Eines Morgens im Deutsch-LK

Eines Morgens im Deutsch-LK

„Okay, Annette, jetzt du.“
„Ich hab ein…“
„Etwas lauter bitte. Nein, nicht ihr. Annette, nicht ganz so leise, ja!“
„Ein Gedicht, ich habe ein Gedicht geschrieben.“
„Klar, typisch so ein Mädchending. Love, love, love und Sonnenuntergang in Pink und…“
„Danke Ben. Offenbar kennst du den Text ja schon. Kleine Kooperation zwischen euch?“
„Ich? Mit der? Niemals!“
„Dann warten wir doch einfach mal ab und geben Annette anschließend ein konstruktives Feedback, okay?“

„Darf ich bitte raus? Ich hab ein Attest. Lyrik verklebt nämlich meine Synapsen.“
„Na klar, Ole. Nimm dann bitte das Arbeitsblatt zur Wahrscheinlichkeitsrechnung mit. Das trainiert deine Synapsen.“
„Das verstößt aber so was von gegen die Menschenrechte.“
„Es gibt kein Menschenrecht auf Unfug.“

„Der Knabe…“
„Was? Annette, das ist Ole. Nicht der Knabe.“
„So heißt mein Gedicht.“
„Der Knabe?“
„Nein. Der Knabe im Moor.“
„In welchem Moor? Venner Moor?“
„Im Moor. Einem Moor oder dem Moor, wie Sie wollen. Wenn es Ihrer Phantasie hilft, es zu lokalisieren, dann gern auch das Venner Moor. Aber etwas mooriger. Kann ich jetzt?“
„Nicht so zickig, Annette. So ein „von“ im Namen ist kein Freibrief für Schroffheit.“
„Entschuldigung. Kann ich jetzt?“
„Dann mal los. Und Ruhe bitte.“

Der Knabe im Moor

O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

„Das war schön, Annette. Also mein erster Eindruck. Das Reimschema..“
„Ich bin noch nicht fertig. Darf ich weitermachen?“
„Bitte.“

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“

„Das ist der Erlkönig, der da raschelt.“
„Ben, das ist jetzt nicht nett, obwohl ich die Assoziation auch hatte. Annette, ist dir die Ähnlichkeit nicht aufgefallen?“

„Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.“

„Klar, das ist auch eine Ballade. Bei Goethe säuselt und bei mir sauset der Wind. Falls das reicht, bekenne ich mich des Plagiats schuldig. Aber vielleicht darf ich erstmal fertig lesen?“
„Na, ich hoffe mal, dass das jetzt nicht ein Erlkönig 2.0 wird!“
„We want Moor!“
„Ist ja gut, Ben. Hast du einen Farbwunsch für den Eintrag ins Klassenbuch?“
„Also. Kann ich?“

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

„Wird das noch heftiger, so ein Horror-Ding? Das ist ganz schön harter Stoff. Ich weiß nicht, ob wir da nicht Ärger mit der Klassenpflegschaft bekommen. Na, lies mal weiter. Wir müssen ja langsam fertig werden.“

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnenlenor’,
Die den Haspel dreht im Geröhre!

„Starke Bilder und diese Sprache… Dylan Thomas trifft Edgar Allan Poe. Ja, Ole?“
„Spinnen-Lenor? Ist das Product-Placement? Waschmittelwerbung? Kriegen wir gleich noch  Hummel-Persil? Und den Haspel im Geröhre, den würde ich auch gern mal drehen, wenn sich’s machen ließe.“
„Darüber müsst ihr gar nicht albern kichern. Das war ziemlich billig. Annette?“

Voran, voran! Nur immer im Lauf,
Voran, als woll es ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen,
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

„Zombies! Das ist ne echte Zoombienummer von unserem Annettchen, hätte ich ihr überhaupt nicht zugetraut mit ihren Spitzenkragen und Perlenketten. Der diebische Fiedler Knauf… Fiedler Knauf… das war bestimmt ein Hipster.“
„Alle noch wohlauf? Wird das auch nicht zu viel für euch? Falls jemand das nicht mag, ich zwinge hier keinen, sich Gruselgeschichten anzuhören und anschließend eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln.“
„Annette, ab jetzt aber nur noch unter Vorbehalt. Ich hoffe, du kennst die Grenzen dessen, was während des Unterrichts geht.“

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“

„Wer ist denn jetzt wieder diese Margret? Mir schwirrt schon der Kopf. Alles Moorleichen und Gespenster?“

Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär nicht Schutzengel in seiner Näh,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.

