nimmt dich, sagte mein Klassenlehrer, also ging ich hin und saß fortan täglich in einem Büro und kolorierte mit Buntstiften irgendwelche Messtischblätter. Ich hätte sicher genauso gut Servietten falten oder Kugelschreiberfedern nachspannen können.

Den Höhepunkt meines Praktikums sollte die Teilnahme an einer Außenaktivität der Kammer bilden. Ich bekam eine Fahrkarte in die Hand gedrückt und sollte am folgenden Morgen mit dem Zug von Leer nach Borssum fahren. Aber der Zug hielt nicht nur in Borssum, sondern vorher auch in Oldersum und die ganzen Sums verwirrten mich so, dass ich in Oldersum ausstieg. Mitten auf dem platten ostfriesischen Land. Allein auf dem Bahnsteig. Niemand, der mich abholte, niemand der wusste, wo ich war oder wo ich hinsollte. Nicht einmal eine Telefonnummer, die ich hätte anrufen können. Der Wind pfiff, es war kalt und ich war so falsch am Platz, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich fuhr wieder zurück und ging nachhause. Das war der beste Tag des gesamten Praktikums.

Bild: SuzanneBrandkamp, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Sie ist wieder da

Sie ist wieder da

Sie ist wieder da. Natürlich nicht dieselbe, obwohl ich das nicht einmal überprüfen kann, aber es ist schon hinreichend seltsam, dass es die gleiche Single ist, die wir seit ein paar Tagen wieder im Haus haben. 1968 lebte ich schon in Leer in Ostfriesland, ließ meine Haare wachsen, was ja ein Prozess war, der viel Zeit und Aufmerksamkeit benötigte, damit nichts schief ging und für den konzentriertes Musikhören sehr förderlich war. Beat, so nannte sich, was wir da hörten, bis mir ein Kumpel sagte, dass es ab sofort Rock hieße. Warum die einzige geschmackssichere und unersetzliche Musiksendung im bundesweit zu empfangenden Fernsehen bis zu ihrem Ende weiterhin Beat-Club heißen durfte, hat sich mir bisher nicht erschlossen. Egal.

Ich hörte also Beat. Aber mein musikalischer Geschmack war mehr vom deutschen Schlager, als vom amerikanischen Rock’n Roll geprägt worden. Freddy, Gitte und Rex und was da noch lief, neben den beliebtesten Operettenmelodien. Damit war ich, damit waren viele meiner Generation nicht gefeit gegen den Angriff der Musikindustrie, die zügig erkannt hatte, dass das Phänomen Popmusik sich doch recht gut eignete, Kasse zu machen. Natürlich wurden schnell Bands gecastet und Hits von erfahrenen Teams produziert. Die Hitparaden waren voll von dem Zeug, Massenware für die schnelle Mark im Plattenladen. Qualitätskriterien hatte ich zunächst überhaupt nicht.

Mir gefiel, was ich hörte, wenn es nur englisch war und die Leute lange Haare hatten. Ja, manches in meiner Plattensammlung ist leider nicht anders zu erklären. Schon bald kam aber ein drittes Kriterium hinzu: Gut war, was meine Freunde auch mochten. Später war auch gut, was manche Leute nicht mochten. Inzwischen haben sich meine Ohren an den Klang der Welt gewöhnt und ich kann nicht mehr erklären, warum mein Geschmack ist, wie er ist und warum ich die Musik, die ich eigentlich mag, so gut wie überhaupt nicht höre und stattdessen ständig irgendein Zeug höre, dass ich definitiv nicht mag. Das wäre mir 1968 nicht passiert.

Oder doch, denn darum geht es hier. Als großstadterprobter Beatfan kaufte ich in Leer meine Schallplatten nicht, wie noch in Hagen, in einem kleinen, dunklen Radio-Fernseh-Laden, in der Mitte des Raumes ein paar Tische, ich weiß nicht, wie diese Teile hießen, die wie ein nach oben offenes Regal, genau, ein horizontales, nach oben offenes Regal aussahen. Da standen die LPs von Künstlern, die ich nicht kannte oder nicht mochte. Und dann gab es noch kleinere Kästen mit Singles, dem täglichen Brot des beatsüchtigen Teens. In Leer führte der zuständige Händler auch Kühlschränke, Waschmaschinen und alles, was sich die Welt des Jahres 1968 unter weißer und brauner Ware vorstellte. Mit fünf Mark in der Tasche, Geld, das zu Musik werden sollte, stand ich also in einem profanen Geschäft, das meine Kaufentscheidung für eine Nummer 1 der Hitparaden mit der für eine Wäscheschleuder gleichsetzte, nein, sie weit hinter dieser Entscheidung einordnete.

