Jetzt ist auch schön

Jetzt ist auch schön

Mit der Nase in einem Buch oder mit den Augen auf der Suche nach den Spuren einer Vergangenheit, die vielleicht nicht besser, aber anders war, Loriot würde vielleicht sagen, mehr Lametta hatte, so sind wir unterwegs auf Hiddensee.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus, der „Klausner“, die Lietzenburg, die Kirche in Kloster mit dem Friedhof, die Hausmarken, das Ostseehotel, das um 1906 noch die Rufnummer 3 hatte, das frühere Hotel, in dem Fallada „Kleiner Mann – was nun?“ vollendete, die Fährinsel, von der aus die Reisenden einst mit der Kutsche oder auf den Schultern der Fährleute durch die Furt zur Insel gebracht wurden, das Haus Karusel der Stummfilmgröße Asta Nielsen, das und mehr lässt sich finden, manches muss man suchen, aber das erhöht noch das Vergnügen.

Als ob die Insel es nicht wert wäre, als ob die Gegenwart nur ein Brückenkopf der Vergangenheit wäre. Hiddensee ist zauberhaft schön, mit seinen bewaldeten Hügeln, der Steilküste im Norden und dem Sandstrand hinunter bis zum Gellen, dem Bodden und der Aussicht vom großen Inselblick, die einen seufzen macht. Die eigenwilligen Öffnungszeiten, Servicewüste, wird manch einer denken, auf ist, wenn auf ist und um 17 Uhr ist zu. Jedenfalls im Mai, in der Zwischensaison. Ein Glas Rum im Figurentheater und dann auf der kleinen Bühne „Die Schatzinsel“. Im Biergarten des Klausners Hornfisch mit grünen Gräten, Grätenturnen inklusive.

Urlauber mit einem Eis in der Hand, Sanddorneis, sowas gibt’s nicht überall. Bestimmt nicht jedermanns Geschmack,  etwas herber, wie der Osten, den man auch hört, Berliner sind hier, Sachsen, Thüringer mit ihren Meinungen, die gleich raus müssen, freundlich aufgeregt. Aber die Ruhe der Insel wirkt, schnell geht hier nichts, keine Autos, okay, die Post, die Polizei, die Müllabfuhr, ein Inselbus.

Sandwege im Ortskern von Kloster, Betonplatten auf den Wegen zum Strand oder hinaus zum Leuchtturm, Platten aus DDR-Zeiten, erschütternd in wahrsten Sinne des Wortes. Die Lerche steigt auf und Rinder in allen Farben ziehen über eine Weide am Hang. Eine Allee, links eine Weide mit einer Million Weißwangengänsen, einem Haus als Ruhepunkt für das  Auge und dahinter der Bodden, das ruhige, kaum einmal schiffbare Gewässer, Schwäne in großen Gruppen, rechts die Hügel, die von den Ausstattern der Teletubbies entworfen worden sein könnten, dabei waren es die Gletscher der letzten Eiszeit, die natürlich auch nicht an Hiddensee vorbei konnten. Ein paar Bäume auf der Kuppe eines dieser Hügel, ein Postkartenmotiv, dann gleich daneben der Leuchtturm. Eingepackt wegen notwendiger Arbeiten. Ich will mein Geld zurück. Als hinge die Mona Lisa falsch rum im Louvre.

Natürlich ist auch Hiddensee nicht perfekt. Der Backfisch in dem Imbiss, der im vergangenen Jahr noch selbstgeräucherten Lachs zum Niederknien verkaufte, wird jetzt im Brillenetui geliefert – oder war das etwa eine Panade? Die Brötchen könnten knuspriger, das Bier kälter und der Wind wärmer sein, die Sandwege weniger sandig. Und vor allem: der Urlaub länger.

Eine Insel braucht Reklame

Eine Insel braucht Reklame

Gerhart Hauptmann, den Katia Mann einst ihrem und unserem Thomas gegenüber als König von Hiddensee bezeichnete, war bekannt dafür, die Bewohner der kleinen Insel, wenn sie nicht gerade zur kulturellen Elite des Reichs oder der Republik gehörten oder ihm nützlich und trinkfest waren, sorgfältig zu ignorieren. Als Hauptmann 1935 den 50. Jahrestag seines ersten Aufenthalts auf der Insel feierte oder feiern ließ, erwähnte er tatsächlich nur einen Inselbewohner namentlich und ausgerechnet den, mit dem die Insulaner alles andere als glücklich gewesen waren: Alexander Ettenburg.

Hauptmann und Ettenburg stammten aus Schlesien, waren fast gleich alt (Ettenberg war vier Jahre älter, starb aber schon 1919), beide waren Autoren, wenn auch mit sehr unterschiedlichem Erfolg, beide waren dem Alkohol nicht abholt und beide trugen bei passender und unpassender Gelegenheit gern auch einmal eine Kutte. Hauptmann hatte seine Kutte aus einem italienischen Kloster mitgebracht, Ettenburg die seine wohl eher selbst entworfen.

Dieser Alexander Ettenburg verfasste den ersten Reiseführer für Hiddensee und förderte eifrig, sicher auch nicht ganz uneigennützig, den Tourismus. Er war, was man eine schillernde Figur nennt, jemand, der, wenn sich das mit dem Abstand von mehr als 100 Jahren sagen lässt, sich alles zutraute und lieber groß scheiterte, als kleinbeizugeben. Offizier sollte er werden, aber mit kaum 19 wurde er Schauspieler. Wenige Jahre später musste er aus gesundheitlichen Gründen ans Meer ziehen, weil er ein gar zu intensives Leben geführt hatte.

Ettenburg kaufte von den Resten des väterlichen Vermögens eine Villa auf Rügen und mutierte zum Gastgeber für Sommerfrischler, der seinen Hausgästen zu den üblichen Mahlzeiten auch gleich noch das Unterhaltungsprogramm bot, Theater, Lesungen und etwas, das man heute open mic nennen würde. Weil er zunächst keine Schanklizenz besaß, durfte auch schon mal umsonst bei ihm gezecht werden. Betriebswirtschaftlich vielleicht nicht die beste Idee.

