Das wird schon gehen

Das wird schon gehen

Habe ich von unserem Urlaub in einem Ferienhaus an der holländischen Küste erzählt? Nachts, bei offenem Fenster, hörten wir die Brandung der Nordsee. Also nicht gleich die ganze Nacht, zwischendurch schliefen wir schon auch mal. Morgens war die Brandung dann nicht mehr zu hören, obwohl die Nordsee, davon haben wir uns mehrfach überzeugt, immer noch da war. Menschen sind einfach ziemlich laut. Wir hatten morgens aber auch anderes zu tun, als der Brandung zu lauschen. Wir frühstückten nämlich.

Wäre dieser Text ein heiß-kalt-Spiel, würde es jetzt wärmer werden, wir nähern uns dem Kern und der Ursache dieses Textes. Mein Stuhl stand ganz links am Tisch, von der Außenwand nur noch durch einen Heizkörper getrennt. Einen kalten Heizkörper. Wären meine Tischmanieren manierlich, hätte ich beide Hände, aber nicht die Unterarme, auf den Tisch gelegt, eine Haltung, die für mein Empfinden etwas angriffslustig aussieht, gäbe es diesen Text nicht. Mein linker Arm suchte außerhalb des Tisches Halt. Ich muss das leider eingestehen, obwohl ich ansonsten ein Gegner von Armlehnen bei Stühlen bin. Da war aber nur dieser kalte Heizkörper und niemand kann gemütlich frühstücken, während der linke Unterarm auf einem kantigen kalten Heizkörper liegt. Also suchte ich nach einer Lösung für diese unangenehme Lage und fand sie fast augenblicklich: Der linke Arm gehörte in eine Schlinge. In der Folge hätte ich natürlich während der Mahlzeiten meine linke Hand nicht mehr frei bewegen können, hätte also eine Art Verlängerung für die Gabel gebraucht, um Kartoffeln vom Teller zu befördern oder die Zeitung umzublättern.

Das war’s, das war der Moment, um den es geht, der Moment, in dem ich unser Universum verließ und in ein paralleles Universum eintauchte. Wir alle haben von der Theorie der Multiversen gehört, aber ausgerechnet ich muss mich daran versuchen, sie in meinen Text einzubauen. Für meine Zwecke reicht allerdings die Idee, dass alles immer da ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren gleichzeitig. Was die Wissenschaft aber nicht bedacht hat, Autoren wie Kurt Vonnegut aber sehr wohl, z. B. in seinem Roman „Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug“, ist, dass wir uns durch ein Stolpern am falschen Ort oder einen verdrehten Gedanken plötzlich in einem dieser parallelen Universen wiederfinden.

Ich jedenfalls landete in einem nicht genau zu terminierenden Teil meiner eigenen Vergangenheit im Keller meines Vaters und es war die Idee der Schlinge um den Arm, die mich in die Vergangenheit zog, denn so und nicht anders hätte mein Vater dieses Problem gelöst.

Der gerade angesprochene Keller hat sich in meiner Erinnerung längst von jeglicher bestehender Architektur gelöst und existiert als eigene nicht materielle Einheit fort, auch wenn das Haus oder die Häuser, in denen es den Keller gegeben hat, nicht mehr bestehen sollten.

Da ist ein Raum mit einem schwarzen Bakelit-Lichtschalter gleich neben der Brettertür, der von einem ewigen Licht, das von einer in einem Drahtkäfig steckenden Glühbirne ausgeht, völlig unzureichend beleuchtet wird, so dass große Teile des Raumes im Dunklen bleiben und verborgen bleibt, was dort liegt oder lag, Kartoffeln und Eierkohlen, Brikett und Einmachgläser zum Beispiel.

Zwei kleine Fenster über einem Arbeitsplatz voller Werkzeug, voller Schubladen und Kisten, Dosen und Gläsern mit Schrauben und Nägeln, mit Bändern und Ketten, Teilen, deren Zweck in Vergessenheit geraten ist, denen aber eine neue Verwendung zugedacht ist. Farbtöpfe, Lacke und Pinsel, Terpentin und Rostlöser, Fahrradreifen, Kabel, Lüsterklemmen, ein alter Kinderschlitten, Blumentöpfe und Schaufeln, Spaten, Harken und Rechen, Besen unterschiedlicher Feinheit, Eimer, Kannen, Kästen voller alter Zeitungen, in denen etwas verpackt sein könnte und über all dem Konstruktionen aus Kanthölzern und Leisten, Stangen und Ösen und Haken, die sich unter der Decke entlang in den Raum ausbreiten, etwas halten, etwas heben, etwas ziehen, sich selbst sichern und die enden an Pfosten, verschraubt und verklebt, umwickelt mit Teppichband und Plastikschnüren.