Vielleicht erklärt das, warum ich eines Tages mit der aktuellen Single der Bee Gees nachhause kam, mit World. Wie gesagt, im Radio lief Popmusik nur unter Sicherheitsvorkehrungen und mit Warnhinweisen, im Fernsehen einmal im Monat. Ich kannte manche Stücke aus der Hitparade, wenn die nicht gerade am Samstag zur familiären Badezeit lief, manche kannte ich nicht, bevor ich sie auf meinen Plattenteller legte. Wie gesagt: englisch und lange Haare. Diese Voraussetzungen erfüllten die Bee Gees. Dann hörte ich mir den Song an und er war nicht kompatibel mit den Small Faces, mit den Byrds oder mit der Spencer Davis Group. Also verschenkte ich die Single an Michael, ich weiß seinen Nachnamen nicht mehr, ein Typ in meiner Klasse mit einem Lockenkopf wie Art Garfunkel. Also der junge Art Gurfunkel. Und mit mehr Haaren. Er war glücklich, eine Platte umsonst zu bekommen, ich war froh, dass Ding los zu sein. Jetzt ist sie wieder da. Ein Kreis schließt sich. Könnte man sagen, aber weshalb sollte man?

Foto: Von NCRV – 68411162-7 pos.png Beeld en Geluidwiki – Gallery: TwienBeeGee’s bij Twien (NCRV, 1968). Archief Beeld en Geluid, catalogusnummer 68411162, fotonummer 7, CC BY-SA 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9801882

Manni, kein Nobelpreis, ein Hafen und der Kaiser

Es goss und wir saßen mit unseren selbstgedrehten Zigaretten in einem der Salons der Fähre nach Terschelling. Manni und ich, Ende der sechziger Jahre. Ich war ein umgezogner Jugendlicher. Wenige Jahre zuvor waren meine Eltern nach Leer umgezogen und ich war mit umgezogen worden. Aus Hagen, einer Großstadt, so fühlte sich die Stadt jedenfalls in der Erinnerung an, in ein ostfriesisches Kleinstädtchen mit plattdeutschem Umland und touristischem Potenzial. Ein Schuljahr später war ich angekommen, fühlte mich zwar immer noch wie der Großstädter unter Landeiern, wusste in Wahrheit aber über das Großstadtleben genauso wenig wie über das Erwachsenwerden.

Ob es der ewige ostfriesische Wind war oder das völlig grundlose, aber zweifellos vorhandene Gefühl einer Überlegenheit: Ich hob plötzlich die Nase aus dem schulischen Sumpf, tat, was ich konnte und sah, dass es gut war, wählte meinen eigenen Weg und der führte zur Handelsschule.

Ja, ich weiß. Nichts klingt weniger nach Befreiung und Revolte als die zweijährige kaufmännische Handelsschule, aber dort fingen wir alle gemeinsam neu an, ich war nicht mehr der Neue, ich war einer von den Neuen und plötzlich saß ich nicht mehr allein in meinem Zimmer und hörte  Lutz Ackermann in „Musik für junge Leute“ auf NDR 2, sah aus dem Fenster und hoffte, dass es anfangen würde, irgendwas, was auch immer, keine Ahnung. Plötzlich gab es  Leute, die auch ihre Haare wachsen ließen, mit denen ich zur Schule fuhr, mit denen ich in der Pause auf dem Schulhof stand und mit denen ich nach der Schule in der Stadt eine Cola trank und eine Runde flipperte, in einem Eiscafé, dessen Chef wir Charly nannten und duzten, einen Erwachsenen!

Plötzlich gab es auch Mädchen, ich weiß nicht, wo die sich bis dahin versteckt hatten, aber jetzt waren sie nicht mehr zu übersehen und legten mir im Gespräch eine Hand auf den Unterarm oder wollten von mir zur Weiterlesen

Außen vor

Außen vor

Ich hatte Lokalverbot. Im Club. Der besten, der einzigen Diskothek in der Stadt. Vertrieben aus dem irdischen Paradies, war mein Leben plötzlich sinnlos geworden.

Ich habe keine Erinnerung daran, womit ich es verdient hatte, dass Francesco, so hieß der Wirt, ein energischer Italiener, mich des Ladens verwies. Vermutlich eine Kollektivstrafe für unsere konsumschwache langhaarige Gammlertruppe. Ich war eigentlich zu brav für sowas. Obwohl, wenn ich nachdenke… aber das muss ich ja nicht gerade jetzt tun.