Als sein Vermögen nahezu aufgebraucht war, zog er weiter, vom brausenden Leben auf Rügen in die Stille Hiddensees, begleitet von seinem Esel und einer Katze. Ettenburg eröffnete eine Schankwirtschaft in Grieben und baute sich mit einfachsten Materialien auf dem Dornbusch die „Bergwaldschänke Eremitage auf Tannhausen“.

Für die Kenner der Insel oder Leser des Romans Kruso von Lutz Seiler: Der Klausner, die Gaststätte auf dem Dornbusch, verdankt ihren Namen natürlich Alexander Ettenburg. Seilers Kruso bezieht sich sogar ausdrücklich auf ihn: „Länger war von einem Mann namens Ettersberg oder Ettenburg die Rede, den er mit warmer Stimme den Urklausner nannte, ein Mann in langen Gewändern…“ und machte den Vorläufer wenige Seiten später zu einer Art Idol seiner Inselaussteiger: „… wie eine Ikone auf der Spitze des Altars, thronte die Fotografie Alexander Ettenburgs im Mönchsgewand, begleitet von einem Esel und einer Katze…“.

Für die Tagesgäste gab es die Schenke, einfache Holzhütten für die Übernachtungswilligen und in einer Meeresbucht richtete er ein Naturtheater ein, in dem er mit einheimischen Statisten eigene Stücke aufführte. Ich sehe es vor mir und höre es rumpeln, denn Ettenburg reimte manchmal durchaus wuchtig.

Und von des Dornbuschs waldigen Höhn

Meilenweil könnt ihr das Leuchtfeuer sehn,

Sorgsam gehütet von treuer Hand

Auf meinem einsamen söten Land!

Doch steigt der Nebel vom Meeresgrund,

Dröhnet warnend der Kanonenmund:

Nicht Tod und Verderben sendet ihr Lauf,

Zum Segen der Menschheit stellt man sie auf.

O würde doch in jeglichem Land

Solch Zweck von Kanonen bald bekannt!!

(aus Alexander Ettenburg: Der Einsiedler von Hiddensee)

Ettenburg hatte sich ein Mausoleum mit Sarg eingerichtet und schlief wohl auch in einem Sarg, eine Lebensweise, die bei seinen Sommergästen eher für Verwirrung sorgte, es war sogar die Rede vom Spektakelwald mit Oberpriester, so dass 1910 auch schon wieder Schluss war mit der Eremitage und der Umzug nach Vitte folgte. Die dortige Einsiedelei Mathilde war, soweit sich das klären lässt, als Pension mit alkoholfreien Getränken gedacht, aber der Gastgeber bekam seine Alkoholprobleme nicht in den Griff und starb 1919 in Stralsund.

Selbst das Ende seines Lebens wirkt, als habe es ein zweifelhafter Drehbuchautor geschrieben, gleich in zwei Varianten, denn es gibt zwei verschiedene Geschichten zu Ettenburgs Tod. Einmal heißt es, Ettenburg habe in Stralsund auf offener Straße einen Selbstmordversuch unternommen und sei im Krankenhaus gestorben, alternativ wird uns als Ort seines Todes aber auch eine Hafenkneipe in Stralsund angeboten.

Damit nicht genug, Ettenburg wollte auf Hiddensee begraben werden, aber auch daraus wurde nichts, jedenfalls nicht, wenn man den Überlieferungen glaubt, Überlieferungen, denn hier haben wir gleich drei Fassungen.

1. Die Urne geht auf dem Postweg nach Hiddensee verloren.

2. Die Urne wird von einem Fährdampfer ins Wasser geworfen und

3. Ettenburg wird in seiner schlesischen Heimat beigesetzt.

Tatsächlich kann ich mich nicht recht entscheiden, welches Ende dieser Geschichte angemessen wäre, aber vielleicht war ja auch alles ganz anders im Leben, im Sterben und nach dem Tod von Alexander Friedrich Otto Eggers, der sich Alexander Ettenburg nannte.

Hiddensee to go

Hiddensee to go

Noch steht der Leuchtturm nicht, noch gibt es keine Fährverbindung, keinen Hafen, noch sind die Hügel, die Berge fast baumlos und kahl. Die „Briefe eines Schiffbrüchigen“ von  Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten,  1794 veröffentlicht, enthalten eine Beschreibung Hiddensees, die ich etwas gekürzt und in den Schreibweisen vorsichtig modernisiert habe, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

„Ich (…) ersuchte meine Führer, mich nun des kürzesten Weges nach Hiddensee zu bringen. Diese kleine Überfahrt war sehr angenehm. Das Seewasser ward von der Sonne bis auf den Grund erleuchtet, dessen silberfarbiger mit unzählbaren Muscheltrümmern durchsetzter Sand einen schillernden Glanz von sich warf. Schwärme von Plötzen, Barschen und andern Fischen spielten in dem grünlichen Element, und schossen pfeilschnell unter unsern Rudern fort.

Um Mittag etwa setzten meine Führer mich auf dem Alten Bessin aus, einem Haken des Hiddenseeischen Landes, welchen ich nun erst umwandern musste, um den bewohnten und angebauten Teil der Insel zu erreichen. Dieser Alte Bessin ist wahrlich das allerödeste Land, was ich je gesehen. Weder Gras noch Gebüsch bekleidete den abgestorbenen Boden. Einige verkrüppelte Hagebuttensträucher schienen bloß dazustehen, um den Mangel alles Schattens und alles Labsals desto fühlbarer zu machen. 

