Die Bankenkrise

Die Bankenkrise

Meine Frau hatte eine Bank gewollt. Gewollt klingt so grob, so nach „Ich will aber“, so ist meine Frau aber überhaupt nicht. Sie ist mehr der „Wäre es nicht schön, wenn wir da eine Bank hätten?“-Typ. Sie möchte etwas, aber man kann ja schlecht sagen, meine Frau hatte eine Bank gemöchtet. Hätte eine Bank gemocht? Hatte sich eine Bank gewünscht? Wünscht man sich etwas von sich selbst? Man wünscht doch etwas von jemanden, von jemandem, der Wunschpunkte hat wie das Sams oder Geld, nein, nicht wie ich. Das fängt ja schon mal gut an. Jedenfalls: Wir haben jetzt eine Bank.

Der Wunsch traf uns im Herbst, zu einer Zeit, in der die Gartenausstatter und Terrassenbestücker sich in die Innenräume zurückgezogen haben und Feuerkörbe, Heizpilze oder etwas in der Art anbieten. Nichts, was unser, also das Herz meiner Frau begehrte. Manche hatten eine Bank, also tatsächlich eine, da hieß es dann, friss oder stirb. Wobei eigentlich nur Holzwürmer vor dieser grausamen Wahl stehen sollten. Wir mochten die Bank nicht, also nicht auf die Art, wie Holzwürmer sie vielleicht nicht gemocht hätten, sie gefiel uns nicht und so machten wir uns auf eine lange Reise durch das herbstliche Münsterland, das ich jedem empfehlen kann, auf dessen ausführliche Beschreibung ich hier aber verzichte.

Was soll’s, ich versuche gar nicht erst, künstliche Spannung aufzubauen, ich habe es ja schon verraten: Wir fanden eine Bank, die unseren Vorstellungen entsprach und einige Zeit später wurde sie auch geliefert. Eine große, massive Bank, richtig aus Holz, schwer und gemacht aus artgerecht gehaltenem Holz, das Zeit hatte zu reifen und zu gedeihen und schließlich, ach, ich mag es mir nicht ausmalen, was da wo passiert sein muss, damit unsere Bank glatt gehobelt und geschmirgelt, mit einem komfortablen Polster versehen bei uns… nein, nicht im Garten, sondern zunächst unter einem Vordach landete. Es gab nämlich einen Flecken unter einer großen Eiche, der geradezu nach einer Bank rief, einen Ort, warm im Frühling, schattig im Sommer, geschützt im Herbst und im Winter… aber wer will im Winter schon auf einer Bank sitzen? Dieser Ort war wie für die Bank gemacht, denn die Eiche mit ihrer breiten Krone hatte dafür gesorgt, dass dort kein Grashalm ohne massive gärtnerische Unterstützung existieren konnte.

Damit die feinen Beinchen unserer neuen Bank nicht auf der unangemessen schmutzigen Erde stehen mussten, wandten wir uns an einen Gärtner, der uns einen Entwurf machte, wie unser Garten künftig um die Bank herum angelegt werden könnte. Bis auf die Palmen, den Teich, die weißen Kieswege und die kleinen Brücken akzeptierten wir seinen Entwurf und ließen eine angemessen große Fläche pflastern.

Hatte ich meine Bedenken schon erwähnt? Ich bin mir sicher, schon zu Beginn, also vor dem Kauf der Bank, auf einen kleinen Nachteil des bevorzugten künftigen Standorts des Holzmöbels hingewiesen zu haben: Die Tauben, die auf den Zweigen der Eiche über genau dieser Stelle zu sitzen pflegen, wie sag ich das jetzt, sitzen eben nicht nur dort, sondern lassen, was sie nicht mehr halten wollen oder können, fallen. Oft und reichlich. Die gepflasterte Fläche veränderte dementsprechend rasch ihre Farbe von einem hellen Betongrau zu einem Taubenkackeweiß, später dann zu Schmutzigbraungrauschwarz.

Völlig unmöglich, unsere neue Bank, von der wir noch jeden Tautropfen sorgfältig abgetupft hatten, unter das Taubenklo zu stellen. Was sag ich Klo, ein Donnerbalken war das im wahrsten Sinne des Wortes, der von mehreren, mindestens aber vier dicken und dickfelligen Tauben genutzt wurde, Tauben, die weder auf Zurufe noch auf Gesprächsangebote reagierten. Kann ein Federtier dickfellig sein? Falls nicht, braucht es unbedingt einen Begriff für das hüftsteife Herumgewackele, das lahme, raschelnd, klatschende Auffliegen, das monotone Gerufe… ja, ich weiß, dass Tauben angeblich gurren, aber was ich da höre sind schlechte Kuckucksimitationen, die mit erschütternder Ausdauer vorgetragen werden.

Nein, vergiften war von Anfang an keine Option. Auch wenn sich die Welt um uns verändert hat, wir lehnen auch den Einsatz von Schusswaffen gegen die Biester ab. Vergrämen mit irgendwelchen Stoffen, wahrscheinlich Löwenkot, lehnen wir auch ab, unsere, ich sag schon unsere, als würden sie zur Familie gehören, also unsere Wühlmäuse waren auch resistent gegen alles, da werden Tauben doch nicht nachgeben, nur weil wir ein paar Euro für eine besondere Duftnote springen lassen.

Der letzte Tipp, den wir bekamen, hieß Lebendfalle. Ich versuche gar nicht erst, die Technik zu beschreiben, die dazu führen soll, dass die Taube, also jedes Mal genau eine, in den Gitterkasten wackelt und dort bleiben muss, bis wir sie wieder in die Freiheit entlassen. Weit weg von hier. Tauben sollen einen ganz hervorragenden Orientierungssinn haben, es ist also anzunehmen, dass sie, wenn wir sie, sagen wir mal nach Bielefeld bringen würden, schneller wieder hier wären, als wir das schaffen könnten, wegen der Luftlinie und dem Fehlen von Staus. Aber meine Frau ist demnächst Pensionärin und dann können wir richtig weit weg fahren. Die Frage ist nur, ob wir Bock darauf haben, Tauben mitzunehmen. Vielleicht suchen wir uns einfach nur Urlaubsorte mit schönen Holzbänken.

China Shopping (2)

China Shopping (2)

Die Zeit verging. Ich wurde größer. Und älter. In der Schule sagte ich Kina, so, wie mein Vater das aussprach, aber der kam aus dem Südosten. Nicht aus Südostchina, sondern aus dem Sudetenland und die sprachen eben seltsam. Dann entstand die Pingpongdiplomatie und die Idee vom Wandel durch Handel. China produzierte Billigkram für unsere Märkte und begann, unsere hochwertigen und teuren Produkte zu importieren.

Dieser ganze bunte Plastikschrott, Kirmesware, für nichts zu gebrauchen: Das war Chinaware. Nicht mal so seltsam hässliche Autos, wie die Japaner sie uns zu verkaufen versuchten. Und dann kamen die Medikamente aus China und die Solarzellen und die Handys und eigentlich alles, was sich massenhaft produzieren ließ. Ach ja, zwischendurch bekamen wir Telefon, irgendwann auch Internet und die Versandhäuser konnten einpacken, weil Amazon alles  schneller und billiger konnte. Der rosarote Verbraucherhimmel war erreicht. Niemand schrieb uns mehr vor, was und wo wir zu kaufen hatten. Alles war Tag und Nacht verfügbar, das Wort Öffnungszeiten klang wie Postkutsche und Telefonvermittlung. Containerschiffe brachten einen nicht abreißenden Strom von Zeugs über die Meere und wir konnten gar nicht so schnell wegwerfen, wie wir kaufen wollten und sollten.

Irgendwer wies darauf hin, dass es auf das Klima keine Garantie gäbe und dass es eine gute Idee wäre, das 1,5 Grad Ziel einzuhalten, aber wir hatten gerade andere Ziele, 20 Prozent Rabatt zum Beispiel oder 3 Prozent Wachstum oder was auch immer.

