gerade in unerklärlichen zeiten
treffe ich auf
immer mehr allwissende
als kinder haben sie nicht geschaukelt
als tote sind sie
einfallslos
Rainer Strobelt (2015)
gerade in unerklärlichen zeiten
treffe ich auf
immer mehr allwissende
als tote sind sie
Rainer Strobelt (2015)
„Okay, Annette, jetzt du.“
„Ich hab ein…“
„Etwas lauter bitte. Nein, nicht ihr. Annette, nicht ganz so leise, ja!“
„Ein Gedicht, ich habe ein Gedicht geschrieben.“
„Klar, typisch so ein Mädchending. Love, love, love und Sonnenuntergang in Pink und…“
„Danke Ben. Offenbar kennst du den Text ja schon. Kleine Kooperation zwischen euch?“
„Ich? Mit der? Niemals!“
„Dann warten wir doch einfach mal ab und geben Annette anschließend ein konstruktives Feedback, okay?“
„Darf ich bitte raus? Ich hab ein Attest. Lyrik verklebt nämlich meine Synapsen.“
„Na klar, Ole. Nimm dann bitte das Arbeitsblatt zur Wahrscheinlichkeitsrechnung mit. Das trainiert deine Synapsen.“
„Das verstößt aber so was von gegen die Menschenrechte.“
„Es gibt kein Menschenrecht auf Unfug.“
„Der Knabe…“
„Was? Annette, das ist Ole. Nicht der Knabe.“
„So heißt mein Gedicht.“
„Der Knabe?“
„Nein. Der Knabe im Moor.“
„In welchem Moor? Venner Moor?“
„Im Moor. Einem Moor oder dem Moor, wie Sie wollen. Wenn es Ihrer Phantasie hilft, es zu lokalisieren, dann gern auch das Venner Moor. Aber etwas mooriger. Kann ich jetzt?“
„Nicht so zickig, Annette. So ein „von“ im Namen ist kein Freibrief für Schroffheit.“
„Entschuldigung. Kann ich jetzt?“
„Dann mal los. Und Ruhe bitte.“
Der Knabe im Moor
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
„Das war schön, Annette. Also mein erster Eindruck. Das Reimschema..“
„Ich bin noch nicht fertig. Darf ich weitermachen?“
„Bitte.“
Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“
„Das ist der Erlkönig, der da raschelt.“
„Ben, das ist jetzt nicht nett, obwohl ich die Assoziation auch hatte. Annette, ist dir die Ähnlichkeit nicht aufgefallen?“
„Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.“
„Klar, das ist auch eine Ballade. Bei Goethe säuselt und bei mir sauset der Wind. Falls das reicht, bekenne ich mich des Plagiats schuldig. Aber vielleicht darf ich erstmal fertig lesen?“
„Na, ich hoffe mal, dass das jetzt nicht ein Erlkönig 2.0 wird!“
„We want Moor!“
„Ist ja gut, Ben. Hast du einen Farbwunsch für den Eintrag ins Klassenbuch?“
„Also. Kann ich?“
Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.
„Wird das noch heftiger, so ein Horror-Ding? Das ist ganz schön harter Stoff. Ich weiß nicht, ob wir da nicht Ärger mit der Klassenpflegschaft bekommen. Na, lies mal weiter. Wir müssen ja langsam fertig werden.“
Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnenlenor’,
Die den Haspel dreht im Geröhre!
„Starke Bilder und diese Sprache… Dylan Thomas trifft Edgar Allan Poe. Ja, Ole?“
„Spinnen-Lenor? Ist das Product-Placement? Waschmittelwerbung? Kriegen wir gleich noch Hummel-Persil? Und den Haspel im Geröhre, den würde ich auch gern mal drehen, wenn sich’s machen ließe.“
„Darüber müsst ihr gar nicht albern kichern. Das war ziemlich billig. Annette?“
Voran, voran! Nur immer im Lauf,
Voran, als woll es ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen,
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!