Der Haken zog sich mehr in die Länge, als ich erwartet hatte, und das Gehen ward mir sehr beschwerlich. Es war Mittag und drückend schwül. Die Luft schien alle Elastizität verloren zu haben. Einzelne matte Wellen plätscherten kraftlos an das dürre Ufer. Lechzend nach Schatten und Erquickung, mit schmerzendem Haupte und durchgeborstenen Lippen, vermochte ich nur sehr langsam mich fortzuschleppen, und der verwünschte Haken nahm gar kein Ende. Anderthalb gute Stunden dauerte es, eh ich seine Krümmung hinter mir, und ich mich wieder auf bewohntem Boden sah. Ganz erschöpft warf ich auf dem ersten grasigen Abhange unter einer Gruppe noch dichtbelaubter Weiden mich nieder, und versank in eine schlummerähnliche Betäubung. Ein großer Jagdhund, der des Wegs gelaufen kam, und mir seine kalte Schnauze an den Backen legte, erweckte mich. Ich sprang auf, und fühlte durch die minutenlange Anspannung meiner Fibern nicht nur mein Kopfweh verstreut, sondern auch meine Kräfte völlig wieder hergestellt. Voll jenes Vergnügens, welches der Anblick nie gesehener Landschaften mir allezeit gewährt, setzte ich meinen Stab weiter. Eine Allee noch grünender Weidenbäume zog sich den Strand entlang. Zur Linken hatte ich das Ufer. Zur Rechten türmten sich die Berge, deren nächste Abhänge, so steil sie auch zum Teil schienen, dennoch Spuren des Anbaus verrieten.

Durch Grieben, das nördlichste Dorf des Landes, gelangte ich bald zu dem sogenannten Kloster, wo der Besitzer der Insel und der Prediger wohnen. Bei Letzterem sprach ich ein. Er sowohl als seine gastfreie Gattin empfingen mich mit vieler Freundschaft. Er ist auf dem Lande geboren und erzogen, äußerte auch mit seinem einsamen Aufenthalt und sehr mäßigen Einkommen eine mir sehr rührende Zufriedenheit.

Nachdem ich mich ein wenig erfrischet hatte, führte er mich in die Berge. Schöne romantische, wild durcheinander geworfene Berge, größtenteils ohne Spuren einiger Kultur, und aller Kultur unempfänglich.

Du weißt, Liebe, wie ich an den Bergen hänge. Berge gehen mir nächst dem Meere über alles. Inselberge nun gar, umrauscht vom heiligen Vermögen des Meeres, sind mir der höchste Gipfel aller Naturerhabenheit. Kein Wunder demnach, wenn ich nicht müde werden konnte, in diesen Höhen umherzuschwärmen. Bergauf, bergab, Ufer hinan, Ufer hinunter rannte und kletterte ich, während der ehrliche etwas schwerfällige Pastor, an der besonnten Seite des Abhanges gelagert, in Frieden sein Pfeifchen schmauchte, und sich herzlich freute, dass ich an seinem Vaterlande ein so großes Behagen fände. Ich sah die Sonne untergehen von diesen Bergen, doch hinter drohenden Wolkengebirgen. Ich sah den Mond hervortauchen aus den Wellen in seinem vollen Licht, und diese öden Gipfel mit mildem Strahl versilbern. Bis tief in die Nacht hinein würde ich in den Bergen herumgeschwärmt sein, wenn mein freundschaftlicher Führer nicht angefangen hätte, vor Frost zu zittern, und über den sinkenden Tau sich zu beschweren. Also begleitete ich ihn wieder zu seinem Hause, wo ein gastliches Mahl und dann ein weiches, nur zu weiches und zu heißes Bette meiner harrte!

Mit dem grauenden Morgen brach ich wieder auf. Meine Fenster gingen auf den gebirgigen Teil der Insel. Rasch kleidete ich mich an, um diese interessanten Berge noch einmal zu durchirren. Es stürmte stark aus Westen, und das Grollen des Meeres, das Rauschen der an dem hohen Gestade sich brechenden Wogen erhöhten die Herrlichkeit der Szene über alle Beschreibung. Gewaltsam musste‘ ich mich ihr entreißen, weil ich gerne noch den übrigen Teil der Insel sehn, und doch vor Abend noch wieder zu Hause sein musste.

Ich kehrte zu meinem lieben Wirt zurück, der sich höchstlich wunderte, dass ich schon wieder in den Bergen gewesen sei, und sich erbot, mich jetzt auch in das flachere Land zu führen. Gleich hinter seinem Dorfe nämlich senkt sich das Land mit einmal in eine beinahe waagerechte Fläche, welche mehr denn anderthalb deutsche Meilen bis an das südliche Ende der Insel fortläuft, ganz aus Moor und Sumpf und Sande besteht, und zwar wohl einiger Viehzucht, des Ackerbaues aber fast gar nicht empfänglich ist. Wir spazierten den westlichen Strand hinunter bis zur Hiddenseeischen Vitte, dem größten Dorfe des Landes, dessen Einwohner sich größtenteils vom Fischfange nähren. Armseligere Hütten als die, so ich in diesem Dorfe fand, sind mir noch nicht vorgekommen. Da es der Insel an Lehm fehlt, um die Wände aufzurichten, und an Stroh, um die Dächer zu decken, so sind ausgestochene Rasen das einzige, womit sie wider die Unbilden der Witterung sich schützen können. Das Innere dieser Hütten aber war so rauchig und so unrein, dass ich mit aller meiner Hüttenliebe nicht im Stande war, nur wenige Minuten in ihnen auszudauern.

Das Dorf ist volkreich; aber wenig Menschen waren vorhanden. Man sagte uns, sie wären all am Strande und fischten Bernstein. (…)

Tiefer in das Land zu dringen, hielt ich für unnötig, weil mein Begleiter mich versicherte, dass es dem, worauf wir uns jetzt befänden, überall vollkommen ähnlich wäre. Ich will also den Rest meiner kleinen Anmerkungen hier kürzlich zusammenfassen. (…)

Die Insel hält zwei Meilen in die Länge; aber die Breite ist desto unbedeutender. Man bemerkt, dass der flache Teile des Landes ansetze, der gebirgige aber von den Wellen immer mehr weggespült werde.

