Als die Zeit kurz einmal stillstand

Als die Zeit kurz einmal stillstand

Manchmal ist es einfacher, etwas in der dritten Person Singular zu erzählen, auch wenn man von sich selbst erzählen könnte, aber man will eben lieber nicht. So blöd möchte man selbst eben nicht sein, er aber schon und über ihn kann man auch selbst schmunzeln. Er also… hatte nur kurz etwas nachgesehen. Man kennt das ja, irgendein Wort, irgendeinen Namen, irgendein Datum, immer gibt es etwas, was man gerade nicht weiß und deshalb hatte er mitten im Laden stehend sein Smartphone gezückt und ganz schnell mal nachgelesen, während seine Frau und seine Töchter, ohne die er im Übrigen diesen Laden nie betreten hätte, um ihn herum alles zum Kauf dargebotene anfassten, wie es für Frauen in kosmischen Gesetzen von universeller Gültigkeit festgeschrieben ist. Schließlich löste er sich aus seiner Versenkung und kehrte in die Gegenwart zurück, sah sich um und stellte fest, dass er allein war.

Nicht, dass er in seiner tiefen Konzentration Jahre und Jahrhunderte selbstvergessen hinter sich gelassen hatte und nun, nach etlichen irdischen Katastrophen allein auf dem Planeten, dem Erdteil oder zumindest in dem Fachgeschäft zurückgeblieben wäre, nein, es war immer noch das gleiche Jahr, noch immer Dezember und noch immer wuselten Menschen um ihn herum. Also eigentlich nur Frauen und seine waren nicht darunter. Er war allein unter Frauen in einem dieser Gedönsgeschäfte, einem Fachhandel für Dekoration, Country Living, Design, Düfte, Living at Home, Haus und Garten, die schöne Küche und das geschmackvolle Klo.

Er stand da, groß, schlecht rasiert, in seinem schwarzen Mantel, mit der billigen Kappe auf dem Kopf und war das personifizierte Gegenteil von all dem, wofür dieser Laden stand. Niemand sah ihn an, so, wie wohlerzogene Menschen eben ein kleines Missgeschick ignorieren. Er schien nicht einmal im Wege zu stehen, so, wie ein Fußballschiedsrichter ja auch fast nie im Wege steht, das Geschehen spielte sich eben um ihn herum ab.

Wenn es doch wenigstens irgendetwas, irgendeine Kleinigkeit gegeben hätte, die ihn auch nur für fünf Pfennig interessieren könnte, aber da war nichts. Kleine, ge- oder entfärbte Kürbisse unter gläsernen Halbkugeln. Überdimensionierte Muscheln aus Terrakotta? Als habe Vater Neptun nicht genügend Material über alle Küsten dieser Welt verteilt! Panisch sah er sich nach seinen Liebsten um – vergeblich  – oder wenigstens nach Leidensgenossen, aber nein, die standen natürlich draußen rum, standhaft im Regen.

Dann, er hatte geahnt, dass das geschehen würde, fasste ihn eine Verkäuferin ins Auge und kam direkt auf ihn zu. War da irgendwo eine Säule, hinter der er sich verbergen, eine Umkleidekabine, in die er flüchten könnte? Konnte er sich einfach auf den Boden fallen lassen und nach etwas tasten, nach verlorenen Kontaktlinsen oder der Visitenkarte, auf der die Adresse des Hotels und der Name einer Verantwortlichen stand? Schon schritt das Verhängnis entschlossen auf ihn zu, da zupfte jemand an seinem Ärmel. „Willst du noch etwas schauen oder können wir jetzt weiter?“

