China-Shopping (1)

China-Shopping (1)

Als ich ein Kind war, kauften wir bei Ischebeck ein, das war der Lebensmittelladen in der Nähe. Was es dort nicht gab, kauften wir in der Stadt. Da gab es Kaufhäuser und Warenhäuser und überhaupt mehr Geschäfte, als mir lieb war. Also nicht nur für Modellautos von Siku und Wiking, einen neuen Karl-May-Band und eine Brühwurst mit Senf und Brötchen, sondern auch für Kleidung, Bügeleisen und Suppenschüsseln. Das dauerte alles so lange, so lang konnte überhaupt keine Wurst sein. Mal abgesehen davon, dass die Wurst ohnehin eher dick als lang war.

Manchmal – und das war aus meiner kindlichen Sicht deutlich praktischer – wurde auch bestellt. Nicht online natürlich, auch wenn Konrad Zuse schon den ersten Computer gebaut hatte. Meine Eltern hatten nicht mal Telefon, sie kannten nicht mal jemand, der Telefon gehabt hätte. Ans Internet war noch nicht zu denken, unsere Phantasien drehten sich, wenn es um das Jahr 2000 ging, um fliegende Autos und den Kontakt zu Außerirdischen. Das Jahr 2000 war mächtig weit weg damals, okay, das ist es inzwischen auch schon wieder. Bestellen bedeutete also, einen Katalog durchzublättern und, hatte man gefunden, was das Herz begehrte, Größe und Farbe zu bestimmen, gern auch mal die Zahl der Raten, wenn man auf Kredit kaufte und das war bei Otto, Quelle, Neckermann und Bader Teil des Einkaufsvergnügens.

Bestellung abschicken, warten. Lange warten. Wochenlang. Gefühlt jahrelang. Dann kam das Paket und manchmal war drin, was man bestellt hatte, manchmal war etwas nicht lieferbar und manchmal passte, was so sorgfältig ausgesucht worden war, dann doch nicht. Bei den Lieferzeiten konnte es schon mal passieren, dass Kinder aus Klamotten rausgewachsen waren, die sie noch nicht einmal bekommen hatten. Dann also zurückschicken. Mit dem Paket zur Post in der Stadt. Weil: Ein Auto hatten wir natürlich auch nicht.

An die Zahlungsmodalitäten erinnere ich mich nicht mehr genau. Anfangs hatten meine Eltern kein Bankkonto. Sowas brauchte man auch nicht, weil der Lohn bar ausgezahlt wurde. Bei der Sparkasse hatte man ein Sparbuch. Ich auch, praktisch gleich nach der Anzeige meiner Geburt eingerichtet. Fünf Mark von der Sparkasse als Startkapital, glaube ich zumindest. Ich nehme an, dass meine Eltern Bareinzahlungen auf das Konto des Versandhauses leisteten, bis es später üblich bzw. notwendig wurde, ein Lohn- und Gehaltskonto einzurichten.

Was es nicht in der Stadt gab und was nicht im Katalog stand, das gab es praktisch nicht. Vielleicht in Amerika.. Die Japaner waren die gelbe Gefahr, die uns alle bedrohte, obwohl sie keine Kommunisten waren und auch keine Atombombe hatten. Aber sie bauten Transistorradios, diese kleinen, zerbrechlichen Teile, vermutlich aus Bakelit, mit denen man überall Radio hören konnte. Obwohl es noch lange dauern sollte, bis es auch einen Grund geben würde, Radio zu hören, denn zu der Zeit, von der ich gerade erzähle, gab es eigentlich nur Nachrichten, Operettenmelodien und wenn es ganz verrückt kam, die Musik aus den wilden Zwanzigern. Mein kleiner grüner Kaktus. In China gab es nur Mao, Kommunisten, seltsam uniformierte Menschen und zu wenig Reis. Das sollte sich ändern.