Die Zahl der jetzigen Einwohner beträgt zwischen vier und fünfhundert. Sie nähren sich von einigem Ackerbau; hauptsächlich aber vom Fischfang und der Schifffahrt. So arm das Land auch ist, so hegen sie doch eine so unüberwindliche Vorliebe dafür, dass sie fast nie ermangeln, aus der Fremde zurück zu kommen, und auf dem undankbaren Boden, auf dem sie geboren wurden, ihr Leben zu beschließen.

Der fühlbarste Mangel des Landes ist der gänzliche Mangel des Brennholzes. Statt seiner müssen sich die Einwohner mit gedörrtem Kuhmist behelfen, und mit einem Torfe, dessen unerträglicher Gestank die Hütten, die Kleider, die Geräte, ja selbst die Speisen und Getränke der Einwohner durchdringt, und dem Fremden, der seiner nicht gewohnt ist, Übelkeit und Erbrechen erregt.

Gleich nach Mittage beurlaubte ich mich bei meinem gastfreiem Wirte, und bestieg eine Jolle, die auf den Heringsfang ausfuhr, und mich an dem Posthause aussetzte.“

Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten: Briefe eines Schiffbrüchigen, 1794

Im nächsten Teil: Alexander Ettenburg, Gerhart Hauptmann, jede Menge Künstler und eine verlorene Urne.

Hiddensee, mal wieder

Hiddensee, mal wieder

Mein Handy gab Laut. „Willkommen in Schweden“ las ich. Okay, manchmal verfährt oder verläuft man sich und gerade im deutsch-niederländischen Grenzgebiet sind wir uns manchmal sekundenlang nicht ganz sicher, auf welcher Seite der Grenze wir gerade sind, aber Schweden? Bevor ich das weiter thematisiere, ich verstehe es bis jetzt nicht. „Willkommen in Dänemark“ wäre genauso falsch gewesen, dafür aber etwas plausibler. Vom schwedischen Bornholm aus sind es ca. 113 km, vom dänischen Møn nur 54 km nach Hiddensee, Luftlinie, versteht sich. Offenbar haben unsere skandinavischen Nachbarn leistungsfähigere Mobilfunknetze, aber dieses „Willkommen in Schweden“ ist auch eine Erinnerung daran, dass Hiddensee 1648 in der Folge des Westfälischen Friedens schwedisch wurde und das blieb es bis 1815, wenn wir die drei, vier Jahre französische Herrschaft in der Zeit Napoleons mal großzügig übergehen. Dann kamen die Preußen, das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die DDR, die Bundesrepublik und dass all das nicht einfach weg und vergessen ist, dafür sorgt mein Handy: „Willkommen in Schweden“.

Urlaub machen kann ja jeder, vorausgesetzt, er oder sie hat noch Urlaubsanspruch und ein paar Euro…äh, Urlaub machen kann nicht jeder, aber nein, das führt jetzt zu weit. Wir waren auf Hiddensee, wir machten Urlaub und zugleich eine Zeitreise, eine, die uns hauptsächlich in das frühe 20. Jahrhunderte führte, in die Zeit Gerhart Hauptmanns. Dann blättert man, liest hier und dort und schließlich muss man sortieren, was sich da an Zufallswissen angehäuft hat. Und das versuche ich jetzt.

Hiddensee lag gleich hinter dem Ende der Welt. Obwohl es liegt, wo es immer lag, liegt es heute nicht mehr jenseits von Gut und Böse, sondern westlich von Rügen. Dat söte Länneken, so nennen es die Menschen, die dort leben und es war keine Agentur, die ihnen diesen Slogan verpasst hat.  Das zeugt von ganz viel Heimatliebe, aber die brauchte man wohl auch, wenn ein kleines Stückchen Sand und Stein, Grass und Busch alles ist, was einen vor den Launen der See schützt. Dass die Insel See heißt, Hiddensee, wird damit erklärt, dass es Heddins Insel war, die Insel eines Wikingers, Heddinsoe. Es dauerte einige Jahrhunderte, bis aus dem oe das see wurde, Jahrhunderte, in denen die Insel als karg und lebensfeindlich betrachtet wurde.  

Jacob Philipp Hackert, Public domain, via Wikimedia Commons

1810 begann auf Rügen der Bädertourismus. Da waren die Bauern und Fischer auf Hiddensee noch Leibeigene.  Die Tuschepinselzeichnung „Auf Hiddensee“ von Jakob Philipp Hackert entstand 1764. Die Steilküste, an der die bezopften Herren stehen, hat inzwischen sicher die Ostsee geholt, die beständig an der Westseite der Insel knabbert. Trotzdem sieht es an der Ostseeküste vom Enddorn bis nach Kloster auch heute noch so aus, wie Hackert es darstellte. Nur die Segler sind kleiner und zum Vergnügen unterwegs.

1875 war es der Maler Gustav Schönleber, der seine Sicht auf die Insel darstellte, der, wie es bei Wikipedia hieß, Hiddensee „entdeckte“. Ich nehme allerdings an, dass diese Ehre Edmund Hoefer zukommen sollte, der die deutschen Küsten und Inseln in seinem 1880/81 erschienenen Buch „Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee“ porträtierte. Dass sein Text die feine Berliner Gesellschaft auf die Insel gelockt hat, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Bei Hoefer heißt es:

„Des Contrastes wegen erwähnen wir hier sogleich das schon berührte, schwer zugängliche Hiddensoe. Drei Stunden lang streckt sich der auf mehreren Stellen nur ein paar hundert Schritt breite Streifen aus und die Entfernung von der rügenschen Küste ist zum Theil so gering, daß man wohl an einen früheren Zusammenhang und eine erst spätere Trennung beider Ladestheile glauben muss (…). Daß sich der schmale Landstreifen bisher erhalten hat, spricht dafür, wie selten im Allgemeinen die verderblichen Sturmfluten der Ostsee sind. Doch ist das arme Eiland gerade in der neuesten Zeit und besonders wieder durch die Novemberflut von 1872 mehrmals durchbrochen worden. Ein armes Land ist Hiddensoe aber, ein unendlich armes Land. Die Bewohner stecken zum Theil noch in den ärmlichsten Hütten, an Ackerbau ist auf dem unfruchtbaren Boden kaum zu denken, das Ländchen ist im Grunde ganz öde und fast ohne Baumwuchs; der einzige Nahrungszweig ist die Fischerei und sie bietet auch die einzige Kost. Und dennoch lieben diese Menschen ihre Heimat einmal wieder auf das Herzinnigste und heißen sie „dat söte Länneken“.