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Kein schnelles Geld

Kein schnelles Geld

Wenn ich etwas hab, dann Zeit. Nicht gleich morgens, da ist es hektisch. Frühstück, Zeitung lesen, aufräumen, die Mahlzeiten des Tages planen. Verschieben, was sich verschieben lässt, weil es viel zu werden droht und dann los, einkaufen. Mit dem Einkaufszettel. Ich habe es auch mit einem retrograden Einkaufszettel versucht: erst einkaufen, dann aufschreiben. Das führt zu einer hundertprozentigen Übereinstimmung von Plan und Planerfüllung, weil ja nie etwas fehlt. Probleme, wie eine Krise bei der Toilettenpapierproduktion oder im Einkaufswagen vergessene Hefewürfel, treten nie auf, weil, was  nicht gekauft wurde, auch nicht auf die Liste kommt. Leider passte sich unser reales Konsumverhalten nicht der nachträglichen Planung an. Was nicht da ist, fehlt, auch wenn es nicht vergessen, sondern einfach nur nicht gekauft wurde.

Im Supermarkt husche ich zielstrebig durch die Regalreihen. An der Käsetheke drängele ich mich vor, natürlich  unter Verweis auf mein Alter. Wir Rentner dürfen das, weil unsere Zeit knapper als die aller anderen ist. Auf den letzten Metern vor der Kasse überhole ich entschlossen noch jeden und jede, die einen Moment zögern, eine sich vor ihrem Einkaufswagen auftuende Lücke augenblicklich wieder zu schließen.

Noch vor kurzem las ich, dass man sich nicht darauf verlassen soll, welche Schlange vor den Kassen länger scheint. Man kann nämlich mit einer alten Kulturtechnik, dem sogenannten Zählen, feststellen, wie viele Menschen tatsächlich vor einer Kasse warteten. Das klingt genauso überzeugend, wie es falsch ist, denn im Zweifelsfall sollte man nur darauf achten, dass ich nicht vorn in der Reihe stehe, denn, wie gesagt, nun habe ich Zeit.

Ich schiebe mich langsam auf die Kasse zu wie der Eisberg auf das Nordmeer, studiere die Quengelware, betrachte die Abbildungen auf Weiterlesen

Die Abrechnung

Von FOTO:Fortepan — ID 1731:Adományozó/Donor: UVATERV.Archivkopie – http://www.fortepan.hu/_photo/download/fortepan_5273.jpg Archivkopie, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49127581

„Entschuldigen Sie bitte, aber was machen Sie da?“ fragte die Verkäuferin und schon fühlte ich mich ertappt. Nicht dass ich etwas angestellt, gegen Anstand oder Abstand verstoßen oder mich gar des Ladendiebstahls schuldig gemacht hätte. Vermutlich ist dieses Gefühl der Beweis für die Existenz der Erbsünde.

Es war auch gleich leiser geworden, sicher, weil alle nach einer hastigen Gewissensprüfung festgestellt hatten, dass sie nicht gemeint waren und augenblicklich vom Opfer zum Gaffer mutierten. Alle bis auf die Kundin, die Sachen aus ihrem Einkaufswagen auf das Kassenlaufband packte. Leider an der geschlossenen Kasse 2.

Besagte Kundin, nennen wir sie Frau Koch, blickte kurz auf und sofort war mir klar, dass wir uns nicht am Ende einer Geschichte, sondern gerade erst an ihrem Anfang befanden. Es gibt Menschen – und Frau Koch gehörte dazu – die nicht einfach nur anwesend  sind, sondern, wie sag ich das: gegenwärtiger als andere. Menschen, denen man ansieht, dass sie ständig bereit sind, sich die Welt untertan zu machen. Menschen, die sich von der lethargischen Masse abheben, so, als gehörten sie zu einer anderen Gattung, zu den Erweckten, den Auserwählten oder vielleicht einfach auch nur zu den Dreisten.

Frau Koch zögerte kurz, dann wuchtete sie einfach weiter Artikel um  Artikel auf das Band. Frau Orlow, der Name stand auf dem Plastikschildchen am Kittel der Verkäuferin, probierte einen neuen Gesichtsausdruck aus: empörte Überraschung mit einem Hauch Belustigung. Es gibt bestimmt ein entsprechendes Emoji. Doch noch bevor sie eine deutlichere Botschaft formulieren konnte, sprach sie ein älterer, etwas hilflos wirkender Mann an. „Die weißen Bohnen in Tomatensoße…?“

„Zweite Regalreihe von rechts. Unteres Fach. Neben den Linsen mit Suppengrün“, kam Weiterlesen

Ausgezählt

Aus. Vorbei. Das war’s.