Während wir also gut zu tun hatten, begab es sich, dass auch weniger seriöse Anbieter ihre Geschäfte über das Internet zu machen begannen. Webshops entstanden, die mit aktuellen Produkten und attraktiven Preisen, auf die es auch zufällig gerade jetzt noch einen Sonderrabatt gab, nach Kunden fischten, die noch an das Gute glaubten.

Wie leicht es sich doch bestellt und wie groß die Enttäuschung ist, wenn, was schließlich nach langer Zeit aus China geliefert wird, mit der bestellten Ware nicht einmal Ähnlichkeiten aufweist! Okay, es ist Kleidung, der Pullover ist als Pullover erkennbar, die Jacke eine Jacke, aber Modell,  Material, Farbe und Größe müssen irgendwo auf hoher See abhandengekommen sein. Nun kennen wir unsere Verbraucherrechte, gerade im Onlinegeschäft, ja, wir versuchen inzwischen schon, sie auf den stationären Handel zu übertragen. Innerhalb von 14 Tagen lässt sich so ein Problem bereinigen. Rücksendung, Rücktritt, irgendetwas muss da ja gehen. Nur, dass der Händler nicht mitspielt, der sitzt nämlich in China und möchte die Ware auf unsere Kosten zugeschickt bekommen, um uns dann den Kaufpreis zu erstatten. Für alle, die nicht regelmäßig nach China liefern: Es ist teuer, etwa die Hälfte des Kaufpreises.

Spätestens jetzt beginnt man sich die Foren anzusehen und stellt fest, dass man zwar dumm aber nicht allein ist. Die Geschäftsidee: Ansprechende Ware zu einem günstigen Preis anbieten. Die Zahlung erfolgt wie üblich im Voraus. Dann schickt man irgendetwas, egal was, billig muss es sein. Der enttäuschte Kunde hat nun die Wahl, dieses Zeug zu akzeptieren oder auf eigene Kosten zurückzuschicken und in der Konsequent einen Verlust von fast 50 Prozent zu akzeptieren, in Wahrheit von 100 Prozent, denn was er erhielt, ist nichts wert.

Okay, man schreibt also den Händler an, der irgendwo in Deutschland jemanden dafür bezahlt, freundliche Mails mit unfreundlichen Botschaften zu verschicken. Behalte den Kram und du bekommst 25 % Rabatt, später sogar 50 Prozent. Wenn ich richtig rechne, bleibt da immer noch ein Verlust von 50 Prozent. Aber klagt man gegen ein Unternehmen in China? Wo ist eigentlich der Gerichtsstand, gilt chinesisches Recht, deutsches Recht oder internationales Handelsrecht? Wie hoch können die Kosten werden und marschieren dann die Roten Garden hier ein? Falls es die noch gibt!

1,5 Milliarden Menschen leben in China. Wenn die chinesische Spitzbubenquote auch nur ungefähr der unsrigen entspricht, dann gibt es in den unendlichen Weiten des Internets noch jede Menge Chancen auf Abenteuer, auf Produktpiraterie, Halsabschneiderei und Abzocke. Wie ein Freund einmal sagte: Jeden Morgen steht ein Dummer auf.

Wir haben uns mit dem Zahlungsdienstleister in Verbindung gesetzt, das Problem gemeldet und heute, einen Tag, nachdem ich damit begann, diese Geschichte zu erzählen, gibt es ein Happyend. Wir bekommen den Gegenwert für die Ware in Glückskeksen.

China-Shopping (1)

China-Shopping (1)

Als ich ein Kind war, kauften wir bei Ischebeck ein, das war der Lebensmittelladen in der Nähe. Was es dort nicht gab, kauften wir in der Stadt. Da gab es Kaufhäuser und Warenhäuser und überhaupt mehr Geschäfte, als mir lieb war. Also nicht nur für Modellautos von Siku und Wiking, einen neuen Karl-May-Band und eine Brühwurst mit Senf und Brötchen, sondern auch für Kleidung, Bügeleisen und Suppenschüsseln. Das dauerte alles so lange, so lang konnte überhaupt keine Wurst sein. Mal abgesehen davon, dass die Wurst ohnehin eher dick als lang war.

Manchmal – und das war aus meiner kindlichen Sicht deutlich praktischer – wurde auch bestellt. Nicht online natürlich, auch wenn Konrad Zuse schon den ersten Computer gebaut hatte. Meine Eltern hatten nicht mal Telefon, sie kannten nicht mal jemand, der Telefon gehabt hätte. Ans Internet war noch nicht zu denken, unsere Phantasien drehten sich, wenn es um das Jahr 2000 ging, um fliegende Autos und den Kontakt zu Außerirdischen. Das Jahr 2000 war mächtig weit weg damals, okay, das ist es inzwischen auch schon wieder. Bestellen bedeutete also, einen Katalog durchzublättern und, hatte man gefunden, was das Herz begehrte, Größe und Farbe zu bestimmen, gern auch mal die Zahl der Raten, wenn man auf Kredit kaufte und das war bei Otto, Quelle, Neckermann und Bader Teil des Einkaufsvergnügens.

Bestellung abschicken, warten. Lange warten. Wochenlang. Gefühlt jahrelang. Dann kam das Paket und manchmal war drin, was man bestellt hatte, manchmal war etwas nicht lieferbar und manchmal passte, was so sorgfältig ausgesucht worden war, dann doch nicht. Bei den Lieferzeiten konnte es schon mal passieren, dass Kinder aus Klamotten rausgewachsen waren, die sie noch nicht einmal bekommen hatten. Dann also zurückschicken. Mit dem Paket zur Post in der Stadt. Weil: Ein Auto hatten wir natürlich auch nicht.

An die Zahlungsmodalitäten erinnere ich mich nicht mehr genau. Anfangs hatten meine Eltern kein Bankkonto. Sowas brauchte man auch nicht, weil der Lohn bar ausgezahlt wurde. Bei der Sparkasse hatte man ein Sparbuch. Ich auch, praktisch gleich nach der Anzeige meiner Geburt eingerichtet. Fünf Mark von der Sparkasse als Startkapital, glaube ich zumindest. Ich nehme an, dass meine Eltern Bareinzahlungen auf das Konto des Versandhauses leisteten, bis es später üblich bzw. notwendig wurde, ein Lohn- und Gehaltskonto einzurichten.

Was es nicht in der Stadt gab und was nicht im Katalog stand, das gab es praktisch nicht. Vielleicht in Amerika.. Die Japaner waren die gelbe Gefahr, die uns alle bedrohte, obwohl sie keine Kommunisten waren und auch keine Atombombe hatten. Aber sie bauten Transistorradios, diese kleinen, zerbrechlichen Teile, vermutlich aus Bakelit, mit denen man überall Radio hören konnte. Obwohl es noch lange dauern sollte, bis es auch einen Grund geben würde, Radio zu hören, denn zu der Zeit, von der ich gerade erzähle, gab es eigentlich nur Nachrichten, Operettenmelodien und wenn es ganz verrückt kam, die Musik aus den wilden Zwanzigern. Mein kleiner grüner Kaktus. In China gab es nur Mao, Kommunisten, seltsam uniformierte Menschen und zu wenig Reis. Das sollte sich ändern.

Lose Endchen

Lose Endchen

 

Ich habe wieder nichts geträumt. Dabei läuft die Zeit. Ich mag überhaupt nicht mehr wach sein, damit vergeude ich nur wertvollen Schlaf. Dabei klang die Aufgabe so einfach. Einen Traum aufschreiben. Babyleicht. Vielleicht habe ich ja was geträumt, aber wenn, dann in einer Schlafphase, die dem Bewusstsein entzogen war. Die Familie sieht mich mit großen Augen an und man erinnert mich an frühere Träume, die ich zum Besten gegeben habe. An die erinnere ich mich auch nicht mehr. Eine Art Traumamnesie muss das sein.