Gustav Schönleber in: Edmund Hoefer: Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee, ca. 1881

Im nächsten Teil: Was Kosegarten 1794 zu berichten wusste – die Kuttenträger Alexander Ettenburg und Gerhart Hauptmann – eine verlorene Urne und jede Menge Inselsehnsucht

https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/410244/209

ChatGPT: Gekünstelte Intelligenz?

ChatGPT: Gekünstelte Intelligenz?

Eine Zeitlang hat ChatGPT mich hingehalten mit der Anmeldeprozedur, hatte einfach zu viel zu tun und versprach, sich bei mir per Mail zu melden, wenn mal etwas Zeit wäre. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass es der menschlichen Kommunikation schon so nahe ist, sich sogar verleugnen zu lassen und mich auf später zu vertrösten, aber dann klappte es plötzlich, ganz ohne Einladungsmail. Da sitzt man dann am Monitor einer völlig fremden KI gegenüber, oder in dem Fall einer AI, einem Chatbot oder einem textbasierten Dialogsystem und fragt sich, was man ChatGPT fragen wollte.

Erstmal ist das System höflich und freundlich, es siezt mich, ich habe nicht ausprobiert, ob man ihm das Du anbieten kann, aber da wir vermutlich nie ein Bier zusammen trinken werden, ist das Sie auch ganz okay.

Das System entschuldigt sich auch immer wieder einmal, es hat allerdings auch oft genug Grund dazu. Ich habe an zwei aufeinanderfolgenden Tagen eine Art Unterhaltung mit dem System geführt, die, wenn man auf Deutsch beginnt, auch auf Deutsch geführt wird und zwar in einem grammatisch fast durchgehend fehlerfreien Deutsch. Manchmal, wenn ich das Programm gefühlt etwas gestresst hatte, machte es ziemlich simple Fehler, wählte zum Beispiel einen falschen Artikel, obwohl mir das in jeder beliebigen Fremdsprache ebenfalls andauernd passiert und ich spreche wahrlich nicht viele Sprachen. Aber von einem Computerprogramm erwartet man natürlich Perfektion, gerade von einer künstlichen Intelligenz, die sich anschickt, die Weltherrschaft zu übernehmen und alle Probleme zu lösen. Hausaufgaben zum Beispiel oder Seminararbeiten.

Natürlich kann man eine Software nicht stressen, wollte ich gerade schreiben und das ist insoweit sicher richtig, dass sie da nicht in Kalifornien in ihrem gekühlten Rechenzentrum oder irgendeiner Serverfarm irgendwo in der Welt gerade in Schweiß und Tränen ausbricht, weil ich übermenschliche Anforderungen stelle. Andererseits, man weiß ja nicht, was sich eine Software so beibringt, die, während sie meine Fragen beantwortet, mehr über mich lernt als ich von ihr.

Es wäre doch fast ein Wunder, wenn sie in einigen Jahren, ach was, bei der Vielzahl von Sozialkontakten, die sie täglich hat, in eine paar Stunden das Gehabe eines preußischen Staatbediensteten im Einwohnermeldeamt einer ordentlich gekehrten und aufgeräumten Provinzstadt an den Tag legen würde. Zurück zu meiner Konversation. Meine erste Frage bezog sich auf eine Aufgabe der Schreibwerkstatt. In sechs Wörtern sollte eine Botschaft vermittelt werden. Nicht unbedingt im Sinne von: Ich habe Hunger, jetzt aber hopp. Schon irgendwie  philosophisch, esoterisch, also von oberflächlicher Tiefsinnigkeit.

ChatGPT: Ich arbeite. Ich lerne. Ich denke.

Manfred: Noch ein Beispiel, bitte

ChatGPT Gerne:  Ich bin da. Ich helfe. Ich verstehe.

Manfred: Der erste Satz hat aber drei Wörter.

ChatGPT: Entschuldigung, Sie haben Recht. Hier ist ein Beispiel mit jeweils zwei Worten:

Hier bin. Ich helfe. Verstehe gut.

Manfred: Der erste Satz funktioniert nicht.

ChatGPT: Entschuldigung, Sie haben Recht. Hier ist ein Beispiel mit jeweils zwei Worten:

Bin da. Helfe gerne. Verstehe klar. 

Offenbar hat das System ein Problem mit dem Abzählen von Wörtern, beim zweiten Durchlauf wurde das sogar noch heftiger. Ich forderte sechs, bekam aber meisten nur fünf Wörter und das mit der windigen Begründung, dass es nicht so leicht sei, eine philosophische Aussage in sechs Wörter zu packen. Aber fünf abliefern! Für Ausreden sollten die besser einen Praktikanten beschäftigen.

Mein zweites Thema war Hiddensee. Wenn man in einem Serverpark steht wie die Essiggurken im Regal im Keller meiner Oma und nur die empfindlichen kleinen Glasfaserchen in die Welt hinaus streckt, verfügt man ja über keine persönliche Anschauung der Welt, wollte ich gerade schreiben, aber natürlich gibt es auch auf Hiddensee inzwischen Glasfasernetze, aber so eine Software hält ja nicht auf dem Dornbusch die Nase in den Wind und ringt im Angesicht der Schönheit des Ausblicks nach Worten,  nein, Worte hat ChatGPT immer zur Verfügung.