Loslassen

Loslassen

Klein war die Welt und unermesslich groß, als ich ein Kind war. Klein war sie und vertraut, weil ich alles kannte, jedes Kind und jeden Erwachsenen, jeden Hund und unsere Katze, jedes Fahrrad und das Auto auf dem kleinen Parkplatz. Den Feldweg hinter der Treppe, den, auf dem ich der Frau vom kleinen Meyer mein Guten Morgen entgegenrief, kaum dass ich sie gesehen hatte, um dann stumm an ihr vorbeizutrödeln. Die Gärten hinter der Hecke und die Straße nach links und nach rechts, in die Stadt und runter zum Wald.

Und die Welt war groß, denn ich ahnte mehr, als dass ich es wusste, dass da noch anderes war. Afrika. Amerika. Kina. Kina, wie mein Vater sagte und ich auch und womit ich den Spott des Lehrers auf mich zog. Kina, Kina, Kina. Jetzt hab ich’s dem aber gegeben! Der Dschungel und die Hochhäuser, Cowboys und Indianer. Entdecker und Missionare. Dabei begann die große fremde Welt eigentlich schon hinter der nächsten Häuserzeile in der Stadt, begann dort, wo ich noch nie war und wo ich nach der Hand meiner Mutter griff.

Eine seltsame Landkarte wäre das geworden, hätte ich sie zu zeichnen versucht. Mit unserem Haus in Hagen-Eppenhausen im Mittelpunkt und als fernstem Ort der bekannten Welt das Haus meiner Oma in Leer, verbunden durch die Schienen der Eisenbahn. Dann ein paar Namen, Orte, die mit meinen Eltern verbunden waren. Ostpreußen und das Sudetenland. Namen wie Dortmund und Haspe. Wie Berlin und New York. Unbestimmbar weit weg und für mich so fern wie der Mond.

Einmal, auf dem Weg zur Donnerkuhle, einem Ortsteil, der seinen Namen vielleicht den Sprengungen im Steinbruch verdankte, war da ein schwarzer Mann. Einer, für den wir Bleichgesichter sicher schon vertraut waren, aber der für mich ganz unfassbar war, wie konnte das sein? Gab es Wege nach Afrika? Straßen oder Eisenbahngleise, die in die Wüste oder in den Dschungel führten? Ein unvergessliches Erlebnis, größer und aufregender als die Kinderstunde im Fernsehen und die Leseratten im Radio.

Eines Tages war da plötzlich ein Fahrrad in meiner Welt. Ein kleines Rad, eins in meiner Größe. Mein Fahrrad sollte das sein und ich hatte es mir nicht gewünscht, weil ich nicht wusste, dass das geht, dass man sich sowas wünschen kann. So ein Fahrrad kann man gut abstellen, das hat einen Ständer und, obwohl es eine Klingel hat, es ruft nicht, meldet sich nicht und sagt: Fahr mich. Ich war nämlich schon damals, noch vor meiner Einschulung, ein Guckkind, ein Habekind und kein Machkind.

Wozu sollte das gut sein, alles immer auszuprobieren, alles zu lernen, was andere doch schon konnten? Aber nein, meine Eltern, in diesem Fall mein Vater, bestanden darauf, dass ich mit dem Fahrrad fuhr. Bald sogar ohne Stützräder.

Jeder kennt die Geschichte vom Festhalten und Loslassen und von dem Moment, in dem man merkt, dass man betrogen wurde und ganz allein das Gleichgewicht hält und fährt und es ist schrecklich und es ist schön, weil man das jetzt kann, aber den Betrug, den vergisst man nicht. Rechts in Richtung Wald, aber es kann doch nicht sein, dass ich jetzt weiter und weiter geradeaus fahre, zur Bundesstraße und dann in die Welt hinein, vielleicht bis nach Afrika, vielleicht bis nach Leer. Nein, ich muss abbiegen, wenden und da kommt auch schon die Hovestadtstraße und ich ziehe nach links, halte den Lenker, halte mich am Lenker fest und da ist auf einmal ein Auto, das auch die Straße beansprucht und mein Vater ruft mir meine erste Verkehrsregel zu. Nicht die Kurve schneiden. Das mit dem Schneiden habe ich dann trotzdem wieder getan, aber das ist eine andere, eine blutige Geschichte, die von dem Fahrtenmesser, dass ich mir so gewünscht hatte.