Ich habe alles versucht. Zettel und Stift auf den Nachttisch, das Nachtlicht aufgeladen, das ist so ein USB-LED-Zeugs. Von den drei Wörtern könnte ich nur Zeugs erklären. Glaube ich jedenfalls. Lenkt aber nur ab. Das Kopfkissen etwas erhöht. Oder ist das falsch? Gibt es eine optimale Position für das Träumen und ist das zugleich die optimale Haltung für das Erinnern an das Geträumte? Ich kann das jetzt unmöglich recherchieren, dafür habe ich einfach keine Zeit.

So früh war ich lange nicht  mehr im Bett, ich bin schon super ausgeschlafen, diese morgendlichen Phasen, in denen man nicht mehr schläft und noch nicht ganz wach ist, habe ich jetzt schon um halb vier und um fünf könnte ich frühstücken. Ich kann mich aber nicht auf die Zeitung konzentrieren, weil ich immer noch hoffe, das Endchen eines verlorengeglaubten Traumes aufspüren zu können. Nichts. Alle meine Endchen sind substanzlos, keine Musterländer Mettendchen, die Geschichten von Erbsensuppe und Grünkohleintopf erzählen könnten.

Das Lesen habe ich aufgegeben. Ich lasse mir nur noch vorlesen, höre mit geschlossenen Augen zu Weiterlesen

Ein Elfchen

Ein Elfchen

Traumwelten

Fremd vertraut

Mit allen Sinnen

Ohnmächtig im magischen Bilderrausch

Seelenkino

Mein Versuch, ein Elfchen zu verfassen. Das Elfchen ist eine recht einfache Form der Gestaltung. Ein Wort in der ersten Zeile, zwei in der zweiten, drei in der dritten, vier in der vierten und dann wieder ein Wort in der fünften und letzten Zeile. Damit kommt es im Schwierigkeitsgrad gleich nach dem Ausschneiden und Aufkleben eines fremden Textes.

Das Elfchen entstand für die Schreibwerkstatt Warendorf, an der ich seit vielen Jahren teilnehme und die mir immer neue Impulse liefert.

Bild: Midjourney: A machine that reads dreams and translates them into images

So geht es jedenfalls nicht weiter

So geht es jedenfalls nicht weiter

Es hat einige Zeit gedauert, bis ich soweit war, aber jetzt kann ich meine Erkenntnisse der Öffentlichkeit präsentieren und damit einen Vorschlag unterbreiten, auf den die Welt gewartet hat. Okay, sie wartet nicht ausdrücklich darauf, dass da was von mir kommt, sitzt also nicht, vertreten durch den UN-Generalsekretär bei mir im Wartezimmer, was auch besser ist, weil ich sowas nicht habe, trommelt mit den Fingern ungeduldig auf der BRAVO-Ausgabe aus dem Januar 2019 herum und reaktiviert die Coronaviren eines ganzen Pandemiedurchlaufs. Nein, so nicht, aber die Welt harrt auf Lösungen und ich kann sie bieten.

Das mag etwas unbescheiden klingen, aber wenn man auf den Friedensnobelpreis abzielt, also eigentlich auf alle ab 2023, dann sollte die Klingel auf die man drückt, schon bis Stockholm zu hören sein. Besser sogar noch bis Oslo. Von nichts kommt nichts und die Sonne bringt es an den Tag, das sollte ich vielleicht vorwegschicken.

Intensive Studien waren nötig. Natürlich waren sie das, wann wären sie einmal nicht nötig gewesen? Die meisten davon in tiefer nächtlicher Einsamkeit, mit einem Kopfhörer abgeschirmt  gegen die Ablenkungen des Tages und  die klagenden Rufe meiner Frau. Gern möchte ich die Details übergehen, aber im Sinne der Intersubjektivität und des freien Zugangs zu meinen Erkenntnissen werde ich meine Quellen offenlegen, also eigentlich eine: Netflix.

Ich verstehe, akzeptiere mögliche Bedenken aber nicht. Die Tatsache, dass etwas geschaffen wurde, um uns zu unterhalten, um uns preiswert abzulenken, lässt ja nicht den Umkehrschluss zu, dass da nicht mehr ist als Unterhaltung und Ablenkung. Ihre Bratpfanne ist vermutlich mit Teflon beschichtet, aber weil sie das ist, verliert Teflon doch nicht seine überragenden Fähigkeiten. Nein, es wurde nicht, wie immer wieder einmal behauptet, im Zusammenhang mit der amerikanischen Raumfahrt entwickelt, Außerirdische haben ganz andere Dinge auf der Pfanne! Teflon diente dem Korrosionsschutz beim Manhattan-Projekt! Was Woody Allen damit zu tun hat? Mal abgesehen davon, dass dieser Film erst 1979 veröffentlich wurde und alte weiße Männern mit Korrosionsschutz wenig gedient ist? Obwohl, wie wir wissen, rostet, wer rastet und Woody Allen legt eine gewisse künstlerische Rostlosigkeit an den Tag. Mit geht es aber nicht um Rostlosigkeit, sondern um die universelle Trostlosigkeit.

Nach dem Studium diverser Serien und einiger Spielfilme, ein Wort, bei dem ich sofort an Heinz Rühmann denken muss, was uns aber nicht wirklich weiterbringt, habe ich das Prinzip verstanden, dass der Lösung all der irdischen und galaktischen Probleme zugrunde liegt. Superkräfte, Magie, Götter und Gewalt. Neben diesen Basiselementen gibt es natürlich noch weitere Zutaten wie außerirdische oder künstliche Intelligenz oder entschiedene Sturheit. Ich muss zugeben, dass es, wenn es um fortgeschrittene Lösungsansätze geht, der nordamerikanische Raum dominiert, Superhelden scheinen keine Anknüpfungspunkte in der europäischen Tradition zu finden, weder in der Aufklärung noch bei den feudalen Gesellschaftsstrukturen der Vormoderne.

Äh… ja. Europa steht für rohe Gewalt, für schwertschwingende Rächer und Totschläger und willst du nicht mein Bruder sein, dann kommt Karl der Große und veranlasst einen tiefgreifenden Umbau des widerspenstigen Körpers der ungläubigen Seele. Götter, Halbgötter und Helden agieren gern vor dramatischen Landschaften, die Kontaktaufnahme im Teuto, der münsterländischen Parklandschaft oder der Soester Börde scheint daher wenig erfolgversprechend.

Superhelden hingegen sind eher großstadtorientiert und scheinen auf eine Art und Weise miteinander verwandt, die ich noch nicht ganz durchdrungen habe. Während Superhelden meist damit zufrieden sind, ihre immensen Kräfte zum Wohle der Menschheit oder Gotham Citys eingesetzt zu haben, verlangt es Götter und Helden nach Opfern oder Belohnungen, von daher sind Superhelden vorzuziehen.

Hinzu kommt, dass das Studium diverser Serien Belege dafür erbrachte, dass Superhelden auch bei ökologischen Katastrophen erfolgreich tätig wurden, während Wikinger oder andere Krieger eher Tendenzen zur Umverteilung oder der Regelung von Erbfolgestreitigkeiten zeigen. Es sollte also keine größeren Schwierigkeiten bereiten, eine Datenbank der potenziellen Problemlöser aufzubauen, in der die jeweiligen Fähigkeiten und die Erfolgsnachweise erfasst werden, so dass im konkreten Notfall rasch auf geeignetes Personal zurückgegriffen werden kann.