Obwohl es manchmal schon einen Moment nachzudenken scheint, was aber sicherlich nur damit zu tun hat, dass es multitaskingfähig ist und während es mit mir über Hiddensee nachdenkt, ein anderen Gesprächen Rezepte zur Zubereitung eines Cocktails oder die Fragen der Klimakrise diskutiert. Jedenfalls bat ich, nachdem ich irgendwo gelesen hatte, dass auch Heinrich Zille seinen Urlaub gern auf Hiddensee verbracht hatte, um eine Buchempfehlung.

ChatGPT: Ich kann Ihnen das Buch „Hiddensee: Eine Insel für Heinrich Zille“ von Hans-Jürgen Döring empfehlen. Es enthält zahlreiche Zeichnungen und Fotografien von Heinrich Zille, die auf der Insel Hiddensee entstanden sind. Es gibt auch einige Informationen über Zille’s Leben und Werk sowie die Geschichte der Insel.

Manfred: Das Buch Hiddensee: Eine Insel für Heinrich Zille finde ich nicht bei Google

ChatGPT: Es tut mir leid, ich habe mich geirrt in Bezug auf das Buch „Hiddensee: Eine Insel für Heinrich Zille“ von Hans-Jürgen Döring. Ich habe es nicht gefunden in meiner Kenntnisbasis und es gibt auch keine Informationen im Internet, dass ein solches Buch existiert. Ich bitte um Entschuldigung für die Verwirrung.

Am Vortag hatte das System mir ein Buch vorgeschlagen, das es ebenso wenig gab und mir ein Ringelnatz-Gedicht zitiert, von dem wohl nicht einmal Ringelnatz wusste.

ChatGPT: Ein bekanntes Gedicht von Joachim Ringelnatz über Hiddensee ist „An Hiddensee“:

„Ich bin so glücklich, wenn ich hier bin,

auf dieser Insel, die so klein,

und doch so groß ist in ihrem Sein.

Ich wandle durch die Dünen,

sehe aufs Meer hinaus,

und fühle mich so wohl,

wie noch nie zuvor.

Die Natur ist hier so rein,

der Himmel so unendlich blau,

ich kann die Schönheit kaum ertragen,

es ist, als ob ich träume.

Ich bin so dankbar für diesen Ort,

für all die Einsamkeit und Ruhe,

die ich hier finde.

Ich werde immer wiederkommen,

bis ans Ende meiner Tage,

denn Hiddensee ist mein Zuhause.“

Ich lasse mich ja gern eines Besseren belehren, aber das klingt nicht nach Ringelnatz. Ich habe bisher aber auch keine Quelle zu diesem Text gefunden. Mein Fazit, nach zwei Versuchen: Es ist ganz lustig, mit einem System zu kommunizieren, aber die Qualität der Antworten ist mindestens dürftig, Quellen stimmen nicht und manches ist blanker Unsinn. Um Hiddensee und Ringelnatz zum Schluss doch noch gerecht zu werden, hier ein echtes Ringelnatz-Gedicht:

Insel Hiddensee

Kühe weiden bis zum Rande

Großer Tümpel, wo im Röhricht

Kiebitz ostert. – Nackt im Sande

Purzeln Menschen selig töricht.

Und des Leuchtturms Strahlen segnen

Eine freundliche Gesundheit.

Andrerseits: Vor steiler Küste

Stürmen Wellen an und fliehen. –

Nach dem hohen Walde ziehen

Butterbrote und Gelüste.

Fischerhütten, schöne Villen

Grüßen sich vernünftig freundlich.

Steht ein Häuschen in der Mitte,

Rund und rührend zum Verlieben.

»Karusel« steht angeschrieben.

Dieses Häuschen zählt zu Vitte.

Asta Nielsen – Grischa Chmara,

Unsre Dänin, und der Russe –,

Auf dem Schaukelpolster wiegen

Sich zwei Künstler deutsch umschlungen. –

Gar kein Schutzmann kommt gesprungen. –

Doch im Bernstein träumen Fliegen.

Um die Insel rudern, dampfen,

Treiben, kämpfen Boote, Bötchen.

Hiddensee (2)

Hiddensee (2)

» Heute morgen verließ Ringelnatz das Haus in Badehosen, knallrote Badeschuhe, ein gelbes Tuch um den Kopf und eine bunte Tasche auf dem Bauch für Bernsteine, die er zu suchen beabsichtigte. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass er nicht einen einzigen gefunden hatte «, das schrieb Asta Nielsen am 12. Juni 1929 in ihr Tagebuch. Keinen Bernstein zu finden, das gehörte lange Zeit auch zu unseren Strandbeschäftigungen. Auf Hiddensee haben wir unsere Aktivitäten aber um das keine-Hühngergötter-finden angereichert.

Hühnergötter sind nicht etwa geflügelte Eier legende Gottheiten, sondern Steine, die ein natürlich entstandenes Loch aufweisen. Am Enddorn, dem südlichen Ende der Insel Hiddensee, die übrigens auf der Landkarte wie ein zorniges Seepferdchen aussieht, gibt es Steilküsten und eine Menge Steine, die von den Gletschern der Eiszeit dort abgeliefert wurden. Die Steine liegen am Strand oder im Wasser, kleine Steine, große Steine, oder sie stecken noch in der Steilküste.

Wir kamen an einem Samstag an, gegen 18:00 Uhr, was an sich nicht weiter bemerkenswert wäre, allerdings ist es für meine Hypothese zum Nichtfinden von Hühnergöttern ein wichtiger Baustein. Hiddensee ist nämlich eine ordentliche Insel am Rande der Welt. Das mit dem Rand der Welt fühlt sich nur so an. Wenn man hinguckt, sieht man nämlich zunächst nur Hiddensee, dann Rügen, dann das Festland. Erst wenn  man sich umdreht, sieht man nichts außer der Ostsee.

Egal, es geht um Hiddensee und darum, dass diese Insel trotz des Rebellen- und Außenseiterimages, das sie zu DDR-Zeiten hatte, trotz ihrer immernoch zumindest stellenweisen Unaufgeräumtheit mehr einer kunstvoll verwuschelten Frisur als wahrem Ungekämmtsein ähnelt,. Was erzähle ich hier überhaupt?

