Warum ich vor dem Edeka beinahe festgenommen worden wäre

Dabei hatte ich sie doch nur etwas geschüttelt. Aber der Reihe nach.

„Die Ärzte haben sie angerufen, weißt du das?“ hatte die kleine alte Frau zu der anderen kleinen alten Frau gesagt. Nicht dass ich neugierig wäre, aber die Beiden sprachen wirklich sehr leise, deshalb musste ich ihnen in ziemlich geringem Abstand folgen, um überhaupt etwas verstehen zu können. Glücklicherweise hatten sie mich nicht bemerkt. Oder ignorierten sie mich etwa? Doch weshalb bemühten sie sich dann, so leise zu sprechen? Nein, entschied ich, Sie wollten nicht belauscht werden.

Was also hatten sie zu verbergen? Ging es um die Frau, die von den Ärzten angerufen worden war?

Es war doch bestimmt kein gutes Zeichen, wenn man von den Ärzten angerufen wurde. „Ihre Ergebnisse sind jetzt da. Es wäre gut, wenn Sie in die Praxis kommen würden, jetzt sofort.“ Was für ein Drama! Und nicht nur von einem Arzt angerufen zu werden, sondern gleich von den Ärzten. Also dem Facharzt für Neurologie, dem für Dyskalkulie, dem für Chirurgie und dem für, was weiß ich, Hals, Nasen und Ohren. Das Telefon klingelt und am anderen Ende der Leitung spricht ein Ärztechor. Weil keiner von denen den Mut hat, die schlechte Nachricht allein zu überbringen. Geht das technisch? So eine Art Telefonkonferenz? Klar, geht. Nehmen wir also an, dass eine Frau von ihren Ärzten angerufen wurde, die ihr eine schlimme Nachricht überbringen mussten.

Möglicherweise war das aber auch nur so daher gesagt, dieses „die Ärzte haben sie angerufen“ und es handelte sich bloß um eine Gemeinschaftspraxis. Dr. Klingenberg, Dr. Wohlbach und Melzer zum Beispiel. Einer hat fast immer keinen Doktortitel. Es waren auch nicht die Ärzte, sondern nur die Arzthelferin. So würde das natürlich niemand erzählen: „Frau Hürter, die Sprechstundenhilfe der Gemeinschaftspraxis Dr. Klingenberg, Dr. Wohlbach und Melzer hat sie angerufen“. Unmöglich, das

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Marktplatz der Ideen

Foto: Manfred Voita

Giordano Bruno?  Schon mal gehört?

Als wir in Rom waren, hatte ich mir vorgenommen, zu seinem Denkmal zu gehen. Weil ich, so dachte ich, da gewesen sein muss. Seinetwegen und meinetwegen. Obwohl ihm das egal gewesen sein dürfte.

Am 17. Februar 1600 starb er auf dem Campo de Fiori. Auf einem Marktplatz, der wohl einst ein Blumenfeld war. Mir war es wichtig. Ich kann nicht genau sagen, warum ich an so einen Ort muss. Katastrophentourismus ist es eher nicht, nach 418 Jahren gibt es keine Spuren des Feuers mehr, in dem er starb. Hätten die Freimaurer dort nicht ein Denkmal errichtet, würde nichts an ihn erinnern. Es ist auch nicht gerade so, dass wir täglich auf Giordano Bruno stoßen würden.

Vielleicht hat es mit Respekt zu tun, dass ich an diesem Ort stehen muss. Dass mir solche Orte etwas näher bringen. Ach, das ist wohl auch überhaupt nichts besonderes, dass geht uns ja allen so. Wir stehen vor Bildern, Weiterlesen

Piano, Italia

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_B_145_Bild-F013070-0010,_Walsum,_Unterricht_Gastarbeiter.jpg

Den italienischen Neubergleute werden im Unterricht Sitten und Gebräuche in Deutschland erläutert. Quelle: Bundesarchiv

Schon wieder Italien. Meinetwegen müsste das ja nicht sein, aber wir haben ja nun den Euro und die EU und da müssen wir uns kümmern. Die Italiener sind nämlich nicht glücklich mit uns. Wir natürlich auch nicht mit ihnen. Wieso haben die so ein schönes Land und schönes Wetter und wollen dann auch noch eine Regierung? Ach so, den Italienern gefällt nicht, wie wir über sie reden. Und vermutlich noch weniger, wie wir über sie denken. Da kam nämlich mit der Wahl und den Wahlsiegern plötzlich all das wieder hoch, was wir seit den fünfziger Jahren und den ersten Gastarbeitern mühsam zu unterdrücken gelernt haben.