Abschließend möchte ich mich noch kurz dagegen verwahren, mich für völlig bescheuert zu halten, weil ich – ich weiß, so wird der Vorwurf lauten – blind darauf vertraue, dass grob entworfene Kunstfiguren, die namenlose Drehbuchautoren in abstruse Abenteuer schicken, tatsächlich einen Beitrag zur Lösung globaler Konflikte leisten können. Dem halte ich entgegen, dass die dramatischen Krisen, denen die Menschheit gegenübersteht, doch ebenfalls nur im Fernsehen stattfinden – okay, im vergangenen Sommer musste ich tatsächlich die Beete etwas mehr wässern und gerade jetzt, Anfang Januar, drehe ich die Heizung ein wenig herunter – und wem, wenn nicht Fernsehhelden, sollten wir denn sonst vertrauen, wenn es darum geht, uns mal wieder zu retten?

Bild: Manu sejas, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Als die Zeit kurz einmal stillstand

Als die Zeit kurz einmal stillstand

Manchmal ist es einfacher, etwas in der dritten Person Singular zu erzählen, auch wenn man von sich selbst erzählen könnte, aber man will eben lieber nicht. So blöd möchte man selbst eben nicht sein, er aber schon und über ihn kann man auch selbst schmunzeln. Er also… hatte nur kurz etwas nachgesehen. Man kennt das ja, irgendein Wort, irgendeinen Namen, irgendein Datum, immer gibt es etwas, was man gerade nicht weiß und deshalb hatte er mitten im Laden stehend sein Smartphone gezückt und ganz schnell mal nachgelesen, während seine Frau und seine Töchter, ohne die er im Übrigen diesen Laden nie betreten hätte, um ihn herum alles zum Kauf dargebotene anfassten, wie es für Frauen in kosmischen Gesetzen von universeller Gültigkeit festgeschrieben ist. Schließlich löste er sich aus seiner Versenkung und kehrte in die Gegenwart zurück, sah sich um und stellte fest, dass er allein war.

Nicht, dass er in seiner tiefen Konzentration Jahre und Jahrhunderte selbstvergessen hinter sich gelassen hatte und nun, nach etlichen irdischen Katastrophen allein auf dem Planeten, dem Erdteil oder zumindest in dem Fachgeschäft zurückgeblieben wäre, nein, es war immer noch das gleiche Jahr, noch immer Dezember und noch immer wuselten Menschen um ihn herum. Also eigentlich nur Frauen und seine waren nicht darunter. Er war allein unter Frauen in einem dieser Gedönsgeschäfte, einem Fachhandel für Dekoration, Country Living, Design, Düfte, Living at Home, Haus und Garten, die schöne Küche und das geschmackvolle Klo.

Er stand da, groß, schlecht rasiert, in seinem schwarzen Mantel, mit der billigen Kappe auf dem Kopf und war das personifizierte Gegenteil von all dem, wofür dieser Laden stand. Niemand sah ihn an, so, wie wohlerzogene Menschen eben ein kleines Missgeschick ignorieren. Er schien nicht einmal im Wege zu stehen, so, wie ein Fußballschiedsrichter ja auch fast nie im Wege steht, das Geschehen spielte sich eben um ihn herum ab.

Wenn es doch wenigstens irgendetwas, irgendeine Kleinigkeit gegeben hätte, die ihn auch nur für fünf Pfennig interessieren könnte, aber da war nichts. Kleine, ge- oder entfärbte Kürbisse unter gläsernen Halbkugeln. Überdimensionierte Muscheln aus Terrakotta? Als habe Vater Neptun nicht genügend Material über alle Küsten dieser Welt verteilt! Panisch sah er sich nach seinen Liebsten um – vergeblich  – oder wenigstens nach Leidensgenossen, aber nein, die standen natürlich draußen rum, standhaft im Regen.

Dann, er hatte geahnt, dass das geschehen würde, fasste ihn eine Verkäuferin ins Auge und kam direkt auf ihn zu. War da irgendwo eine Säule, hinter der er sich verbergen, eine Umkleidekabine, in die er flüchten könnte? Konnte er sich einfach auf den Boden fallen lassen und nach etwas tasten, nach verlorenen Kontaktlinsen oder der Visitenkarte, auf der die Adresse des Hotels und der Name einer Verantwortlichen stand? Schon schritt das Verhängnis entschlossen auf ihn zu, da zupfte jemand an seinem Ärmel. „Willst du noch etwas schauen oder können wir jetzt weiter?“

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Ich mit fremden Federn

Ich mit fremden Federn

Es war Jules van der Ley, der mich auf die Idee brachte, ein paar meiner Texte zusammenzustellen und ein Buch daraus zu machen. Das ist schon eine Weile her, aber im Sommer dachte ich mir, ich könnte doch meine weihnachtlichen Texte einmal daraufhin anschauen, ob sie für eine kleine Veröffentlichung reichen.

Sie reichten nicht, also mir nicht, ich kannte sie ja alle schon. Also suchte ich nach Gedichten, die ich so zwischen meine Texte packen könnte, dass sie die Aufmerksamkeit von ihnen ablenken und meinem Buch den erwünschten weihnachtlichen Glanz verleihen würden. Gesagt, getan. Dann war es nur noch die Arbeit von Monaten, all das in ein hoffentlich akzeptables Format zu bringen, die Seitennummerierung hinzubekommen und ein Cover zu gestalten.

Spätestens daran wäre ich vermutlich gescheitert, aber ich habe eine Tochter, die sich mit solchen Dingen auskennt, die lesen und schreiben kann und die Fehler gefunden hat, die ich sorgfältig über den Text verteilt hatte. Ohne Amelies Arbeit wäre das alles nichts geworden und das es jetzt ein schönes Buch ist, also eins, das schön aussieht, liegt an ihrer geschmackvollen Gestaltung des ganzen Covers und nicht zuletzt an der Grafik von kirillslov.

Weil das Buch – Ich mit fremden Federn heißt es übrigens – bei epubli erschienen ist, kann man es dort auf kaufen. Später einmal auch bei Amazon oder im Buchhandel. Also nächstes Jahr in der Weihnachtszeit, falls man mit seinen Entscheidungsprozessen nicht ganz so schnell ist.

Es gibt eine Softcoverausgabe, die schön ist und ein Hardcover, das richtig schön ist. Aber ich nehme es nicht persönlich, wenn nur die preiswertere Softcoverversion bestellt werden sollte. Ja, ich würde es sogar akzeptieren, wenn weder die eine noch die andere Ausgabe gekauft würde, aber das schreibe ich hier besser nicht.

Müller meldet sich ab

Müller meldet sich ab

Meier.

Ja, hallo Herr Meier. Müller hier.

Tag Herr Müller. Was gibt’s denn?

Tja, tut mir Leid, Herr Müller. Ich muss mich abmelden für heute. Geht mir überhaupt nicht gut.

Oh, hoffentlich geht es ihnen bald besser.

Fieber, Kopfschmerzen.

Corona?

Na hoffentlich nicht. Ich lasse mich gleich mal testen. Falls ja…

Dann wären Sie… 10 Tage raus? Richtig?

Ja, falls ich mich nicht nach 5 Tagen freitesten kann. Aber vielleicht ist es ja nur ein einfacher grippaler Infekt.

Ja. Gerade jetzt, ist schon sehr viel zu tun.

Tut mir Leid, auch für die Kollegen.

Na, wenn Sie krank sind, dann machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Wir schaffen das schon.

Her Meier? Sind sie noch da?

Ja sicher. Ich höre Sie gut. Hören Sie mich?

Herr Meier? Komisch, plötzlich weg.

Nein, ich bin hier. Ich kann Sie gut verstehen, Herr Müller. Hören Sie mich jetzt?

Na, egal. Ich hab ja gesagt, was ich sagen wollte. Jetzt ist er irgendwie weg. Ob er mir das abgekauft hat? Die Idee mit Corona, die hatte ich noch nicht. 10 Tage. Das ist ein richtiger kleiner Urlaub. Okay, wegfahren ist nicht.

Müller? Nehmen Sie mich jetzt auf den Arm?