„Zombies! Das ist ne echte Zoombienummer von unserem Annettchen, hätte ich ihr überhaupt nicht zugetraut mit ihren Spitzenkragen und Perlenketten. Der diebische Fiedler Knauf… Fiedler Knauf… das war bestimmt ein Hipster.“
„Alle noch wohlauf? Wird das auch nicht zu viel für euch? Falls jemand das nicht mag, ich zwinge hier keinen, sich Gruselgeschichten anzuhören und anschließend eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln.“
„Annette, ab jetzt aber nur noch unter Vorbehalt. Ich hoffe, du kennst die Grenzen dessen, was während des Unterrichts geht.“
Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“
„Wer ist denn jetzt wieder diese Margret? Mir schwirrt schon der Kopf. Alles Moorleichen und Gespenster?“
Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär nicht Schutzengel in seiner Näh,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.
„Bleichende Knöchelchen? Was stimmt denn nicht mit deiner Fantasie? Das ist morbide! Und Moorgeschwele – darunter kann mich mir beim besten Willen nichts vorstellen.“
Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O schaurig war’s in der Heide.
„Aus? Du bist durch mit deinem Text? Okay, danke Annette. Ihr dürft auch mal klopfen. Das war ja schon eine Leistung, ein starkes Stück, hätte ich fast gesagt. Nein, Ben, kein Stück Torf. Schaurig, sicher, schauderhaft nicht. Natürlich bist du keine Goethin. Aber nett, dass du den Knaben überleben lässt, sonst hätte der Direx sicher deine Eltern einbestellt und Pfarrer Große Wegkamp einen Exorzismus durchgeführt.
Jetzt ist auch gleich Pause, aber wenn du noch schnell meine Meinung hören willst: Der Knabe im Sumpf… entschuldige, im Moor, der hat schon was. Das ist alles sehr anschaulich, man kriegt beim Zuhören richtig nasse Füße und macht sich Sorgen um den Jungen, gerade weil wir ja wissen, wie es beim Erlkönig ausgegangen ist. Ich würde es nicht gleich beim Literarischen Quartett versuchen, aber für die Schülerzeitschrift reicht es. Voll umfänglich. So, und ihr, raus jetzt, Pause. Voran, voran! Nur immer im Lauf, wie Annette es sagen würde.“
Die Ballade Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff ist zuerst am 16. Februar 1842 erschienen. Annette soll neben einem scharfen Verstand und einem außergewöhnlichen literarischen Talent auch Humor besessen haben.
wirkung
also kann auch schnee von gestern
mächtig heutig sein
sink ich doch
nach flockenfreier nacht
tief
ins resultat hinein
wie verharscht
und wie verkrustet
mag das morgen sein
Rainer Strobelt
9.2.21
bitterkraut
unter affen zu leben
wär mir vielleicht zu laut
mit schlangen einher zu züngeln
hätt ich da die passende haut
bleibe wohl bei den menschen
auch wenn sich mir die galle staut
an eckern nix zu meckern
bucheckern prasseln
ein sturm zieht auf
noch noch
kann natur verlauf
herbst muss
muss es ja
den sommern vermasseln
Rainer Strobelt, 23.9.20
Wann treffen wir drei wieder zusamm?
Um die siebente Stund‘, am Brückendamm.
Am Mittelpfeiler.
Ich lösche die Flamm.
Ich mit
Ich komme vom Norden her.
Und ich vom Süden.
Und ich vom Meer.
Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muß in den Grund hinein.
Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund’?
Ei, der muß mit.
Muß mit
Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!
Auszug aus Theodor Fontane: Die Brück’ am Tay
Szene
Deutschland
2017
Juli
Supermarkt
Ein ca. einjähriges Kind im Kinderwagen, quängelnd
Die Mutter, eingehend
Was ist denn heute mit dir?