„Bleichende Knöchelchen? Was stimmt denn nicht mit deiner Fantasie? Das ist morbide! Und Moorgeschwele – darunter kann mich mir beim besten Willen nichts vorstellen.“

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O schaurig war’s in der Heide.

„Aus? Du bist durch mit deinem Text? Okay, danke Annette. Ihr dürft auch mal klopfen. Das war ja schon eine Leistung, ein starkes Stück, hätte ich fast gesagt. Nein, Ben, kein Stück Torf. Schaurig, sicher, schauderhaft nicht. Natürlich bist du keine Goethin. Aber nett, dass du den Knaben überleben lässt, sonst hätte der Direx sicher deine Eltern einbestellt und Pfarrer Große Wegkamp einen Exorzismus durchgeführt.

Jetzt ist auch gleich Pause, aber wenn du noch schnell meine Meinung hören willst: Der Knabe im Sumpf… entschuldige, im Moor, der hat schon was. Das ist alles sehr anschaulich, man kriegt beim Zuhören richtig nasse Füße und macht sich Sorgen um den Jungen, gerade weil wir ja wissen, wie es beim Erlkönig ausgegangen ist. Ich würde es nicht gleich beim Literarischen Quartett versuchen, aber für die Schülerzeitschrift reicht es. Voll umfänglich. So, und ihr, raus jetzt, Pause. Voran, voran! Nur immer im Lauf, wie Annette es sagen würde.“

Die Ballade Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff ist zuerst am 16. Februar 1842 erschienen. Annette soll neben einem scharfen Verstand und einem außergewöhnlichen literarischen Talent auch Humor besessen haben.

Der Tagedieb

Von Albert Letchford – File:Tales from the Arabic, Vol 1.djvu, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61330156

Wieder einmal ein Beitrag aus der Reihe „Zu Recht vergessene Jugendwerke“. Es geht hier nicht um den CVJM oder die FDJ, sondern um Texte, die ich vor  vielen Jahrzehnten geschrieben habe.

Der Tagedieb

Im Morgenland erzählt man sich bis auf den heutigen Tag Märchen und Legenden, aber auch alte Wahrheiten werden so von Generation zu Generation weitergetragen. Einst wurde mir diese Geschichte erzählt, deren Echtheit mit der Erzähler beim Barte seiner Großmutter beschwor.

Meine Geschichte ist seltsam; würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für einen jeden, der sich warnen ließe. Und dies ist sie:

In den Tagen des Hārūn al Raschīd lebte in Bagdad ein Weiser, der lange Jahre treue Dienste für den Kalifen und seine Wesire geleistet hatte und mit vielen Ehrengewändern  dafür belohnt worden war. Nun jedoch war er in Ungnade gefallen, weil er in den Ruch geraten war, mit Geistern Umgang zu pflegen, die nicht zu den rechtgläubigen zählten. Seiner Ämter und seines Ansehens beraubt, sann er auf Rache und fand – mit Hilfe jener frevelhafter Geister, mit denen er sich tatsächlich gemein gemacht hatte – einen Weg, der nur einem verwirrten Geist entspringen konnte.