Wollen wir Italien retten oder müssen wir gar Italien retten, ob wir wollen oder nicht? Können wir Italien überhaupt retten? Also ich weiß es nicht. Die deutsche Presse weiß es schon, also das wir nicht wollen, aber vermutlich müssen, weil die Italiener ja eh nie was gescheites hinkriegen. Also müssen wir Deutschen aufräumen, Sparkommissare sind gefragt. Wir könnten Schäuble schicken. Dann haben die Italiener bald auch kaputte Autobahnen, ein vergammelndes Militär und, ach ja, weniger Schulden. Sie importieren dann Weiterlesen

Wisch und nicht weg

By Secondo Bianchi / user:Rainer Zenz (scan) (Eigener Scan) [Public domain], via Wikimedia Commons

Das ist jetzt der dritte Anlauf für diesen Text, und das, obwohl ich noch nicht einmal genau weiß, wie er nach dem ersten Satz weitergehen wird. Einfach nur anfangen und schreiben, das war mal. Zwei Töchter, eine davon gerade im Studium, da wird gegendert – und diese Form der Sprachkritik schlägt inzwischen selbst dann zu, wenn keine der beiden jungen Damen in der Nähe ist. Bevor ich aber erkläre, welche Textvarianten gerade rausgeflogen sind – wo bleiben eigentlich gelöschte Texte, entfernte Buchstaben? Gibt es ein Jenseits für verworfene Ideen?

Ich meine natürlich nicht verworfen im Sinne von verworfen. Solche Ideen habe ich nicht, bestimmt nicht, nein, sondern im Sinne von… jetzt, wo man es braucht, ist das Wort weg. Versteckt sich hinter all den anderen irgendwo in der Tastatur. Aber genau darauf wollte ich mich ja auch nicht einlassen, irgendwelche anderen Wörter, die ich benutzt hätte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, etwas ganz anderes zu schreiben. Genug damit.

Wir waren Eis essen.

Darum geht es hier.

Ganz simpel, also nicht auf die Hand, in einer Waffel oder im Becher, der sich, wenn man ihn später mit Cognac füllt, auflöst, das aber nur am Rande, also er löst sich nicht nur am Rande, sondern ganz auf, das nur am Rande angemerkt, sondern im Sitzen, am Tischchen und im Becher. Ich glaube, die haben in dem Eiscafe bzw. der Eisdiele für jede ihrer verschiedenen Eiskompositionen einen besonderen Becher. Größere, kleinere, verschiedene Materialien, Formen und Farben.

Aber: Alle Eisdielen in Deutschland verwenden die gleichen Papierservietten. Behaupte ich. Diese schmalen, rechteckigen Teile, aus einem eigenartigen Material hergestellt, das die Saugkraft einer Plastiktüte hat. Sie liegen unter dem Eisbecher auf dem Metalltablett. So gehört sich das: Metalltablett, Papierserviette, Eisbecher.

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Ruf nicht an

 Hl. Valentin Bischof von Terni mit Gefährten. Codex: Français 185, Fol. 210. Vies de saints, France, Paris, 14. Jahrhundert

Hl. Valentin Bischof von Terni mit Gefährten. Codex: Français 185, Fol. 210. Vies de saints, France, Paris, 14. Jahrhundert Quelle: Wikipedia

Ich bin kein direkter Rüpel, aber die Brennnessel unter den Liebesblumen

Karl Valentin

Kann man den Valentinstag, heute übrigens ein Valendienstag, einfach verstreichen lassen? Ohne Blumen? Äh.. ja! Ohne Text? Natürlich nicht!