Abschied mit Anlauf

Jordan White@unsplash

„Wir ziehen um.“

Drei Wörter, zweihundertvierzig Kilometer. Vierzehn sein war auch so schon hart genug. Und da stellten meine Ernährungsberaterin und mein Finanzdienstleister, auch als Mutti und Papa bekannt, doch tatsächlich noch in Frage, wo ich war. Dabei wusste ich nicht mal ganz genau, wer ich war. Aber das mit dem Umziehen war nicht zu diskutieren. Das heißt, diskutieren schon, bis zur totalen körperlichen und psychischen Erschöpfung. Nur änderte das nichts mehr.

„Es ist doch auch schön dort.“

Landschaftliche Schönheit, kulturelle Vielfalt und das Vorhandensein bedeutender Baudenkmäler verschiedenster Epochen gehörten zu den Argumenten, die während der Pubertät und in den darauf folgenden zehn Jahren aber auch so was von daneben waren, dass bereits ihre Erwähnung zur Aberkennung der Erziehungsberechtigung führen sollte. Fand ich.

„Und außerdem hat Papa einen besseren Arbeitsplatz gefunden. Nach den Sommerferien gehst du dann dort zur Schule.“

So gesehen reichten zweihundertvierzig Kilometer nicht aus. Wenn schon umziehen, dann doch bitte so weit, dass es keine Schulpflicht mehr gab oder wenigstens 14jährige mit der Schule fertig wären. Dann könnte ich vielleicht so etwas wie ein Abitur h.c. bekommen. Aber nein,

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Rad, Ruhr, Ruhe

Eigenes Foto

Mit dem Fahrrad auf dem Ruhrtalradweg unterwegs. Nur ein Stück, denn der Weg ist lang, länger, als wir an einem Tag fahren wollen bzw. können. Von Warendorf aus mit dem Auto nach Wickede (Ruhr). Erst durch das vertraute Münsterland, dann ein Stückchen Soester Börde und dann Wickede, ein Industriestädtchen, für uns an diesem Tag der Anfang des Ruhrgebiets.

Ein Maitag mit Sonne und Wolken. Viele, aber erträglich viele Radfahrer*innen auf der Strecke. Immer wieder führt der Weg über die Ruhr oder begleitet sie ein Stück.

Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen. In Hohenlimburg geboren und in Hagen zur Schule gegangen. 14 Jahre meines Lebens war mir nicht klar, dass wir im Ruhrgebiet lebten, weil Hagen mit dem Slogan „Tor zum Sauerland“ warb. Hätte ich wissen müssen, dass wir vor dem Tor lagen? Draußen, im schmuddeligen Ruhrgebiet? Schreckliche Wahrheiten bringt man seinen Kindern vielleicht so spät wie möglich bei. Ich habe es nebenbei bemerkt nicht als schrecklich erlebt. Als laut und grau, als staubig und Weiterlesen

Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf Weiterlesen

Lebenslücken

Ich sitze vor einer Übung. Es geht um einen autobiografischen Text, in dem ein Kinderbuch vorgestellt werden soll, nicht irgendeins, sondern eins aus der eigenen Kindheit. Nun hatte ich leider keine Kindheit… nein, falsch, ich hatte nur keine Kinderbücher. Noch genauer: Ich erinnere mich nicht an Kinderbücher.