Irgendwas ist da noch in der Leitung. So ein Krächzen. Vermutlich eine atmosphärische Störung. Gibt es sowas überhaupt bei Voice over IP? Der Idiot hat mir auch noch die Ausrede geliefert. Als ob ich nicht wüsste, was da gerade ansteht. Ich mach doch nicht aus Jux und Dollerei blau.

Das ist ein Kündigungsgrund, Müller. Für eine fristlose Kündigung. Ich habe auf laut gestellt, die Schneider aus der Buchhaltung ist Zeugin.

Nee, die Leitung ist tot. Ich leg mal auf. So einen Coronatest lässt sich doch locker fälschen, oder?

Bild: Creator:Wiktorya Goriniska, Public domain, via Wikimedia Commons

Fleischlos (4)

Fleischlos (4)

Ben will rauf auf den Turm und einer darf mit oder soll, aber auch nur einer, weil es doof wäre, wenn einer allein unten warten müsste. Langweilig wäre das. Sie würfeln und Luis geht mit. Er fühlt sich nicht so, als hätte er beim Würfeln gewonnen, aber einfach unten bleiben kann er ja auch nicht.

Der Turm ist eigentlich fest verschlossen, praktisch uneinnehmbar, aber wenn ein Satz schon mit eigentlich anfängt… Luis sieht das Schlüsselloch, in das bestimmt ein riesengroßer schwarzer Schlüssel passen würde, den sie aber leider nicht dabei haben. Ben drückt trotzdem die Klinke herunter und siehe da, nichts rührt sich. Ben ist fast so erleichtert wie Luis, aber er rüttelt doch dran und plötzlich geht die Tür auf, einfach so. Die beiden Jungen können ja nicht wissen, dass die Tür sehr wohl verschlossen war, aber das gerade in dem Moment, in dem Ben zum zweiten Mal die Tür zu öffnen versuchte, ein Mondstrahl, der nur zu einer bestimmten Minute, ach was, einer Sekunde im Jahr durch eine Ritze in der Wand des Turms fällt und das auch nur dann, wenn nicht gerade eine Wolke den Mond verdeckt, dass dann dieser Mondstrahl genau durch das Schlüsselloch hindurchgeht. Mehr braucht es nicht, aber das ist schon eine ziemlich sichere Art, einen Turm abzuschließen, denn wer mag schon darauf warten, dass – pling – ein kleines bisschen blasses Licht durch das Schlüsselloch fällt?

Die Tür ist offen und das fühlt sich jetzt ziemlich komisch an, so, als würde etwas ganz Kaltes durch seinen Hals laufen, aber Ben zieht die Tür auf, die knarrt, als wäre sie extra dafür gemacht worden, wie in einem Horrorfilm und dann fällt ein bisschen Licht in den Turm und sie können den Anfang der Treppe sehen. Aber wenn sie die Treppe hoch wollen, müssen sie die Tür schon wieder loslassen und dann ist das kleine bisschen Licht auch wieder weg. Zum Glück haben sie ja ihre Taschenlampen und machen gleich beide an, es ist nämlich nicht einfach dunkel im Turm, es ist wie so eine staubige schwarze Nacht, die Luft steht und riecht nach Fledermauspisse, das meint jedenfalls Luis und irgendwo oben flattert auch etwas. Ben will da auch überhaupt nicht mehr hoch, aber was soll er machen, wenn die anderen jetzt draußen stehen und warten?

Ben ist keiner, der schnell aufgibt und Angst zeigen, das geht schon mal gar nicht. Also mit der Handytaschenlampe die Treppe rauf. Erst sind es breite Steinstufen, nicht gerade in gutem Zustand, da ist wohl auch schon mal ein Ritter in voller Rüstung raufgelaufen und hat dabei was zerbröselt. Dann, nach einem Stück, es wird der erste Stock gewesen sein, sind es nur noch Holzstufen und die knarren und klingen überhaupt nicht gut. Manche haben tiefe Risse, bei anderen fehlt ein ganzes Stück.

Dann wird auch noch Bens Taschenlampe schwächer. Licht an lassen und gleich keinen Akku mehr haben, um Bilder zu machen oder, aber das denkt Ben nur, das sagt er nicht: Hilfe zu rufen? Luis hat noch mehr Akku und leuchtet auch ein bisschen die Treppe hoch, aber er will das Handy nicht aus der Hand geben und vorne laufen will er auch nicht.

Von draußen kommt kein bisschen Licht, die Fenster sind zugemauert oder verrammelt. Hier soll keiner rein-, vielleicht aber auch keine rauskommen. Es wird eng im Treppenhaus und dann, zack, ist der Akku alle. Blöd, denkt Ben, hätte er besser aufpassen müssen. Luis will nicht weiter, aber allein mitten im Turm warten will er auch nicht. Ben ist sich nicht ganz sicher, ob es schlau ist, jetzt noch weiterzugehen, aber Netz haben sie hier auch nicht, das hat Luis schon probiert, also rauf, von da können sie wenigstens schreiben oder anrufen. Runter wäre natürlich logischer, aber in solchen Situationen machen die Leute ja immer genau die falschen Sachen.

Eben noch war das Licht von Luis Lampe hinter Ben, plötzlich ist es auch weg und Luis schimpft und klingt ziemlich weinerlich und kommt schnell, Ben hört das, die Stufen hoch und ist gleich hinter ihm, schiebt seine Hand in Bens und im Dunklen steigen sie weiter die Treppe hinauf.

Man spürt das, wenn der Raum plötzlich enger wird, auch wenn man fast nichts sehen kann und Ben spürt das auch. Eine enge Stelle im Treppenhaus und Luis ist fast neben ihm, das ist viel zu eng für sie beide und es gibt ein richtiges Gedrängel. Da knackst es und ein Stück Stufe, hoffentlich nur ein Stück, bricht ab und fällt in die Dunkelheit und es dauert ganz schön lange, bis sie hören, wie es irgendwo aufprallt. Gleich nochmal, wieder bricht etwas ab und Luis lässt los, Ben stellt sich an die Seite, fest an die Wand gedrückt, während neben ihm oder unter ihm ein Getöse ist, ein Bersten und Brechen, das man bestimmt auch draußen hört. Vielleicht auch nicht, sind ja so dicke Wände hier. Aber der Staub, den das alles aufwirbelt, der quillt unter der Tür hindurch nach draußen und das sieht überhaupt nicht gut aus im Mondlicht.

Ben tastet mit einem Fuß nach unten, aber da ist nichts. Nach oben, da fühlt er ein Stück Holz, keine ganze Stufe, mehr so ein Rest, der aus der Wand ragt. Er setzt den Fuß darauf, probiert, ob das Holz ihn trägt und zieht dann den andern Fuß nach. Aber er rutscht ab, verliert fast, was heißt hier fast, den Halt und… zum Glück greift die Hand von oben nach, fast sein Handgelenk, zieht ihn wieder auf die Treppe und sein Herz schlägt wild, so hat er es noch nie gespürt. Dabei ist es so still geworden im Turm.

Dann endlich macht die Treppe einen Bogen, etwas fahles Mondlicht fällt auf die oberste Stuf. Da öffnet sich ein Raum, kahl und staubig. Ben sieht einen Schatten, das ist doch Luis, der da schon wieder in das Treppenhaus verschwindet, auf die enge Wendeltreppe, die nach oben bis zur Zinnen bewehrten Turmspitze führt. Warte, ruft Ben und gleich antwortet Luis, aber die Stimme kommt von unten, von dort, wo Luis hinter Ben im Treppenhaus war und offensichtlich auch geblieben ist.  Aber wenn das da unten Luis ist, der nicht weiter kann, weil die Treppe weggebrochen ist, wer ist das dann da vorn, wer hat Ben gehalten und hochgezogen? Noch während er grübelt, greift eine kühle Hand die seine, fest und entschlossen.