Mein letzter Arbeitstag liegt hinter mir. Ein frei gewählter Abschied. Nein, es fällt keine Last von mir ab, meine Arbeit habe ich selten als Mühe empfunden, oft hat sie sogar Spaß gemacht. Dennoch: Es ist gut so. Jetzt will ich tun, was ich tun will, meinen Wecker stellen, weil ich aufstehen will und ein Buch zu Ende lesen, auch wenn es spät wird.

Noch fühlt es sich wie Urlaub an.

Seltsam war es schon, Dinge ein letztes Mal zu tun. Den letzten Eintrag im Klassenbuch vornehmen, das letzte Mal die Tafel putzen, letzte Fotokopien machen. Das letzte Mal den Weg zur Bahnhaltestelle Münster-Zentrum-Nord gehen. Wehmut? Nein. Keine Spur. Ferien für immer. Ach, bei der Gelegenheit habe ich auch gleich das Rauchen aufgegeben. War so geplant. Letzter Arbeitstag, letzte Zigarette.

Ich gehe einkaufen. Nein, das gehört Weiterlesen

Shopping Queens: Einkaufserlebnisse

Die Feststellung, das männliches und weibliches Einkaufverhalten sich unterscheiden, ist nicht wirklich neu. Es gibt allerdings immer wieder Situationen, in denen dieser Unterschied so deutlich wird, dass er praktisch schon als Text vor mir steht, den ich nur noch abschreiben muss: Was ich hiermit tue.

Ich nehme an, dass bei Frauen bereits bei ihrer Geburt ein auf mysteriöse Weise in ihren Genpool eingeschleuster Vertrag mit dem weltweiten Einzelhandel wirksam wird, der die Verpflichtung beinhaltet, ein Geschäft nicht zu verlassen, ohne jeden angebotenen Artikel prüfend in die Hand genommen zu haben – Tiefkühlkost ausgenommen. Ja, ich gebe zu, dass ich übertreibe. Es ist möglich, dass es Frauen gibt, die das nicht tun, ich habe zwar noch keine gesehen… aber ich lasse mich gern von den Millionen Leserinnen und Lesern dieses Blocks eines Besseren belehren.

Männern ist diese qualvolle Pflicht erspart geblieben, ja, qualvoll, denn so verlängert sich jeder Einkauf beim simpelsten Discounter auf die Dauer einer Expedition, die schon die Mitnahme von Lunchpaketen, einheimischen Führern und Leuchtraketen rechtfertigen würde. Männer hingegen – und ich bin nicht frauenfeindlich – betreten den Laden, steuern zielgerichtet die zwei, drei Artikel an, die auf ihrem Einkaufszettel stehen, zahlen und gehen.
Und was Frauen erst kaufen! Gerade erst erzählte mir eine begeisterte Schuhkäuferin, dass sie Schuhe besitze, die sie nur zum Sitzen tragen könne. Stehen geschweige denn Gehen seien mit diesen Schuhen ausgeschlossen, aber sie wäre so toll, dass sie… aber das sagte ich ja schon. Vermutlich – aber das würde sie sicher leugnen – sind diese Schuhe auch noch mindestens eine Nummer zu klein, weil das einfach besser aussieht.

Schuhe können dein Leben verändern, frag Aschenputtel‘, heißt es in der Schuhwerbung. Allerdings übersieht sie wohl nicht zufällig die Stiefschwestern Aschenputtels, die nur wegen eines zu kleinen goldenen Schuhs eine Zehe, ein Stück der Ferse und später sogar ihr Augenlicht verloren. So, keine Zeit für mehr Text, ich muss los. Shoppen.