Er stahl einen Tag aus der Woche –  und zwar den Montag. Anfänglich bemerkte niemand, was geschehen war, doch dann brach der Winter ein – um viele Wochen zu früh, denn das Jahr war um 52 Tage kürzer geworden. Kein Mensch konnte sich erklären, was geschehen war und als auch noch der Dienstag gestohlen wurde, begannen Männer und Frauen, Kinder und Greise zu zittern, denn ihre Lebenszeit verrann viel schneller, als sie erwarten durften. Weiterlesen

Falschmützer

Eigenes Foto

Es begann schon dunkel zu werden und meine Eltern wollten aufgeben. Typisch Eltern. Als meine Schwester verloren gegangen war, also nicht verloren, sondern bloß nicht nachhause gekommen war, konnten sie vom Suchen einfach nicht genug bekommen. Erst am Fenster gewartet, dann unruhig geworden und schließlich los. Den üblichen Weg meiner Schwester. Aber da war sie nicht. Nicht auf der Straße und nicht im Wald. Bei ihrer Freundin war sie und hatte die Zeit vergessen. Und alle waren froh, als sie tralala wieder da war, vergnügt und ohne schlechtes Gewissen. Aber die kleine Schwester, die kriegte natürlich nicht den Arsch voll.

Es war weit. Obwohl Entfernung, Größe und Zeit subjektiv sind und ein Weg für kurze Beine länger ist und eine halbe Stunde mindestens eine Stunde dauert, wenn man sieben oder acht Jahre alt ist, behaupte ich, dass mein Schulweg verdammt lang war. Erst das kleine Stück bis zur Straße, dann die Bohlostraße hinunter, bis die Bebauung aufhörte und auf der rechten Seite nur noch ein paar Gärten lagen. Vorbei an dem Hof auf der linken Seite, bei dem wir Eier holten. Ein Stückchen weiter stand ein altes Fachwerkhaus, das vermutlich eine ländliche Schönheit war, uns aber nur deshalb etwas bedeutete, weil gleich dahinter eine Tollkirsche wuchs und blühte und Früchte trug.

Eine Tollkirsche. Gift und Gefahr und Tod! Was Tod bedeutete, das wussten wir, denn immer mal wieder lag ein toter Vogel auf unseren Wegen, der genauestens betrachtet, aber wegen des Leichengifts auf keinen Fall angefasst werden durfte. Wer tot war, wurde beerdigt. Ordnungsgemäß mit einem Kreuz aus kleinen Zweigen und ein paar Gänseblümchen. Die gab es ganzjährig.

Früher, als die Welt noch so groß war und die Zeit stillstand, wenn man nicht aufpasste. Große Ferien, Weiterlesen

Ausgezählt

Aus. Vorbei. Das war’s.

Mein letzter Arbeitstag liegt hinter mir. Ein frei gewählter Abschied. Nein, es fällt keine Last von mir ab, meine Arbeit habe ich selten als Mühe empfunden, oft hat sie sogar Spaß gemacht. Dennoch: Es ist gut so. Jetzt will ich tun, was ich tun will, meinen Wecker stellen, weil ich aufstehen will und ein Buch zu Ende lesen, auch wenn es spät wird.

Noch fühlt es sich wie Urlaub an.

Seltsam war es schon, Dinge ein letztes Mal zu tun. Den letzten Eintrag im Klassenbuch vornehmen, das letzte Mal die Tafel putzen, letzte Fotokopien machen. Das letzte Mal den Weg zur Bahnhaltestelle Münster-Zentrum-Nord gehen. Wehmut? Nein. Keine Spur. Ferien für immer. Ach, bei der Gelegenheit habe ich auch gleich das Rauchen aufgegeben. War so geplant. Letzter Arbeitstag, letzte Zigarette.

Ich gehe einkaufen. Nein, das gehört Weiterlesen

Der Griff zur Zigarette

Nichtraucher! In den 50er-60er Jahren galt das fast als Beleidigung. Die Schlote rauchten und Erhards Zigarren symbolisierten den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Landes. Rauchen war dufte. Cool, würden heutzutage meine Töchter sagen und ich hatte es noch nicht einmal probiert, konnte nicht mitreden – dabei war ich schon elf. Mein Entschluss stand fest: Wenigstens eine Zigarette würde ich rauchen! Zugegeben, ich sah diesem Initiationsritus mit einem flauen Gefühl in der Magengrube entgegen, immerhin hatten mich Helmut, Charles, Martin und Dieter, die Pausenclique vom Schulhof, ganz schön unter Druck gesetzt, bis ich Weiterlesen