Jugendbücher, ja. Die habe ich gelesen, manche stehen noch heute in meinen Regalen. Mark Twain oder Jules Verne. Karl May und Salinger. Davor? Meine Kindheitserinnerungen sind sehr bruchstückhaft. Manches weiß ich aus der Zeit, als ich drei Jahre alt war, aus der Zeit, als meine Schwester geboren wurde. Aus den Jahren danach, als sie im Krankenhaus war und wir sie nur sonntags besuchen durften, hinter einer Glasscheibe die armen kranken Kinder, davor wir Besucher. Fast wie zu Coronazeiten.

Momentaufnahmen aus meiner Kindergartenzeit. Arztbesuche. Das Erwachen aus der Narkose, nachdem man mir die Polypen entfernt hatte. Ein eigener Krankenhausaufenthalt im Winter, ich war schon Schulkind und draußen vor dem Fenster rodelten alle Kinder, die es in Hagen gab und das waren ganz schön viele, während ich einen Schlauch schlucken musste. Durch die Nase. Aber da war ich dann schon sieben oder acht Jahre alt. Vorher… nee, da kommt nichts. Ich erinnere mich an Weiterlesen

Der Tagedieb

Von Albert Letchford – File:Tales from the Arabic, Vol 1.djvu, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61330156

Wieder einmal ein Beitrag aus der Reihe „Zu Recht vergessene Jugendwerke“. Es geht hier nicht um den CVJM oder die FDJ, sondern um Texte, die ich vor  vielen Jahrzehnten geschrieben habe.

Der Tagedieb

Im Morgenland erzählt man sich bis auf den heutigen Tag Märchen und Legenden, aber auch alte Wahrheiten werden so von Generation zu Generation weitergetragen. Einst wurde mir diese Geschichte erzählt, deren Echtheit mit der Erzähler beim Barte seiner Großmutter beschwor.

Meine Geschichte ist seltsam; würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für einen jeden, der sich warnen ließe. Und dies ist sie:

In den Tagen des Hārūn al Raschīd lebte in Bagdad ein Weiser, der lange Jahre treue Dienste für den Kalifen und seine Wesire geleistet hatte und mit vielen Ehrengewändern  dafür belohnt worden war. Nun jedoch war er in Ungnade gefallen, weil er in den Ruch geraten war, mit Geistern Umgang zu pflegen, die nicht zu den rechtgläubigen zählten. Seiner Ämter und seines Ansehens beraubt, sann er auf Rache und fand – mit Hilfe jener frevelhafter Geister, mit denen er sich tatsächlich gemein gemacht hatte – einen Weg, der nur einem verwirrten Geist entspringen konnte.

Er stahl einen Tag aus der Woche –  und zwar den Montag. Anfänglich bemerkte niemand, was geschehen war, doch dann brach der Winter ein – um viele Wochen zu früh, denn das Jahr war um 52 Tage kürzer geworden. Kein Mensch konnte sich erklären, was geschehen war und als auch noch der Dienstag gestohlen wurde, begannen Männer und Frauen, Kinder und Greise zu zittern, denn ihre Lebenszeit verrann viel schneller, als sie erwarten durften. Weiterlesen

Falschmützer

Eigenes Foto

Es begann schon dunkel zu werden und meine Eltern wollten aufgeben. Typisch Eltern. Als meine Schwester verloren gegangen war, also nicht verloren, sondern bloß nicht nachhause gekommen war, konnten sie vom Suchen einfach nicht genug bekommen. Erst am Fenster gewartet, dann unruhig geworden und schließlich los. Den üblichen Weg meiner Schwester. Aber da war sie nicht. Nicht auf der Straße und nicht im Wald. Bei ihrer Freundin war sie und hatte die Zeit vergessen. Und alle waren froh, als sie tralala wieder da war, vergnügt und ohne schlechtes Gewissen. Aber die kleine Schwester, die kriegte natürlich nicht den Arsch voll.