Auf den ersten Blick hätte man denken können, dass alles so weiter ging wie bisher. Wir führten die gleichen Gespräche wie zuvor, lagen auf der Wiese am Hafen in der Sonne oder hockten am Kriegerdenkmal, drehten Zigaretten und boten einen erschröcklichen Anblick für die braven Bürger der Stadt. Sobald es aber dunkel wurde, sobald es kalt wurde, verengte sich die Stadt auf eine Straße, leuchtete nur noch ein Licht – und ich musste im Dunklen bleiben.

Wir Ausgeschlossenen, ich teilte mein Schicksal, Glück im Unglück, mit drei oder vier anderen, suchten Asyl im Venezia, einer neonlichtkalten Eisdiele mit Edelstahlbestuhlung und Tischplatten aus Marmorimitat, die erst um 22 Uhr dichtmachte. Mit einer Jukebox, in der nichts unsere Gnade fand und die wir doch manchmal mit Kleingeld füttern mussten, damit nicht jedes unserer Worte bis in die letzte geflieste Ecke getragen wurde. War die Cola alle, dauerte es auch nicht mehr lange und es wurde ungemütlich.

Also stromerten wir wieder durch die Stadt, suchten in den Eingängen der Läden Schutz vor dem ewigen Wind und träumten von Konzerten und Festivals, von Hendrix und den Scherben, die nie auch nur in die Nähe unseres Provinzstädtchens kommen würden. Die Glücklichen, die sich jetzt im Club drängelten, zu Songs von Marvin Gaye oder Santana tanzten, okay, auch zu Peter Maffay und das ging ja eigentlich gar nicht. Draußen trafen wir natürlich auch die schrägeren Typen, die, die das immerwährende Lokalverbot ereilt hatte, die in schlecht beleuchteten Ecken dealten und angeblich sogar mit einer Waffe gesehen worden waren. Mädchen allerdings sahen wir nie, die schienen sowas wie Lokalverbot nicht mal zu kennen.

Einmal, in einer beleuchteten Schaufensterpassage, griff Conny mir ins Haar. Damals kämmte ich meine Haare von einem ordentlichen Linksscheitel aus schwungvoll nach vorn, so dass sie meine Stirn vollständig verbargen und praktisch eine Linie über meinen Augenbrauen bildeten. Mit wenigen Handgriffen, vielleicht hatte Conny sogar seine Bürste in der Jackentasche, zauberte er einen Mittelscheitel, den ich seither brav beibehalten habe, auch wenn der Scheitel in der Mitte inzwischen ein wenig breiter geworden ist und meine Haare nicht mehr lang und nicht mehr schwarz sind.

Irgendwann war das Lokalverbot vorbei. Es endete nicht mit einer Einladung, doch bitte wieder unser Geld im Club abzuliefern, sondern mit unserer zunächst zögerlichen, mit schrägen Blicken bedachten, dann aber selbstverständlichen Rückkehr in den Club. Wir machten uns wieder über die Dorfjugend lustig, tranken am Wochenende unser schal werdendes Bier, rauchten frierend vor der Tür mit denen, die gerade mal wieder ausgesperrt waren und warteten darauf, dass das Leben endlich mal Gas geben würde.

Edward Hopper, Public domain, via Wikimedia Commons

Hut ab

United Press International, photographer unknown, Public domain, via Wikimedia Commons

Wir waren gerade erst umgezogen. Aus Hagen nach Leer, aus dem Ruhrgebiet nach Ostfriesland, aus der Großstadt in die Kleinstadt. Also bitte, das ging doch überhaupt nicht. Für Rentner vielleicht, aber doch nicht für einen Teenager. Ich hatte nämlich schon die achte Klasse hinter mir und war überhaupt nur noch schulpflichtig, weil die Niedersachsen schon das neunte Schuljahr eingeführt hatten. Außerdem war der Schuljahresbeginn von Ostern auf den Herbst verlegt worden, sodass ich in der kurzen 9a landete, aber in die lange 9b gehört hätte. Oder so ähnlich. Fast nämlich wäre ich nach nur einem halben Jahr Ostern 1967 entlassen worden, statt wie es sich ziemte im Herbst 1967. Also im Sommer eigentlich, aber das versteht jetzt eh keiner mehr. Ich auch nicht. Immerhin wurde ich so in Leer gleich zweimal neu eingeschult, erst in der falschen, dann in der richtigen Klasse. Vielleicht war das auch alles ganz anders und ich habe versehentlich ein halbes Jahr zu viel Schule genossen.