Der Keller war der Ort, an dem mein Vater große und kleine Probleme anging, mit harten, schwieligen Fingern, deren Sehnen bei  Arbeitsunfällen durchtrennt worden waren, mit einem großen Plan, das Ziel aus den Augen verlor oder mit untauglichen Mitteln, die durch den großzügigen Einsatz anderer, kaum weniger geeigneter Mittel zu wackligen, wenig vertrauenerweckenden, aber über Jahre benutzten Provisorien führten.

Früher habe ich mich oft gefragt, was ich von meinem Vater habe, worin ich ihm ähnele, denn es ist nicht das Aussehen oder die Größe, die Haarfarbe, soweit man noch davon sprechen kann, aber inzwischen weiß ich, dass es seine Art war, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, auch das Verdrehte, das hartnäckige Herumschrauben und noch einen Umweg machen, um dann hoffentlich irgendwo anzukommen. Nur brauche ich dafür keinen Keller, sondern meinen Schreibtisch.

Meine Frau legte ein Kissen auf die Heizung und das Problem war gelöst.

Bild: Gustav Wentzel, Public domain, via Wikimedia Commons

Radio Rock´n´Roll

Radio Rock´n´Roll

Wo sind die Erinnerungen, wenn wir uns nicht gerade mit ihnen beschäftigen? Ja, ich habe schon davon gehört, dass Informationen vom Kortex, von uns Laien im Alltag als Großhirnrinde bezeichnet, zum Hippocampus, dem  Großhirn, geleitet werden und dort offenbar herumliegen, bis sie in umgekehrter Richtung wieder abgerufen werden. Höre ich Großhirnrinde, denke ich an etwas Knuspriges, dunkelbraun vielleicht und Hippocampus klingt für mich nach einem  großen Platz voller Flusspferde, ein recht schönes Bild, an das ich mich bestimmt noch lange erinnern werde, wobei wir wieder beim Ausgangspunkt sind.

Da ich noch nicht nachgeschaut habe – und auch in Zukunft nicht die Absicht habe, niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen, so funktioniert das mit dem Erinnern, ich rufe überhaupt nichts ab und trotzdem feuert der Hippocampus aus vollen Rohren. Was für ein kriegerisches Bild bei einem Kriegsdienstverweigerer. Will ich aber wissen, wie dieser Typ hieß, der mal bei  mir auf der Matte stand, um sich zum Thema Kriegsdienstverweigerung beraten zu lassen, drehen sich die Flusspferde weg und zeigen mir nur ihr mächtig breites Hinterteil.

Da ich noch nicht nachgeschaut habe, soweit waren wir gerade, weiß ich natürlich nicht, wie die Speicherung physisch aussieht, aber ich mache mir da keine Illusionen. Im Normalfall dürfte das so aussehen wie bei der Speicherung von Strom. Den sieht man auch nicht zittern und beben, glimmen und gespannt, vielleicht sogar hochgespannt auf den Einsatz warten. Also werden die Erinnerungen auch nicht in mit Thumpnails oder Icons oder gar mit farbverschiedenen Prägeetiketten markierten Schubladen in grauen Metallregalen herumliegen.

In der BWL spricht man von chaotischer Lagerhaltung und meint damit, dass es keinen vorgegebenen Lagerort für bestimmte Dinge gibt, sondern etwas dort eingelagert wird, wo gerade Platz ist. Finden lässt es sich dann nur, wenn an anderer Stelle genau Buch darüber geführt wird, wo etwas hinterlegt ist. Ich weiß nicht, ob das für das Gedächtnis auch so zutrifft, bei mir scheint es sich eher um eine Art aus dem Ruder gelaufenes Tischtennismatch zu handeln, bei dem es von allen Seiten Bälle hagelt, die manchmal auf einen Schläger treffen, manchmal irgendwo im Dunklen verschwinden und manchmal Begeisterungsstürme auslösen. Also bei mir, ich verzichte meistens darauf, vor Publikum Erinnerungen auszupacken. Das ist ja wie mit gut verpackten Geschenken, man weiß nicht, was drin ist und ob  man sich darüber freuen wird.