Luis ist schon wieder unten. Finn und Leon wollen gleich die Treppe rauf, aber Luis erklärt ihnen, dass das keinen Sinn hat. Die Holztreppe ist fast vollständig zusammengebrochen. Im Licht ihrer Taschenlampen sehen sie den Staub und die Splitter, die es bis ganz unten geschafft haben. Aber was nun? Hilfe holen und sich dem Ärger aussetzen, hier einge-drungen zu sein? Oder abhauen und anonym Alarm schlagen? Finn hat Netz und während die anderen noch diskutieren, hat er Ricardo schon angerufen.

Die Nacht ist jetzt ausgesperrt, Masten mit Scheinwerfern hat die Feuerwehr rund um den Turm aufgebaut und Retter mit Spezialgerät versuchen, sich einen Weg durch das Treppenhaus zu bahnen. Der große Leiterwagen, mit dem man auch die oberen Stockwerke erreichen könnte, kann nicht bis hier zur Burgruine gebracht werden, aber Höhenretter sind schon vor Ort und für die ist das eine der einfacheren Übungen. Als sie den obersten Raum betreten, den, dessen Wände noch immer schwarz sind, sehen sie an der Wand zwei Schattenrisse. Eine Frau und einen Jungen – Hand in Hand.

Ende

Bild: Georg Adam, Public domain, via Wikimedia Commons

Fleischlos (3)

Fleischlos (3)

Ist immer so, man kennt einen, der einen kennt, der dabei gewesen ist. Aber Gruselgeschichten müssen ja nicht auf gerichtsverwertbaren Tatsachen beruhen. Jedenfalls macht Ricardo wieder eine Pause und ein paar von den Kleineren rutschen unruhig hin und her auf der Bank, aber Ben kichert nur.

„Und dann?“ fragt Ina, als ob sie nicht genau wüsste, wie es weitergeht.

„Zum Glück hat man ihn lebend gefunden, allein im Wald noch in der Nacht. Aber er sprach nicht mehr und weigerte sich, auch nur in der Nähe des Turms zu bleiben.“

Ricardo macht schon wieder eine Pause und diesmal sind wirklich alle gespannt, wie es weiterging, damals.

„Ach ja, da gibt es noch etwas für alle, die noch Beweise brauchen. Leute aus dem Dorf sagen nämlich, dass man manchmal oben im Turm, ihr wisst schon in welchem Zimmer, ein trauriges Gesicht am Fenster sehen soll.“

Ob der Junge irgendwann wieder gesprochen hat und was er dann erzählt hat, davon will Ricardo erst am nächsten Abend berichten. Wenn das Wetter mitspielt, sonst eben im nächsten Jahr im Ferienlager an der Nordsee. Cliffhanger.

Proteste und Buhrufe. Leise Buhrufe, spät abends im Wald weckt man ja lieber nichts, was vielleicht schon schlafen könnte und dann schlechte Laune bekommt und brummt oder kreischt. Die Kids räumen noch auf,  packen weg, was über Nacht wegzupacken ist und Timo löscht das Feuer. Ricardo tut so, als ob er Ben noch einen Gute-Nacht-Kuss geben will und schon ist Ben in seinem Zelt.

Vom hohen Baum aus sähe man jetzt nur noch das Leitungsteam, das sich in den Kleinbus verzieht und eine Flasche Rotwein aufmacht und hörte, wenn man so gut hörte, wie die Eule sieht, das Getuschel in den Zelten und wie es dann bei den Kleinen schnell still wird, während bei Ben noch diskutiert wird. Hingen Sprechblasen über dem Zelt, dann könnten wir dort jetzt „Quatsch“ lesen und „Babygeschichte“. Etwas später allerdings, ganz vorsichtig, leise, leise, geht der Reißverschluss wieder auf und jemand lugt raus, guckt, ob da jemand guckt und ist dann ganz schnell draußen und auf der Seite des Zeltes verschwunden, die man von den Autos aus nicht sehen kann. Noch ein bisschen, dann sind vier der sechs, die in dem Zelt wohnen, unterwegs zum Turm. 

Ben weiß die Richtung. Ist auch kein Kunststück, weil es einen Wanderweg gibt und wenn man sein Handy dabei hat und die Taschenlampe anmacht und das geht ja nun wirklich bei jedem Handy, dann kann man die Wegweiser auch lesen. Es ist dann auch nicht ganz so dunkel im Wald. Nicht, dass die vier, Ben, Leon, Finn und Luis, das Wort Angst auch nur kennen würden, aber manchmal ragen da Wurzeln in den Weg und dann könnte man fallen und da sind auch so komische Bäume, die aussehen, als stünde da einer, dem man bei Nacht nicht begegnen möchte.

Es ist auch nicht so weit, sie haben es ziemlich bald geschafft.

Der Turm steht da auf seiner eigenen kleinen Lichtung und leuchtet. Also das sieht nur aus, als ob er leuchten würde, das merken die Vier auch gleich. Liegt natürlich nur an den Steinen und dem Mondlicht. Hätte man Angst, könnte man denken, dass die Mondsichel wie die Klinge von so einem Karambitmesser aussieht. So einem, das man von Counter Strike kennt, wenn man sich traut, das zu spielen, auch wenn man das noch nicht darf. Den Friedhof hat sich Ricardo nur ausgedacht. Oder vielleicht doch nicht. Ein paar Grabsteine stehen da, aber da liegen bestimmt nicht mal mehr Knochen drin, aber wenn, dann solche mit zertrümmerten Schädeln oder ohne Kopf und jetzt ist es doch ein bisschen unheimlich hier im Wald.

Fortsetzung folgt

Fleischlos (2)

Fleischlos (2)

Teil 2

Ricardo machte es sich auf dem Baumstamm, der ihm als Bank dient, bequem, so gut das eben auf einem Baumstamm geht und erzählt.

„Der Turm, von dem ich erzählen will, der soll da schon seit ewigen Zeiten stehen. Er ist der Rest einer alten Burg, ein Bergfried, so heißt das wohl. Die Burg wurde bei einer Fehde zwischen verfeindeten  Rittern eingenommen, der Turm nie. In diesem Turm überlebte eine Frau, die Freifrau von Altenstein aus uraltem Adel, die mitansehen musste, wie alles, was ihr lieb und teuer war, ermordet oder verschleppt wurde und wie die Burg, auf der sie zuhause war, niedergebrannt wurde. Sie blieb am Fenster stehen wie angewachsen und konnte den Blick nicht abwenden. Der Rauch und die Hitze, die von überall aufstiegen, auch von den Feuern, die am Fuße des Turms entzündet worden waren, um die letzten, die im Turm Zuflucht gesucht hatten, zur Aufgabe zu zwingen, umgaben sie, aber sie harrte aus ohne Aussicht auf Hilfe.

Die glühend heißen Flammen hatten die schweren, gusseisernen Beschläge der Tür zum Glühen gebracht und schließlich die Beschläge und das  Eisen des Rahmens miteinander verschmelzen lassen.“

Sofie muss mal und solange ist Pause. Nur am Feuer ist es nicht dunkel, Funken fliegen und es ist schön und warm. Emma und Felix, das Pärchen der Truppe, sitzen fast eng nebeneinander. Ina lächelt und meint, dass der Turm bestimm nicht mit so einem kleinen Vorhängeschloss gesichert wird wie mit dem, das Emma und Felix heute an der Brücke über den Waldbach festgemacht haben und die beiden werden ein bisschen rot, weil sie nicht gemerkt haben, dass Ina das gesehen hat. Dann ist auf Sofie auch schon zurück und Ricardo erzählt weiter.

