Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf dem Wäsche hing und Sachen abgestellt wurden, die gerade keiner brauchte.

Der Dachboden meiner Oma war anders mit dem Geruch nach altem Papier, dem Staub, der in der Sonne tanzte, und dem Licht, das nur durch ein einziges Dachfenster fiel. Mir war, als  beträte ich nicht einen Dachboden, sondern eine andere Zeit, eine ferne Vergangenheit, dabei war es ein neues Haus,  gerade einmal zehn Jahre alt. Eins, in dem kaum alte Dinge standen, bis auf ein paar Fotos von Gefallenen, Vermissten und Verstorbenen, keine neuen Bilder, keine von Lebenden, aber ein Haus, das voller Erinnerungen war.

Das Erinnerte wie das Vergessene, das fühlte ich wohl, auch wenn ich es so sicher nicht ausgedrückt hätte, konzentrierte sich auf dem Dachboden, dort, wo noch die Koffer standen, die einst mit aus Ostpreußen gekommen waren, die auch bei Umzügen in Ostfriesland  noch ihren Dienst getan hatten und die nun zu Lagerkisten degradiert worden waren. Brüchige braune Lederkoffer und geräumige Reisekoffer aus Vulkanfiber. Pappe, habe ich damals wohl gedacht, mit lederverstärkten Ecken und Schnappverschlüssen.

In den Koffern das Paradies: Bücher, Briefmarken-  und Sammelalben. Einen Teil meiner Bildung verdanke ich den Holsteinischen Margarinewerken Wagner & Co., großformatigen Bänden zu Abenteuern und Entdeckern oder lustigen Sprichwörtern, die in den frühen fünfziger Jahren entstanden sind. Schmale Büchlein, fünfzig, sechzig Jahre alt, lange vor dem Krieg, vor den Kriegen, in einer kleinen verschnörkelter Schrift gedruckt, die ich nie zuvor gesehen hatte und die schon deshalb einen besonderen Zauber besaßen.

Da lagen aber auch die „Zaubertrommeln am Barito“ mit Geschichten und Bildern von Wilden, die aus den Schädeln ihrer Opfer auf geheimnisvolle Weise Schrumpfköpfe machten. Heinz Helfgen, den Namen habe ich nicht nachgeschlagen, den weiß ich bis heute,  verkündete „Ich radle um die Welt“  und ich begleitete ihn in den kommenden Nächten nach Indochina und in die grüne Hölle, auch wenn ich erst ab Band 2 dabei sein konnte. Dann war da auch noch der Pilot, der nach einer Notlandung irgendwo in der Karibik von Hunger und Durst gepeinigt, auf Rettung hoffte.

Reisen! Nicht zur Oma und nicht auf der Flucht, einfach so, um etwas von der Welt zu sehen, unglaublich! Abenteuer, die ich, der ich mich schon vor großen Spinnen, zugegeben, vor kleinen auch, ekelte, um keinen Preis selbst hätte erleben wollen, von denen zu lesen aber für einige Jahre das Größte bleiben würde.

Zwischen all den Büchern fand ich schließlich auch noch meinen ersten Cowboyroman: Billy Jenkins, wohl von einer Leihbücherei aussortiert, weil die ersten 20 oder 30 Seiten fehlten, aber mein erster Western. Wer wird da kleinlich sein? Und vielleicht meine erste literarische Aufgabe: Erfinde den Anfang dieser Geschichte.

8 Gedanken zu “Überdachte Literatur

  1. Später lernte ich einen Starfighterpiloten kennen, als Zwölfjähriger las ich zweimal hintereinander „Mars, Planet der Geister“ von Peter Dubina im Boje Verlag. – – – Schöne Geschichte!

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  2. So dicht und schön geschrieben, lieber Manfred. Einen solchen Bücherfund zu entdecken ist (in dieser Zeit) etwas ganz besonders schönes. Dutzende von Welten zwischen Buchdeckeln.

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