Mit anderen Worten: Keine Ahnung, wo das alte Zeugs herumliegt, von dem man sich, selbst wenn man es wollte, nicht trennen kann und das hervorpurzelt, wenn man ganz was anderes sucht. Gestern jedenfalls machte ich mich mal wieder auf den Weg auf den Erinnerungshügel. Ich weiß, das klingt wie ein dürftig begrünter Huckel in der Landschaft, vielleicht auf einem Friedhof, mit Ausblick auf viel Thuja und Buxus. Ist aber eine Lebensphase, an die wir uns gut erinnern können, etwa vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. Bei mir hatte das mit Musik zu tun, mit einer Erinnerung daran, wann ich eigentlich zum ersten Mal Popmusik, genauer Beat gehört habe. Vermutlich war das im Radio und deshalb wird sich das auch kaum ermitteln lassen. Erst waren da nur Schlager und volkstümliche Musik. Mein Vater liebte Ernst Mosch und seine Original Egerlänger Musikanten  und die Oberkrainer. Zwischendurch die Musik der neunzehnhundertzwanziger Jahre und beliebte Operettenmelodien.

Das Radio war gefühlt immer an. Ich weiß nicht, ob ich kurz gezuckt habe, als ich die Beatles zum ersten Mal hörte. Es dauerte jedenfalls bis 1965, bis ich meine erste Single kaufte. Vorher – und das wollte ich erzählen – schenkten mir meine Eltern zwei Platten. Die erste hieß „Original Liverpool Sound“ und stammt, wie ich gerade recherchiert habe, aus dem Jahr 1963. Ich war zehn Jahre alt, Glück gehabt, noch gerade den Erinnerungshügel erwischt. Außerdem werde ich die Platte, eine EP, jetzt sorgfältiger aufbewahren. Im Safe, neben den Bitcoins, die mir der freundliche Herr an der Haustür für 78.000 € verkauft hat, zum Schnäppchenpreis und sie passen auch in den Münzschlitz bei den Einkaufswagen beim Aldi. Glitzern nicht mal, das hätte man für so viel Geld schon erwarten können. Also der Original Liverpool Sound ist offensichtlich ein Sammlerstück, Musik, die man kaufen, aber auf keinen Fall hören möchte. Beim Deutschen Schallplattenclub als Lizenzausgabe des Decca-Originals erschienen. Ich kann jetzt nicht mehr weiterschreiben, muss dringend den Wert meiner anderen alten Schätzchen, was für einen neuen, silbernen Klang dieses Wort plötzlich bekommt, überprüfen.

Keiner da

Photo by Apostolos Vamvouras on Unsplash

Da hätte ich mich fast vergessen, sagte der Mann. Was für eine interessante Idee, mal nicht den Schirm oder den Schal zu vergessen, sondern gleich sich selbst. Nach ein paar Stunden auf der Parkbank oder in der Bahn fällt es mir auf. Ich habe mich vergessen. Jetzt bin ich gedanklich längst zuhause, habe mich aber irgendwo vergessen. Vielleicht spricht mich jemand an, fragt mich, was ich denn bei Regen auf der Bank mache, aber ich reagiere nicht. Ich bin ja abwesend, also schon da, aber eben vergessen. Man sammelt mich ein, obwohl, nein, ich bin ja nicht zerstreut, das wäre noch viel schlimmer, ich habe mich ja nur vergessen.

Das soll es ja geben, natürlich nicht ständig, die meisten vergessen sich ja nur fast, also die kehren noch mal um, tun gedanklich einen Schritt zurück ins Restaurant und nehmen die Jacke von der Garderobe und den vergessenen Menschen von Tisch 12 wieder mit. Mir ist das leider nicht passiert. Ich habe mich vergessen. Möglicherweise nimmt mich jemand mit, für das  Sofa. Ein sehr einsamer Mensch, dem es nichts ausmacht, dass ich nur Weiterlesen

Berlinbesuch

Foto: Elfie Voita

Es gibt, habe ich gehört, Städte, die man liebt, weil sie so schön sind. Amsterdam zum Beispiel. Es gibt auch die Stadt, die man um seiner selbst willen liebt, weil sie Heimat ist und so vertraut wie die eigene Haut, die man, auch wenn sie mal Pickel oder Wunden hat, doch nicht verlässt. Das wäre ja mal eine ganz neue Definition von Reisen: aus der Haut fahren!