„Durch das Feuer war es also unmöglich geworden, den Turm zu verlassen oder zu betreten, bis Jahrhunderte später Räuber und Plünderer mit modernem Werkzeug den Zugang wieder öffneten, den Turm aber total leer fanden. Nur im obersten Raum, dem, der den Blick freigab auf die nach all der Zeit schon malerischen Ruinen der Burg, einem Raum, der Ruß geschwärzt war, fanden sie die Umrisse eines Menschen an der Wand. Sie ahnten nicht, dass es der Schattenriss der Freifrau von Altenstein war, der entstanden war, als sie dort am Fenster die Katastrophe mit ansah, die ihre Familie erleiden musste.

Doch während die Eindringlinge nach Gold suchten, nach Schätzen oder wenigstens etwas von historischem Wert, das ihnen bei einem Sammler ein paar Münzen hätte einbringen können, löste sich der Schatten von der Wand, der Raum verdunkelte sich und wer nicht augenblicklich den Turm verlassen hatte, verließ ihn nie mehr, denn die Freifrau von Altenstein oder das, was aus ihr geworden oder von ihr geblieben war, verteidigte, so wie sie das auch seitdem tut, den Turm gegen jeden und alles. Erst kamen noch Neugierige und Wagemutige, aber im Laufe der Zeit wurde der Turm vergessen und auch die Geschichte kennen nur noch wenige.“

„Aber du kennst sie und man hat auch nie einen Möbelwagen gesehen hat, für den Umzug der Freifrau von Altenstein. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann wohnt sie da noch heute“, mischte sich Ben ein, bevor Ricardo seine Erzählung zu Ende bringen konnte.

„Die Geschichte steht im Handbuch für Ferienfreizeiten mit lästigen Kindern und unmöglichen Jugendlichen“, schaltete sich nun auch Ina ein und Ricardo lachte.

„Ich habe sie gelesen, in einem alten Buch in der Uni. Irgendwas mit Heimat und Sagen, ich weiß den Titel nicht mehr, deshalb habe ich es wohl auch nicht wiedergefunden, nachdem…“

Ricardo wurde still und alle wurden still. „Bei einer Freizeit ist nämlich einer heimlich abgehauen und zum Turm und irgendwie ist er da auch reingekommen. Keiner weiß, wie er das gemacht hat. Der Turm ist gut gesichert.“

Fortsetzung folgt

Fleischlos

Fleischlos

Teil 1

Eine Wiese auf einer Lichtung. Ein paar große Laubbäume, Eichen und Buchen, die, wie alle alten Bäume, viel zu erzählen hätten, wenn sie denn könnten. Allerdings ginge es ihnen dann vermutlich wie den alten Menschen, die auch viel zu erzählen hätten, hörte man ihnen denn zu. Im Schutz der Bäume sind sechs grüne Gruppenzelte und ein Küchenzelt zu sehen. In einem Pavillon stehen lange Tische. Am Rande der Lichtung parken mehrere Autos. Es klappert, jemand wäscht Geschirr ab, eine Elster schimpft und die Mücken machen sich bereit für ihren allabendlichen Einsatz. Im Dickicht ist es schon sehr schummerig und nicht mehr lange, dann wird die Sonne untergehen.

Von einem der höheren Bäume aus ist das Dorf zu sehen, gerade weit genug entfernt, um ungestört zu sein, gerade nah genug, um schnell mal ein neues Paket Heftpflaster oder Kartoffeln für die Lagerküche zu besorgen. Zur anderen Seite sieht man einen Turm. Ben hat das gesehen, obwohl das Leitungsteam der Ferienfreizeit der Martinsgemeinde, wir lassen an dieser Stelle offen, ob es der Martin war, der seinen Mantel teilte oder jener, der gleich die ganze Christenheit teilte, also das Leitungsteam der Martinsgemeinde hatte ausdrücklich und in recht scharfem Ton untersagt, die Bäume zu besteigen, weil das von der Gemeindeunfallversicherung nicht abgedeckt sei.

Fragen zum Turm könnten deshalb eigentlich nicht gestellt werden, denn, hat man ihn nicht gesehen, kann man doch auch keine Fragen dazu stellen, oder? Aber wer sich auf den Baum traut, traut sich auch zu fragen.

Am Lagerfeuer, wenn Timo, der sich durch alle Ferienlager der Gemeinde hochgedient hat und jetzt als Betreuer dabei ist, endlich seine Gitarre zur Seite legt und alle noch einen Moment in das prasselnde Feuer starren, bevor es in die Zelte und ins Bett geht, fragt Ben und es wird noch stiller auf der Lichtung. Der Waldkauz auf dem vom Blitz gespaltenen Stumpf einer alten Rotbuche dreht seinen Kopf, als wolle er nicht hören, was nun kommen muss. Vielleicht will er das ja auch wirklich nicht, weil er die Geschichten jedes Jahr aufs Neue gehört hat. Ricardo, der mit der Basecap, auf der Chef steht, blickt in die Gesichter der Mädchen und Jungen, die ihm anvertraut sind. „Es gibt da eine Geschichte, aber ich glaube, die ist noch nichts für euch.“

Klar, die übliche Gruselgeschichte, die man den Kurzen erzählt, mit dem üblichen Brimborium, den Warnungen, der vorgetäuschten Sorge, funktioniert immer, wenn die Fledermäuse tieffliegen, Zweige brechen und wenn es dann gleich ins Zelt geht und keiner das Licht im Flur anlässt.

„Das ist nämlich nicht irgendein Turm! Der ist mit einem Fluch belegt und tagsüber würdet ihr nichts davonmerken, da kann man auf der Treppe picknicken und ein Selfie für Insta machen. Aber sobald die Sonne untergeht“, Ricardo legt eine Pause ein und Ina, die Soziale Arbeit studiert, macht kleine Augen, als wäre sie sehr besorgt, wie das wohl weitergehen wird, „da, zack, richten sich die Gräber um den Turm, da ist nämlich ein alter, aufgegebener Friedhof, wie von einem Magneten angezogen auf den Turm aus. Wie eine Windrose mit dem Turm in der Mitte sieht das dann aus.“

Alte, aufgegebene Friedhöfe mit umgekippten und geborstenen Grabsteinen passen hervorragend in Gruselgeschichten. Muss man nämlich erst über den Friedhof – und das auch noch bei Nacht – um zu dem Turm zu gelangen, bei dem man ja eigentlich um keinen Preis sein möchte, nur, wenn einer davon erzählt, dann ist das noch mal viel mehr Horror. „Wenn jetzt aber einer den Turm betritt und da sogar noch hochsteigt, der ist verloren.“

Fortsetzung folgt

Bild: Max Josef Wagenbauer, Public domain, via Wikimedia Commons

Eines Morgens im Deutsch-LK

Eines Morgens im Deutsch-LK

„Okay, Annette, jetzt du.“
„Ich hab ein…“
„Etwas lauter bitte. Nein, nicht ihr. Annette, nicht ganz so leise, ja!“
„Ein Gedicht, ich habe ein Gedicht geschrieben.“
„Klar, typisch so ein Mädchending. Love, love, love und Sonnenuntergang in Pink und…“
„Danke Ben. Offenbar kennst du den Text ja schon. Kleine Kooperation zwischen euch?“
„Ich? Mit der? Niemals!“
„Dann warten wir doch einfach mal ab und geben Annette anschließend ein konstruktives Feedback, okay?“

„Darf ich bitte raus? Ich hab ein Attest. Lyrik verklebt nämlich meine Synapsen.“
„Na klar, Ole. Nimm dann bitte das Arbeitsblatt zur Wahrscheinlichkeitsrechnung mit. Das trainiert deine Synapsen.“
„Das verstößt aber so was von gegen die Menschenrechte.“
„Es gibt kein Menschenrecht auf Unfug.“