Leer also und ich fühlte mich so groß, so… das Wort cool war noch nicht eingebürgert und mein Fremdwortschatz beschränkte sich auf…, nein, eigentlich besaß ich noch keinen. In Hagen hatte ich die großen Jungs noch bewundert, die mit den Mick-Jagger-Hosen. Habe ich gerade noch gegoogelt. Damals war das ein feststehender Begriff, hautenge, kleinkarierte Hosen mit einem enorm breiten Gürtel. Jetzt findet man sie nicht unter diesem Namen. Vermutlich hießen sie nur auf unserem Schulhof so und deshalb habe ich nie eine bekommen. Nur eine kleinkarierte Hose ohne superbreiten Gürtel und das war so falsch, wie eine Jeans von Quelle, so ein blaues Teil, das man getrost auch hätte bügeln können und das niemals ausblich. Ja. Die bekam ich natürlich auch. Damit waren meine Coolnesswerte locker im Minusbereich.

Aber in Leer, da wollte ich es den Landeiern zeigen und auftrumpfen wie die großen Jungs. Mit der richtigen Jacke und Hose und Mütze und… ja, Mütze! Ringo und John und bestimmt auch die anderen, auf jeden Fall aber die großen Jungs in Hagen trugen Kappen. Schwarze Kappen, man sieht das auf Plattencovern und Fotos aus der Zeit. So eine musste ich auch haben. In Leer gab es natürlich kein Fachgeschäft für Teenager, die ihren Idolen nacheifern wollen, eine Art Kultausstatter oder so. In Groningen, vielleicht sogar schon in Winschoten, kurz hinter der holländischen Grenze, hätte ich bestimmt gefunden, was mein Herz begehrte. In Leer gab es nur einen Hutladen, in dem ältere Damen und alte Männer ihren Kopfbedarf deckten, denn Hüte und Mützen waren damals schon hoffnungslos aus der Mode. Bis auf die Beatlescap, von der man dort allerdings noch nie gehört hatte und bis vor zwei Minuten ahnte ich auch nicht, dass das Teil so heißt.

Ich wusste nicht genau, wonach ich suchte. Der Verkäufer hatte keinen blassen Schimmer, was er mit einem Kunden unter 60 anfangen sollte, mochte sich das Geschäft aber auch nicht entgehen lassen und so verließ ich stolz, aber auch ein wenig zweifelnd, den Laden mit einer schwarzen Kappe, die ich tapfer nachhause trug. Dort teilte mir mein Onkel freudestrahlend mit, dass es sich bei meiner Neuerwerbung um eine Prinz-Heinrich-Mütze  handelte, benannt nach dem jüngeren Bruder Kaiser Wilhelms II. Sowas wurde auch nie von den Beatles oder gar den großen Jungs getragen, dafür aber von Altkanzler Helmut Schmidt. Mega.

Auch ich

Auch ich

Ich hatte nur wenig und schlecht geschlafen, weil irgendwo in der Nachbarschaft bis weit nach Mitternacht gefeiert worden war und jetzt klingelt auch noch der Wecker. Das hatte er schon so lange nicht mehr getan, dass ich mir nicht mal die Mühe gemacht hatte, ihn auf die Winterzeit umzustellen. Er sollte nicht klingeln, klingeln schon mal überhaupt nicht. Mein Wecker piepst. Schnauze, nuschele ich dann und bekomme noch zehn Minuten Schlaf geschenkt. Dieser Wecker klingelt und ist völlig immun gegen eine entschiedene Ansprache. Wie stellt man den ab? Ich weiß es nicht, aber meine Finger finden selbstständig einen kleinen Metallhebel und schieben ihn zur Seite.

Ruhe.

Es ist dunkel und kalt. Ich ertaste die Lampe auf dem Bettkasten am Kopfende der Schlafcouch und noch bevor das Licht angeht, weiß ich, was ich sehen werde, so sicher, wie ich es an jedem anderen, gut, an fast jedem anderen Morgen meines bisherigen Lebens gewusst habe. Nur, dass es nicht richtig ist, das zu sehen, dass es nicht sein kann. Aber sag mal der Realität ins Gesicht, das sie gerade einen Fehler macht, dass sie etwas durcheinander gebracht hat und dass du jetzt die Augen zumachst, bis drei zählst und dann hoffentlich alles wieder seine Richtigkeit hat. Nein, es sind nicht sechs Beine, die mir Sorgen machen, ich weiß, dass ich nicht Gregor Samsa und erst recht kein Käfer bin.