Dann sind da noch die Städte, die man gar nicht richtig sehen, nicht richtig spüren kann, weil sie so aufgeladen sind mit Geschichte, mit Erinnerungen, mit Bildern, die sich über die reale Stadt legen und sie fast unsichtbar machen. Städte, in denen man nicht zuhause ist und nicht zuhause sein kann, weil es sie überhaupt nicht gibt, weil es sie so, wie man sie im Kopf hat, nicht gibt und vielleicht auch nie gegeben hat.

Berlin ist so eine Stadt. Amsterdam nicht. Nicht, weil Amsterdam nur eine schöne Oberfläche, ein touristisches Gesicht besäße und keine Tiefe, oh doch, und ein bisschen davon weiß ich und kenne ich, aber es ist so schön, dass das allein schon reicht, dass ich immer wieder nur hinsehen muss, stehenbleiben muss und gucken und mich umdrehen und schau mal da und sieh mal dort sagen und fotografieren muss.

Berlin, da muss ich eigentlich überhaupt nicht hin. Das kenne ich schon, kannte ich, bevor ich da war und, obwohl ich nichts finde und überhaupt nicht weiß, was eigentlich wo ist, denke ich, so wird es sein und dann ist es auch so. Dagegen kann die Stadt überhaupt nicht an. Klar, sie kann mich begeistern, aber das Weiterlesen

Papa

Ephraim Moses Lilien / Public domain

Ist das Verlieren eine Augenblickssache, etwas, das in einem Moment passiert, oder ist es auch ein Prozess, der andauert und dessen Ergebnis nicht darin besteht, nicht immer darin bestehen muss, das etwas gänzlich weg ist, sondern das da noch ein wenig, ein kleiner Rest, übrig bleibt, einer, der den Verlust markiert?

Erinnerungen, die wie Live-Fotos wirken, die nicht nur den Augenblick festhalten, in dem der Auslöser gedrückt wurde, sondern 1,5 Sekunden davor und danach. So erinnere ich mich an meinen Vater Franz Willibald Voita. Eine Reihe, nicht viele, dieser kurzen Sequenzen. Eine Art Fotoalbum, dessen einzelne Bilder vertraut sind, die aber auch längst an Farbe verloren haben und zwischen denen keine Beziehungen bestehen, die keine Geschichte miteinander verbindet und die ich auch nicht Weiterlesen

Wieso denn das?

Von Jens Burkhardt-Plückhahn - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28002271

Ernst Barlach: Schwebender; Jens Burkhardt-Plückhahn – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28002271

Was fällt dir ein, wenn ich Güstrow sage? frage ich.

Uhrenvergleich? Kennt man nicht mehr. Es erinnert sich auch kaum noch einer daran, dass nicht alle Uhren die gleiche Zeit anzeigten. Nicht, weil die Batterie zu schwach war, sondern weil das „beim letzten Ton des Zeitzeichens war es genau…“ schon zu lange her war, zu lange nicht die Uhr nachgestellt worden war. Ja. Uhren wurden noch von Hand gestellt und nicht per Funk aktualisiert. Deshalb glich man, wollte man sicher gehen, dass alle zur gleichen Zeit etwas taten, vorher die Uhren ab. Auch Erinnerungen müssen, ähnlich wie die Uhrzeit, ab und an mal abgeglichen werden,

Erinnerst du dich noch? Noch! Dieses ’noch‘ macht es schon klar, jetzt noch, nächstes Mal auch noch, aber dann, irgendwann in Zukunft eben nicht mehr. Vielleicht aber auch schon jetzt nicht mehr. Und dann erinnert sie sich an Güstrow, aber vielleicht an etwas ganz anderes, möglicherweise an die Güstrownomie, oder wie die Gaststätten dort heißen mögen, im tiefen Osten. Und mir fällt eine doofe Kreuzung ein, vierspurige Straße, ein paar Bäume auf der anderen Seite. Wenn ich mich bemühe, kriege ich diese Erinnerung vielleicht sogar noch schärfer gestellt. Weiterlesen