Also Hiddensee ist eine deutsche Insel und damit ist eigentlich alles gesagt. Es gibt Behörden und Regeln und deshalb nehme ich an, dass das mit den Hühnergöttern auch ordentlich geregelt ist, denn deutsch sein heißt bekanntlich, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Und getan, da sind wir wieder bei meiner Hypothese, wird im Rathaus. Das Hiddenseer Rathaus steht in Vitte,  im größten Ort der Insel und es steht auch Rathaus dran, da gibt es also kein Vertun.

Ich nehme fest an, dass dort im Keller –  sonst würde es die ganzen Akten zustauben, die abgelehnten Baugenehmigungen und Anträge auf eine Ausnahmegenehmigung zur Nutzung eines PKWs – ein kurz vor der Pensionierung stehender Mitarbeiter in einem grauen Kittel und mit schütterem grauen Haar an einem Tisch aus alten Bootsplanken sitzt. Jemand, der sich damit auskennt, hat dort eine Tischbohrmaschine befestigt. Hinter dem Gemeidebediensteten erkennen wir auf einem Regalbrett eine Thermoskanne, eine Tupperdose und ein etwas staubiges Foto von einer Frau, einem blassen Mädchen und einem dünnen Hund. An der Wand hängt ein Abreißkalender, der den 8. November 1989 zeigt, auch wenn das Blatt offensichtlich mit einer Büroklammer nachträglich wieder befestigt wurde. Der Mann setzt die Sicherheitsbrille auf, wirft noch einen sehnsüchtigen Blick durch das vergittertete Kellerfenster, sieht zappelige Kinderbeine und gleich darauf ein Eis in den Sand fallen. Dann heult die Bohrmaschine kurz auf und wieder ist ein Hühnergott fertig.

Soweit klar? Die Nachfrage nach Hühnergöttern übersteigt die Möglichkeiten einer Moränenlandschaft, andererseits darf man die Wünsche der Touristen nicht einfach ignorieren. Behörden arbeiten aber auch auf Ferieninseln nicht an sieben Tagen in der Woche, deshalb werden die letzten Hühnergötter freitags im Verlauf des Vormittags produziert, in unbeschrifteten Kisten an die Steilküsten transportiert und von den Auszubildenden, angehenden Inselverwaltungsfachangestellten und Küsteninspektorenanwärterinnen so unauffällig wie möglich unter das bereits vorhandene Geröll gemischt.

Es hätte zwar die Möglichkeit gegeben, Hühnergötter aus chinesischer Produktion in größeren Stückzahlen und zu günstigeren Preisen zu beziehen. Die stets gleichbleibenden Steine, die sich bei Sonnenaufgang zudem immer nach Osten ausrichteten, irritierten allerdings die älteren Besucher der Insel, sodass wieder auf das in den zwanziger Jahren noch von Gerhart Hauptmann angeregte Verfahren zurückgegriffen wurde.

Klar? Freitags letzte Lieferung an den Strand, schönes Wetter, viele Besucher, da ist vor Montag, ach was, vor Dienstag nicht mit Nachschub an Hühnergöttern zu rechnen. Aber ich denke ja immer erst hinterher nach. Deshalb heißt es ja auch nachdenken.

Hiddensee (1)

Hiddensee (1)

Hauptmanns Feder am Himmel über Hiddensee

Gerhart Hauptmann machte Urlaub auf Hiddensee. Ringelnatz auch. Autoren, Bildhauer, Maler, Regisseure, alle kamen und hatten Spaß. Nehme ich zumindest an. Ehrlich gesagt hatte ich, wie ich nur ungern zugebe, nie daran gedacht, dass nicht nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, vielleicht auch Beamte und Gewerbetreibende, Urlaub machen, ach was, das ist, was ich dachte: Wie kann es sein, dass Ringelnatz Urlaub brauchte, Hauptmann Berlin verließ, um baden zu gehen? Wovon brauchten die Urlaub? Vom Genie? Geht das? Meine Verwirrung darüber war so groß, dass ich außer Acht ließ, dass ich Urlaub brauchte, na ja, brauchte, machte, ich als Rentner. Wovon? Von meinem beschaulichen, recht selbstbestimmten Dasein außerhalb der großen Tretmühle?

Da haben wir ja auch schon die Erklärung: Urlaub macht vielleicht, wer ihn braucht, aber jeder braucht Urlaub, weil der Urlaub das andere ist, die Abweichung von der Regel, der Moment des Innehaltens oder auch des Aufdrehens, der Besinnung oder auch der Besinnungslosigkeit. Jedenfalls sollte das Recht auf Urlaub im Grundgesetz stehen. Mindestens. 1903 haben übrigens Brauereiarbeiter das Recht auf Urlaub erstmals durchgesetzt. Drei Tage im Jahr. Natürlich bei einer Sechstagewoche. Drei Tage!

Hauptmann hatte Hiddensee zu jener Zeit längst als Urlaubsziel festgemacht. Für drei bis vier Monate im Jahr. Natürlich hat er auch auf Hiddensee gearbeitet. Was manche Künstler eben so Arbeit nennen. Denken und Formulieren. Produktivspaziergänge hat er seine Strandspaziergänge genannt, weil ihm am Strand der Ostsee klar wurde, was die Träume der vergangene Nächte an Rohmaterial zurückgelassen hatten. Im Schlaf kamen die Bilder, die Ideen, am Strand der rote Faden und im Kreuzgang in Haus Seedorn die Wörter und Sätze, wenn er seiner Helferin Fräulein Jungmann, seinem Jungmännchen, im Gehen und Stehen diktierte, was in abendlicher Runde zum Klingen gebracht wurde. Gerhart Hauptmann also machte Urlaub auf Hiddensee – und wir auch. Also nicht zusammen, nicht einmal gleichzeitig.