Jetzt gehen wir nach Hause.
Ich mach dir was Leckeres zu essen.
Dann hebt sich
auch deine Stimmung
ein bisschen.
Meine Tochter brachte mir ein Foto aus Delft mit. Einige Zeilen aus einem Gedicht. Kann man ja nicht abheften, muss man ja schon mal googeln. „Nacht“, so heißt das Gedicht, das Hubert Poot über den Delfter Sternenhimmel verfasste.
Slechts ik, dus vroeg eens opgestaen / Zie ’t ryzend licht der schoone maen / Op gevels blikkeren en torens. / Zy meet het blaeu met elpe schreen; / En scheurt, in koelen moedt, met haere zilvre horens, / De donkerheid vanëen
Ein Bauer war er, Weiterlesen
leichte athletik: Launige Gedichte – das neue Buch von Rainer Strobelt ist vor ein paar Tagen erschienen. Mir hat er ein, nein zwei Exemplare geschenkt. Ich bin überzeugt, dass er viele weitere Bücher verschenken möchte, aber auch Lyriker mögen es, wenn ihre Bücher gekauft werden.
leichte athletik
Peter Segler Verlag
ISBN: 978-3931445249
Leseproben gibt es unter Rainer Strobelt
So ein Gedichtband sollte – und meine Meinung ist hier genauso maßgeblich wie die von Hans und Franz – wie eine Schachtel Pralinen genossen werden: Nicht alles auf einmal. Rainer schreibt, wie ich an anderer Stelle schon angemerkt habe, sehr kurze Gedichte. Keine Zeit ist also keine Ausrede.
Im Bücherregal stünde Rainer gleich neben August Stramm – keine schlechte Gesellschaft für einen Lyriker und ein guter Grund gleich auch noch ein wenig Stramm zu kaufen, falls der Platz neben Strobelt noch frei sein sollte. Stramms Dissertation über das Welteinheitsporto würde ich an dieser Stelle nur den ganz hart gesottenen Lesern empfehlen wollen, seine expressionistischen Gedichte hingegen… aber bleiben wir bei Rainer Strobelt. Rainer hat einen ausgeprägten Sinn für Humor, das zeigt sich nicht erst in seinem neuen Buch, hier aber ganz besonders. Er kommt aber nicht als anbiedernder Gebrauchslyriker mit zertifizierter Massentauglichkeit daher, sondern zieht das leise Lächeln vor, das Vergnügen auf den zweiten Blick.
Übrigens: Das hier ist keine Verkaufsveranstaltung, man kann die Seite auch wieder verlassen, ohne Lösegeld zahlen zu müssen.
PS: Danke an Jules vom Teestübchen Trithemius: Jetzt habe ich endlich kapiert, wie man Links nicht so tollpatschig einbaut.
Jeff Beck, ein Gitarrist, an den sich nur noch wir Silberfüchse, Graubärte und Faltenböcke erinnern, soll über Jimi Hendrix (den hoffentlich noch jeder kennt) geäußert haben, er täte genau das, was auch Beck wolle, nur könne er – Beck – das leider nicht. So geht es mir meistens, wenn ich einen Text von Rainer Strobelt lese – und sei es auch nur eine Mail. Nun hat Rainer sich darauf festgelegt, Gedichte zu schreiben, er tritt also in einer anderen Liga an. Das ist nett von ihm.
Lyrik erfährt aber nur selten die Aufmerksamkeit, die sie verdient, weshalb ich hier – also quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit – darauf hinweisen möchte, dass es bald wieder ein neues Buch von Rainer gibt. In der Zwischenzeit bietet die Seite Fixpoetry aber die Chance, Rainer Strobelt zu erlesen. Seine Gedichte sind kurz, die Zeit reicht also, um schnell mal rüber zu wechseln:
http://www.fixpoetry.com/texte/text-des-tages/rainer-strobelt/retourkutsche