Still jetzt.

Jemand geht über den Flur und ich fürchte kurz, dass die Tür aufgeht und ich reinkomme. Ach, eigentlich befürchte ich sogar, dass überhaupt irgendwer reinkommen könnte.

Jetzt aber mal langsam.

Ich weiß, wo ich bin und wer ich bin. Obwohl: Da bin ich mir schon nicht mehr ganz so sicher. Es scheint eine gewisse Differenz zwischen Körper und Geist zu geben. Ich bin immer noch ich, wenn auch in einer längst überholten, völlig aus der Mode gekommenen und etwas zu klein geratenen Siebziger-Jahre-Ausgabe. Und da wir gerade dabei sind: Den Körper würde ich schon behalten wollen.

Es war nicht alles schlecht, damals.

Ich –  noch nie war ich mir so unsicher bei der Verwendung dieses Personalpronomens, gut, mein Ich des Weiterlesen

Loslassen

Loslassen

Klein war die Welt und unermesslich groß, als ich ein Kind war. Klein war sie und vertraut, weil ich alles kannte, jedes Kind und jeden Erwachsenen, jeden Hund und unsere Katze, jedes Fahrrad und das Auto auf dem kleinen Parkplatz. Den Feldweg hinter der Treppe, den, auf dem ich der Frau vom kleinen Meyer mein Guten Morgen entgegenrief, kaum dass ich sie gesehen hatte, um dann stumm an ihr vorbeizutrödeln. Die Gärten hinter der Hecke und die Straße nach links und nach rechts, in die Stadt und runter zum Wald.

Und die Welt war groß, denn ich ahnte mehr, als dass ich es wusste, dass da noch anderes war. Afrika. Amerika. Kina. Kina, wie mein Vater sagte und ich auch und womit ich den Spott des Lehrers auf mich zog. Kina, Kina, Kina. Jetzt hab ich’s dem aber gegeben! Der Dschungel und die Hochhäuser, Cowboys und Indianer. Entdecker und Missionare. Dabei begann die große fremde Welt eigentlich schon hinter der nächsten Häuserzeile in der Stadt, begann dort, wo ich noch nie war und wo ich nach der Hand meiner Mutter griff.

Eine seltsame Landkarte wäre das geworden, hätte ich sie zu zeichnen versucht. Mit unserem Haus in Hagen-Eppenhausen im Mittelpunkt und als fernstem Ort der bekannten Welt das Haus meiner Oma in Leer, verbunden durch die Schienen der Eisenbahn. Dann ein paar Namen, Orte, die mit meinen Eltern verbunden waren. Ostpreußen und das Sudetenland. Namen wie Dortmund und Haspe. Wie Berlin und New York. Unbestimmbar weit weg und für mich so fern wie der Mond.

Einmal, auf dem Weg zur Donnerkuhle, einem Ortsteil, der seinen Namen vielleicht den Sprengungen im Steinbruch verdankte, war da ein schwarzer Mann. Einer, für den wir Bleichgesichter sicher schon vertraut waren, aber der für mich ganz unfassbar war, wie konnte das sein? Gab es Wege nach Afrika? Straßen oder Eisenbahngleise, die in die Wüste oder in den Dschungel führten? Ein unvergessliches Erlebnis, größer und aufregender als die Kinderstunde im Fernsehen und die Leseratten im Radio.

Eines Tages war da plötzlich ein Fahrrad in meiner Welt. Ein kleines Rad, eins in meiner Größe. Mein Fahrrad sollte das sein und ich hatte es mir nicht gewünscht, weil ich nicht wusste, dass das geht, dass man sich sowas wünschen kann. So ein Fahrrad kann man gut abstellen, das hat einen Ständer und, obwohl es eine Klingel hat, es ruft nicht, meldet sich nicht und sagt: Fahr mich. Ich war nämlich schon damals, noch vor meiner Einschulung, ein Guckkind, ein Habekind und kein Machkind.

Wozu sollte das gut sein, alles immer auszuprobieren, alles zu lernen, was andere doch schon konnten? Aber nein, meine Eltern, in diesem Fall mein Vater, bestanden darauf, dass ich mit dem Fahrrad fuhr. Bald sogar ohne Stützräder.