Obwohl, wenn man so will, also eigentlich… ja, doch. Gerhart Hauptmann ist auf Hiddensee begraben worden, das war nicht sein Plan, falls es denn zu seinem Plan gehörte, irgendwann zu sterben und begraben werden zu müssen. Seine schlesische Heimat gehörte 1946, als er starb, nicht mehr länger zu Deutschland und die Polen, die neuen Herren im Lande, wollten ihn nicht. Hiddensee wollte ihn, den Literaturnobelpreisträger, der Hiddensee wohl erst zum Ferienparadies der Künstler und Intellektuellen gemacht hatte. Also kann jetzt, wer will, Hauptmann auf Hiddensee besuchen und bei der Gelegenheit auch gleich Haus Seedorn besichtigen, Hauptmanns Domizil, das jetzt als Gerhart-Hauptmann-Haus ein Museum geworden ist und auch ohne Führung eine Menge über den Mann und seine Zeit erzählt.

Wir waren also bei Gert, ich hoffe, das klingt nicht despektierlich, immerhin sind wir inzwischen häufige Besucher seiner Grabstätte und des Hauses bzw. der Buchhandlung, die zum Museum gehört. Elfie, meine Frau, hat während ihrer Schulzeit den Bahnwärter Thiel gelesen, also nicht während ihrer gesamten Schulzeit, so dick ist das Reclamheftchen auch nicht. Gelesen ist auch zu schwach, durchgearbeitet, Zug um Zug.

Ich mit meiner kaufmännischen Bildung, Ausbildung wohl besser, hatte nichts von ihm gelesen oder jedenfalls nichts, was ich bei einem Verhör gestehen könnte. Also musste ich das nachholen, mit einem der dünneren Bücher aus der Museumsbuchhandlung, weil ich fand, ich könnte nicht in seinem Haus herumstreifen und an seinem Grab stehen, ohne seine Stimme im Ohr zu haben. Ach ja, die habe ich mir bei YouTube angehört. Aber seine Sätze, seine ausschweifende, etwas altväterliche Art der Formulierung, seine Adjektive, seine Sprache wollte ich lesen, weil ich ihm, wie ich das an anderer Stelle schon sagte, nicht einmal an seinem Grab oder in seinem Haus näher kommen kann, als in seinen Texten.

From the Bodden to the Top

From the Bodden to the Top

Gerhart Hauptmann besaß ein Haus auf Hiddensee. Damit stellen sich gleich zwei Fragen: Wer war Gerhart Hauptmann und wo ist Hiddensee? Zwei Fragen, die ich hier nicht beantworten werde. Die Frau im Verkehrsverein hatte gesagt, dass um diese Jahreszeit nicht  mehr so viele Leute das Schiff nach Hiddensee nehmen würden. Außerdem seien sechs Stunden Fahrzeit doch recht viel für einen Aufenthalt von drei Stunden. Wir machten uns trotzdem auf den Weg zum Schiff und fanden gerade noch zwei freie Plätze.

Der Bodden liegt vor uns, es ist noch ziemlich kühl. Schwäne, Kormorane, Grau- und Silberreiher, Möwen, Enten und Gänse. Später dann auch noch ein Seeadler und Kraniche. Jede Menge Natur im Angebot.

Ein Mitreisender versucht, amerikanischen Passagieren die heimische Tierwelt zu zeigen und fachgerecht zu benennen.

Der Bodden ist ziemlich flach, an manchen Stellen wohl nur 20 oder 30 cm tief, also schwimmen die Vögel oft nicht, sondern stehen einfach im Wasser. Stralsund und die Rügen-Brücke sind gut zu sehen, ein Stück weiter ein ehemaliger Wachturm der DDR-Grenztruppen. Dann, es ist Mittag, Hiddensee.

Wir mieten uns Fahrräder, die das Naturerlebnis noch mal deutlich steigern, zumindest die Wahrnehmung von Unebenheiten und Steigungen. Hiddensee ist schön. Unglaublich schön. Vom Dornbusch, einer Erhebung, die während der Eiszeit zur Freude heutiger Touristen zusammenkomponiert wurde, schaut man über die Insel, über das Wasser, die Ostsee und den Bodden und kann sich nicht sattsehen. Hiddensee ist klein, manchmal sind die Wege wirklich nur Wege, breit, aber kaum befestigt. Dann wieder Betonplatten. Als Hauptmann Hiddensee für sich entdeckte, gab es noch keinen Tourismus. Wie schön muss die Welt gewesen sein, bevor wir damit begannen, sie für uns zu entdecken. Aber kann ich denn anders? Muss ich nicht davon erzählen und muss ich nicht zurückkehren, um meine Eindrücke zu überprüfen, das nächste Mal für ein paar Tage, denn das drei Stunden nicht reichen, damit hatte die Frau im Verkehrsverein recht.

Fahrräder abgeben, ein Fischbrötchen auf die Hand und Rückfahrt. Es ist nicht mehr ganz so voll. Dafür stehen kurz nach dem das Schiff abgelegt hat, zwei Leute mit ihren Rädern an der Kaimauer und sehen unglücklich aus. Die dürfen nicht, die müssen länger bleiben.

Nicht lange, und die Sonne beginnt mit einem unbeschreiblichen Lichterzauber, der Himmel über dem Bodden färbt sich in mehr leuchtenden Tönen, als ich zu benennen weiß und während des spektakulären Sonnenuntergangs sind auf einmal die Kraniche am Himmel, erst kleinere Züge, dann  große Scharen. Glücksvögel, wie unser Kapitän durchsagt. Kraniche krakeelen, fliegen flach über dem Wasser und hoch am Himmel, schwarze Silhouetten zeichnen sich gegen den abendroten Himmel ab. Kameras. Ferngläser. Ein Hin und Her an Bord. Backbord die Kraniche, die im flachen Boddenwasser landen, Steuerbord das Lichterspiel. So viel zu sehen. Dann wird es  langsam dunkel, kälter und leise.