Wie das so ist mit Heiligen, entweder hat es sie nicht gegeben bzw. es wird empfohlen, sie nicht mehr anzurufen – vermutlich kein Anschluss unter dieser Nummer, oder die Zeit hat dazu beigetragen, dass alles ein wenig unscharf wird, dass nicht mehr deutlich ist, was einst überhaupt nicht klar war. Valentin, das steht fest, hat es gegeben. Irgendeinen Valentin, ganz sicher. Ich kenne auch einen. Aber für den Valentinstag zuständig ist ein anderer, möglicherweise der Valentin von Terni, der in der dortigen Basilika bestattet ist. Der gute Mann hat ein recht umfangreiches Aufgabengebiet, dafür das er schon im Jahre 269 den Löffel abgab, Verzeihung, den Bischofsstab fallen ließ.

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reife kenner

reife kenner (EM 2016)

wir sitzen
obwohl wir noch stehen können

wir sehen Khedira
und denken doch an Briegel

wir halten es für richtig
dass Poldi und Schweini auf ewig die kegel aufstellen

wir schnalzen mit der zunge
(im doppelpass mit einem freistehenden zahn)

 

28.6.2016

Rainer Strobelt (Jahrgang 1947, jedes Turnier seit 1958 verfolgt, damals den Eltern spontan von der Fahne gegangen während des Familienspaziergangs im Kurpark von Bad Waldliesborn, hin zum Fernseher: Mein Gott, Pele!)

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung von Rainer Strobelt.

Wenn man bei zeitgenössischer Lyrik auch Vorsicht walten lassen sollte, wenn es darum geht, die Intention des Autors zu ergründen, vermute ich einfach mal einen direkten Zusammenhang Weiterlesen

So nicht!

Ich bin noch ganz aufgewühlt.

Was sollte das denn gerade? Dabei bin ich sonst eher der bedächtige Typ. Also ruhig geblieben bin ich schon, ich hab ihm keine Szene gemacht, nicht rumgebrüllt oder Türen geschlagen, aber auf dem Heimweg hab ich es einfach nicht aus dem Kopf gekriegt. Wünscht er mir alles Gute. Ich kenne den Mann nicht. Habe ihn nie zuvor gesehen – und er wünscht mir alles Gute.

Ich darf doch wohl bitten. Geht’s denn noch?

Eine rein geschäftsmäßige Begegnung. Unterlagen abholen. Guten Morgen. Danke schön. Bitte schön. Und alles Gute für Sie.

Hä? Wieso? Sehe ich so aus, als hätte ich das nötig? Weiß der mehr als ich?

Wir sind hier doch nicht in Italien! Nicht das ich etwas gegen Italien hätte. Ich habe keine Ahnung von Italien, kann ja nicht mal Italienisch. Aber diese spontane Emotionalität… die verbindet man Weiterlesen

Aussteiger

Sieben Uhr elf stand auf dem Fahrplan, immer noch. Wie jeden Tag. Ich blickte auf die Bahnhofsuhr, dann kontrollierte ich sicherheitshalber noch einmal meine Funkarmbanduhr: Verspätung!
„Bitte steigen Sie ein. Die Türen schließen automatisch. Ihr Zug fährt jetzt ab.“
Überall Koffer. Kinder, die ihr Bestes taten, um verloren zu gehen, um sogleich die glückliche Wiedervereinigung mit den fast schon verzweifelten Eltern genießen zu können. Paare, die sich für Tage, Wochen oder Monate trennten.

Die obersten Stufen nahm ich im Sprint, erreichte im letzten Moment den Waggon, in dessen Tür der Schaffner stand und das Abfahrtsignal gab und fand mich gleich darauf auf einem der letzten freien Plätze. Sieben Uhr dreizehn, langsam setzte sich der Bahnsteig in Bewegung und glitt mit zunehmender Geschwindigkeit vor dem Fenster vorbei.

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