Jeder kennt die Geschichte vom Festhalten und Loslassen und von dem Moment, in dem man merkt, dass man betrogen wurde und ganz allein das Gleichgewicht hält und fährt und es ist schrecklich und es ist schön, weil man das jetzt kann, aber den Betrug, den vergisst man nicht. Rechts in Richtung Wald, aber es kann doch nicht sein, dass ich jetzt weiter und weiter geradeaus fahre, zur Bundesstraße und dann in die Welt hinein, vielleicht bis nach Afrika, vielleicht bis nach Leer. Nein, ich muss abbiegen, wenden und da kommt auch schon die Hovestadtstraße und ich ziehe nach links, halte den Lenker, halte mich am Lenker fest und da ist auf einmal ein Auto, das auch die Straße beansprucht und mein Vater ruft mir meine erste Verkehrsregel zu. Nicht die Kurve schneiden. Das mit dem Schneiden habe ich dann trotzdem wieder getan, aber das ist eine andere, eine blutige Geschichte, die von dem Fahrtenmesser, dass ich mir so gewünscht hatte.

Ein alter Sehbär

Ein alter Sehbär

Mir fehlten nur wenige Meter zum Seemann. Nur wenige Schritte trennten mich vom Kapitänspatent auf große Fahrt. Wie anders hätte mein Leben verlaufen können…

Ich wohnte in der Friesenstraße und die Seemannsschule war in der Bergmannstraße. Die Kleine Möwe, die Stammkneipe der Seefahrtsschüler, lag sogar noch näher und dort hätte ich mich sogar ohne Abitur, Fernweh und technisches Verständnis oder Numerus Clausus betrinken können. Habe ich aber nicht. Also ohne Abitur, Fernweh und technisches Verständnis habe ich mich schon betrunken, aber eben nicht in der kleinen Möwe.

Zu meiner Schulbildung gehörte auch nur das Fach Erdkunde, niemals die Geographie. Schon wenn es um Flüsse ging, wenn diese große physische Landkarte aufgehängt wurde, die ohne irgendwelche Beschriftungen, aber mit braunen Gebirgszügen und blauen Flüssen, wusste ich genau, dass ich an meine Grenzen stieß, wenn ich auch nicht hätte sagen können, welche Länder sich jenseits dieser Grenzen befanden. Flüsse gingen gar nicht. Nordsee, Ostsee, klar. Aber die Südsee lag nicht gleich hinter Bayern, nicht mal hinter den Alpen und die Westsee habe ich immer schmerzlich vermisst. Vermutlich ist es auch mein Sinn für Vollständigkeit, geschult bei diversen Runden Autoquartett, der mir den Zugang zur Welt der Seefahrer versperrte. Was zum Beispiel soll es, dass einem Boot oder einem Schiff, der Unterschied ist mir nie klar geworden, gerade mal zwei Seiten zugeordnet werden: Backbord und Steuerbord. Und die auch noch für rechts und links.

Dabei weiß man doch, das rechts ist, wo der Daumen links ist. So lernt das doch jeder, auch ohne Seefahrtsschule. Und kommt mir jetzt nicht mit Bug und Heck, die sind bei mir fest mit Thomas verbunden. Thomas Bug und Dieter Thomas Heck. Ich wäre, schon wegen der klanglichen Nähe, für Sideboard und Keyboard. Wie, Board oder Bord? Wer stellt sich denn wegen eines zusätzlichen Buchstabens an? Und im Englischen fällt dieser Unterschied eh weg. Backboard. Wäre Englisch doch immer so einfach, ein a dazu und fertig.

Ich verzettele mich.

Mir fehlte zum Studium an der Seefahrtsschule neben dem technischen Interesse auch, nein, nicht das Fernweh, das Abitur. Zweiter Bildungsweg, also Fachoberschule, Fachhochschule und danach war es eh zu spät, denn schon als Fachoberschüler habe ich gelernt, was es heißt, seekrank zu sein. Dafür braucht man auch überhaupt keine nautische Qualifikation. Bei der Suche nach der geeigneten Reling helfen Begriffe wie links und rechts, hinten und vorn auch nicht weiter, es geht nur noch um die Windrichtung.

Was bleibt ist das Fernweh.

Papa

Ephraim Moses Lilien / Public domain

Ist das Verlieren eine Augenblickssache, etwas, das in einem Moment passiert, oder ist es auch ein Prozess, der andauert und dessen Ergebnis nicht darin besteht, nicht immer darin bestehen muss, das etwas gänzlich weg ist, sondern das da noch ein wenig, ein kleiner Rest, übrig bleibt, einer, der den Verlust markiert?