„Der Knabe…“
„Was? Annette, das ist Ole. Nicht der Knabe.“
„So heißt mein Gedicht.“
„Der Knabe?“
„Nein. Der Knabe im Moor.“
„In welchem Moor? Venner Moor?“
„Im Moor. Einem Moor oder dem Moor, wie Sie wollen. Wenn es Ihrer Phantasie hilft, es zu lokalisieren, dann gern auch das Venner Moor. Aber etwas mooriger. Kann ich jetzt?“
„Nicht so zickig, Annette. So ein „von“ im Namen ist kein Freibrief für Schroffheit.“
„Entschuldigung. Kann ich jetzt?“
„Dann mal los. Und Ruhe bitte.“

Der Knabe im Moor

O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

„Das war schön, Annette. Also mein erster Eindruck. Das Reimschema..“
„Ich bin noch nicht fertig. Darf ich weitermachen?“
„Bitte.“

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“

„Das ist der Erlkönig, der da raschelt.“
„Ben, das ist jetzt nicht nett, obwohl ich die Assoziation auch hatte. Annette, ist dir die Ähnlichkeit nicht aufgefallen?“

„Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.“

„Klar, das ist auch eine Ballade. Bei Goethe säuselt und bei mir sauset der Wind. Falls das reicht, bekenne ich mich des Plagiats schuldig. Aber vielleicht darf ich erstmal fertig lesen?“
„Na, ich hoffe mal, dass das jetzt nicht ein Erlkönig 2.0 wird!“
„We want Moor!“
„Ist ja gut, Ben. Hast du einen Farbwunsch für den Eintrag ins Klassenbuch?“
„Also. Kann ich?“

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?“
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

„Wird das noch heftiger, so ein Horror-Ding? Das ist ganz schön harter Stoff. Ich weiß nicht, ob wir da nicht Ärger mit der Klassenpflegschaft bekommen. Na, lies mal weiter. Wir müssen ja langsam fertig werden.“

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnenlenor’,
Die den Haspel dreht im Geröhre!

„Starke Bilder und diese Sprache… Dylan Thomas trifft Edgar Allan Poe. Ja, Ole?“
„Spinnen-Lenor? Ist das Product-Placement? Waschmittelwerbung? Kriegen wir gleich noch  Hummel-Persil? Und den Haspel im Geröhre, den würde ich auch gern mal drehen, wenn sich’s machen ließe.“
„Darüber müsst ihr gar nicht albern kichern. Das war ziemlich billig. Annette?“

Voran, voran! Nur immer im Lauf,
Voran, als woll es ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen,
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

„Zombies! Das ist ne echte Zoombienummer von unserem Annettchen, hätte ich ihr überhaupt nicht zugetraut mit ihren Spitzenkragen und Perlenketten. Der diebische Fiedler Knauf… Fiedler Knauf… das war bestimmt ein Hipster.“
„Alle noch wohlauf? Wird das auch nicht zu viel für euch? Falls jemand das nicht mag, ich zwinge hier keinen, sich Gruselgeschichten anzuhören und anschließend eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln.“
„Annette, ab jetzt aber nur noch unter Vorbehalt. Ich hoffe, du kennst die Grenzen dessen, was während des Unterrichts geht.“

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“

„Wer ist denn jetzt wieder diese Margret? Mir schwirrt schon der Kopf. Alles Moorleichen und Gespenster?“

Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär nicht Schutzengel in seiner Näh,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.

„Bleichende Knöchelchen? Was stimmt denn nicht mit deiner Fantasie? Das ist morbide! Und Moorgeschwele – darunter kann mich mir beim besten Willen nichts vorstellen.“

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O schaurig war’s in der Heide.

„Aus? Du bist durch mit deinem Text? Okay, danke Annette. Ihr dürft auch mal klopfen. Das war ja schon eine Leistung, ein starkes Stück, hätte ich fast gesagt. Nein, Ben, kein Stück Torf. Schaurig, sicher, schauderhaft nicht. Natürlich bist du keine Goethin. Aber nett, dass du den Knaben überleben lässt, sonst hätte der Direx sicher deine Eltern einbestellt und Pfarrer Große Wegkamp einen Exorzismus durchgeführt.

Jetzt ist auch gleich Pause, aber wenn du noch schnell meine Meinung hören willst: Der Knabe im Sumpf… entschuldige, im Moor, der hat schon was. Das ist alles sehr anschaulich, man kriegt beim Zuhören richtig nasse Füße und macht sich Sorgen um den Jungen, gerade weil wir ja wissen, wie es beim Erlkönig ausgegangen ist. Ich würde es nicht gleich beim Literarischen Quartett versuchen, aber für die Schülerzeitschrift reicht es. Voll umfänglich. So, und ihr, raus jetzt, Pause. Voran, voran! Nur immer im Lauf, wie Annette es sagen würde.“

Die Ballade Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff ist zuerst am 16. Februar 1842 erschienen. Annette soll neben einem scharfen Verstand und einem außergewöhnlichen literarischen Talent auch Humor besessen haben.

Falsche Zähne

Falsche Zähne

Meine Oma war alt. Schon immer. Immerhin war sie 53 Jahre älter als ich. Alte Menschen kleideten sich dunkel, trugen eine Brille und hatten keine eigenen Zähne mehr. Aber meine Oma hatte Söhne und Töchter, die sich darum kümmerten, dass sie ein Gebiss bekam. So eins, dass man abends in ein Glas mit Wasser stellte. Doch meine Oma ließ es dort auch den ganzen Tag über, weil es nicht passte.

Ich weiß nicht, ob es ihr nicht passte oder ob ihr einfach nicht passte, dass sie ein Gebiss tragen sollte. Alte Menschen sind da komisch, ich weiß, wovon ich spreche. Also redete die Familie ihr gut zu. Mit den künstlichen  Zähnen könne sie doch besser kauen, deutlicher sprechen und freundlicher lächeln. Doch statt der Welt die Zähne zu zeigen, vergrub meine Oma ihre neuen Zähne im Garten. Kiefern zu pflanzen, wäre billiger gewesen, aber in welchem anderen Garten gab es ganzjährig etwas zu beißen?

Bild: Garten des Architekten Henry van der Velde in Weimar (Villa Hohe Pappeln). Um 1909.

Roll another one

Roll another one

Wir waren mit Freunden nach Amsterdam gefahren. Die niederländische Drogenpolitik war seit dem Ende der siebziger Jahre liberaler als in Deutschland, dennoch lag in unserem Hotel nur ein Täfelchen Schokolade auf dem Kopfkissen. Der Freund, dessen Namen ich nicht nennen werde und dem ich deshalb die gesamte Verantwortung zuschieben kann, meinte, dass wir uns für die Dauer unseres Aufenthalts doch etwas Dope besorgen könnten. Ich widersetzte mich nur andeutungsweise.

Wenig später standen wir in einem Café mit lauter Rockmusik und passenden Gästen. Wir waren richtig, das konnten wir sogar erschnuppern. Das war allerdings auch kein Kunststück, denn in Deutschland wäre die Luft in dem Laden schon unter das Betäubungsmittelgesetz gefallen. Ich weiß nicht mehr, wie wir einen potenziellen Dealer ausfindig machten, vielleicht war auch einfach jeder dort bereit und in der Lage, uns ein paar Gramm zu verkaufen. Jedenfalls zahlten wir, nachdem wir die Waren gesehen und die Menge vereinbart hatten und erwarteten nun, dass uns der grüne Türke oder rote Libanese auch übergeben würde. Der sehr entspannte Händler baute jedoch zunächst noch einen Joint, natürlich mit unserem Stoff, zündete ihn an und rauchte ihn, ohne uns wenigstens einmal schnuppern zu lassen. Mit dem kläglichen Rest verließen wir zügig den Laden.

Es wäre sicher wünschenswert, dass der Drogenbeauftrage der Bundesregierung bei der Ausreise in die Niederlande Flugblätter mit dem weisen Rat „Erst die Ware, dann das Geld“ verteilen ließe. Obwohl ich das Gefühl habe, dass ich das mit dem Drogenbeauftragen irgendwie falsch verstanden haben könnte.

Foto: Max47, CC0, via Wikimedia Commons