Erinnerungen, die wie Live-Fotos wirken, die nicht nur den Augenblick festhalten, in dem der Auslöser gedrückt wurde, sondern 1,5 Sekunden davor und danach. So erinnere ich mich an meinen Vater Franz Willibald Voita. Eine Reihe, nicht viele, dieser kurzen Sequenzen. Eine Art Fotoalbum, dessen einzelne Bilder vertraut sind, die aber auch längst an Farbe verloren haben und zwischen denen keine Beziehungen bestehen, die keine Geschichte miteinander verbindet und die ich auch nicht Weiterlesen

Da Capo

Foto: Elfie Voita

Ich sagte irgendetwas, lachte auf und gab ihm einen Stoß, nicht besonders heftig, aber es reichte, um ihn auf die Straße und vor den herannahenden Bus zu bugsieren. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr.

Jedes Wort davon ist wahr – und zwar nicht so wahr, wie es Geschichten sind und auch nicht so wahr, wie etwas wahr ist, wovon in einer Geschichte gesagt wird, dass es wahr sei. Nein, es ist innerhalb und außerhalb dieser Geschichte wahr – und ich bereue nichts. Das heißt, etwas bereue ich schon: Das Ganze hat sich nämlich auf einer Bühne abgespielt und es kam niemand zu Schaden; ich weiß nicht einmal mehr, wer nicht zu Schaden kam. Was ich bereue, ist die Tatsache, dass ich auf dieser Bühne stand und mir gefühlt hunderte von Menschen auch noch dabei zusahen.

Es war der Tag der Schulentlassung und gemeinsam mit unserer Parallelklasse hatten wir wochenlang geprobt. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich wenigstens ein paar Minuten lang meinen Text gelernt hätte. Andererseits war mir klar, dass mir vor lauter Lampenfieber ohnehin kein Wort mehr einfallen würde, wozu also die vergebene Mühe?

Die Generalprobe war ein ziemliches Desaster, was ja angeblich ein gutes Zeichen ist, woran aber offenbar niemand glaubt, der an einer Generalprobe teilnimmt oder gar für das Gelingen der Veranstaltung Verantwortung trägt. Mein Klassenlehrer war nicht so leichtfertig gewesen, mir eine Hauptrolle Weiterlesen

Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf Weiterlesen

Ohne Worte

Von Ferdinand Georg Waldmüller – dorotheum.com (Heruntergeladen am 9. Oktober 2013), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28936180

1967 blickte die Welt auf den summer of love in San Fransisco, auf Leer in Ostfriesland schaute keiner, aber da lebte ich nun mal. Auf Beschluss meiner Eltern und ohne Rücksicht auf die Wut und Tränen, die meine Schwester und ich investierten, war der große Möbelwagen angerollt und da saß ich nun.

Nicht, dass ich dort niemanden gekannt hätte. Oh nein, da war zunächst einmal meine Oma, dann meine Onkel und Tanten… also genau die Menschen, die jemand, der unter akuter Pubertät litt, dringend um sich zu sehen wünschte. Und in meiner neuen Klasse fühlte ich mich auch noch nicht so richtig heimisch. Probleme mit der interkulturellen Kommunikation oder schlichter: ich verstand kein Platt und die fanden vermutlich, dass ich ein eingebildeter Städter sei. Während der großen Pausen stand ich zitternd in der ewig steifen Brise, die außer mir keinem mehr auffiel, sah den robusten Naturburschen zu und fragte mich, wie es mit mir weitergehen sollte.

Dann war da auf einmal dieses Mädchen. Blondes, leicht gelocktes Haar, eine modische Kurzhaarfrisur, mitten im Gedränge und Lärm des Schulhofs, eine unter vielen und zack, hatte sich etwas verändert. Wenn ich mich auch noch längst nicht eingelebt hatte, weg wollte ich jetzt nicht mehr. Die nächsten Pausen verbrachte ich damit, sie aus der Ferne anzuhimmeln oder ihr unauffällig zu begegnen. Kein Kunststück, denn sie drehte am Arm ihrer Freundin Runde auf Runde um den Schulhof. Zuhause hörte ich nur noch bei offenem Fenster Musik, saß auch gern mal auf der Fensterbank und kontrollierte erwartungsvoll die kleine, ungepflasterte Straße vor dem Haus, aber außer Weiterlesen

Ortsbegehung

Von Augustin Hirschvogel – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=291486

Braune Beine und nackte Füße in Ledersandalen. Ledersandalen, die ein wenig zu groß sind, so, wie Schuhe immer etwas zu groß oder zu klein sind, weil der Moment, in dem sie passen würden, vermutlich im Schuhschrank vergeht. Sonne und Staub, Lehm aus dem Garten, ein heißer Sommertag. Links die grüne Pumpe, mit der das Wasser für den Garten und die Tiere gefördert wird. Die Tür, die, nein, die Farbe weiß ich nicht mehr. Ein Fenster, ja. Dahinter ein kleiner Flur, der direkt in die Waschküche führt.

Vorher links das Klo. WC kann man es nicht nennen, denn Wasser gibt es nur aus dem Eimer. Ein Plumpsklo, das ich über die Jahrzehnte hinweg riechen kann. Das mir heute noch stinkt. Mit Zeitungspapier, in handliche Stücke gebracht. Mit einem tiefen Schacht, einem Schlund, der alles verschlingt und aus dem möglicherweise etwas aufsteigt? Wer weiß das schon?

In der Waschküche eine Badewanne. Zinkwanne, sage ich, weiß ich nicht. Woher soll ich wissen, wie eine Zinkwanne aussieht? Sie steht am Badetag, am Samstag also, mitten im Raum. Weiter hinten ein Boiler, einer der mit Kohlen beheizt wird. Glaube ich. Für heißes Badewasser. Ein Kohleofen, nein, ein Herd, auf dem meine Oma Schweinefutter kocht. Ungeschälte Kartoffeln und was auch immer. Auch so ein Geruch fürs Leben. Das Schwein lebt in einem Stall. Einem Verschlag ohne Ausgang. Bis auf ein Mal.

Zurück in den kleinen Flur: eine Stufe höher die Küche. Wärme, Helligkeit, Geselligkeit. Der Ort für den Tag. Die alte Gramuschka sitzt da und erzählt von Pommern und der Flucht und von Geistern. Gelbe Bohnen an Bändern hängen von der Decke, ein Herd, auf der Fensterbank ein Salzfässchen, Keramik, eine Acht, offen und immer etwas klebrig das Salz darin. Ein Fliegenfänger hängt von der Lampe. Schwarze Beute. Der Fußboden? Holz wohl. Braunrote Dielen. Das Haus meiner Oma. Meine Oma ist alt. Fast schon sechzig und trägt nur schwarze und graue Kittelschürzen. Ist schmal und groß. Ihre Zähne hat sie verloren, die neuen, das Kunstgebiss, haben ihr nicht so recht gepasst, die hat sie im Garten vergraben. So löst man ein Problem! Das Haus ist noch nicht alt, keine zehn Jahre, die Möbel sind noch nicht alt, nicht mal die Katze und Weiterlesen

Sternzeit

Von Tacuinum sanitatis XVe – Scan book „Le vin au moyen-âge“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22478404

„Die erste Begegnung“ steht auf dem Programm. Klingt nach einem Science-Fiction-Film. Die unheimliche Begegnung der dritten Art. Ist aber eher ein Biopic, wie man sowas heute nennt. Die weibliche Hauptrolle: sie, die männliche Nebenrolle: ich. Sie betritt den Raum, ich bin schon da. Oder: Ich betrete den Raum, sie ist schon da.

Doch, wir machen das so rum, weil sie nämlich gleich wieder gehen wird. Das weiß das Publikum noch nicht, ich wusste es damals auch nicht. Wäre aber blöd, wenn sie gerade mal angekommen wäre und dann schon wieder gehen müsste. Viel mehr Handlung gibt es leider nicht. Eher ein Kurzfilm, so kurz, dass sich das Publikum nicht mal fragen wird, ob sie sich am Ende kriegen oder ob am Ende Krieg ist.

Wir brauchen noch ein Setting: Ein schöner Septemberabend des Jahres 1978 in Ostfriesland. In Leer springt die Straßenbeleuchtung an. Für wen auch immer.

Früher lernten Menschen einander am Arbeitsplatz, beim Schützenfest oder in der Kneipe kennen. Manche Leute schalteten auch Kontaktanzeigen, andere vertrauten ihr Lebensglück einem Eheanbahnungsinstitut an. Was für ein Wort. Da ist doch sogar Scheidungsanwalt schöner. Kein Internet. Kein Parship. Kein Tinder.

Wie viele Zufälle, Entscheidungen oder durchkreuzte Pläne es brauchte für genau diesen einen Moment! Sogar ein Weltkrieg war nötig, damit sich meine Eltern begegnen konnten. In China musste ein Sack Reis umfallen und ein Schmetterling mindestens einmal mit den Flügeln schlagen. Weichen Weiterlesen