Es war weit. Obwohl Entfernung, Größe und Zeit subjektiv sind und ein Weg für kurze Beine länger ist und eine halbe Stunde mindestens eine Stunde dauert, wenn man sieben oder acht Jahre alt ist, behaupte ich, dass mein Schulweg verdammt lang war. Erst das kleine Stück bis zur Straße, dann die Bohlostraße hinunter, bis die Bebauung aufhörte und auf der rechten Seite nur noch ein paar Gärten lagen. Vorbei an dem Hof auf der linken Seite, bei dem wir Eier holten. Ein Stückchen weiter stand ein altes Fachwerkhaus, das vermutlich eine ländliche Schönheit war, uns aber nur deshalb etwas bedeutete, weil gleich dahinter eine Tollkirsche wuchs und blühte und Früchte trug.

Eine Tollkirsche. Gift und Gefahr und Tod! Was Tod bedeutete, das wussten wir, denn immer mal wieder lag ein toter Vogel auf unseren Wegen, der genauestens betrachtet, aber wegen des Leichengifts auf keinen Fall angefasst werden durfte. Wer tot war, wurde beerdigt. Ordnungsgemäß mit einem Kreuz aus kleinen Zweigen und ein paar Gänseblümchen. Die gab es ganzjährig.

Früher, als die Welt noch so groß war und die Zeit stillstand, wenn man nicht aufpasste. Große Ferien, Weiterlesen

Fußweg zum Rock’n Roll

lc3a4den-alltagskulturJules van der Ley hat dieses Erzählprojekt angeregt und damit wohl einen Nerv getroffen. Wer, so fragte sich Jules, liest das eigentlich noch? Geht es um das Lesen oder ist das Schreiben schon genug? Doch, vielleicht ist es das, gerade bei diesem Projekt, bei dem wir immer tiefer graben und Dinge hervorholen, die vergessen schienen. Genügt es nicht, mit einer Taschenlampe im eigenen Keller unterwegs zu sein? Nein! Mir jedenfalls geht es so, dass die vielen verschiedenen Beiträge mein Bilder vervollständigen, mich anregen, noch einmal tiefer zu graben, an einer anderen Stelle zu suchen, so dass ich schließlich etwas staubig aber glücklich wieder auftauche.

Fußweg zum Rock’n Roll

Gerade will ich anfangen, da stolpere ich über den Namen des Schreibprojektes. Die Läden meiner Kindheit… Kindheit, gut, Jules wird mir verzeihen, wenn ich mit einem erweiterten Kindheitsbegriff hantiere, die Frage ist nur, ob ich mir das gestatten kann. Die Lebensphase bis zum vierzehnten Lebensjahr wird regelmäßig als Kindheit bezeichnet, die Pubertät schließt sich an. Kindheit als soziale Konstruktion bezeichnet aber auch die Freiheit von beruflicher Arbeit, damit kann ich leben.

Ich war dreizehn oder vierzehn, als ich den Plattenladen entdeckte – und ich wäre ziemlich sauer gewesen, wenn  man mich als Kind bezeichnet hätte. Mitte der sechziger Jahre. Schlaghose, breiter Ledergürtel, knallrotes Hemd. Immer unrasiert, weil ich mich noch nicht rasierte. Kinder? Das waren die Kurzen, ich interessierte mich für Musik, für Beat und hatte die ersten Fotos aus der Bravo oder vergleichbaren Publikationen ausgeschnitten und an die Wand über meiner Schlafcouch gehängt. Ein Plattenspieler stand auf dem Bettkasten, in dem über Tag das Bettzeug verschwand. Ein paar Platten hatten sich auch schon angesammelt, Schlager. Kannte ich aus der Plattensammlung meines Onkels. Weiterlesen

Darf es etwas mehr sein?

lc3a4den-alltagskultur

Die Läden meiner Kindheit – Ein Erzählprojekt von Jules van der Ley

Es ist wie es ist, denken Kinder wohl. Das heißt, sie denken es nicht ausdrücklich, aber sie sehen die Welt so. Was ist, muss so sein. Und so hatten Straßen einen Namen, Geschäfte einen Namen und der Name gehörte zu der Straße und konnte nicht irgendwoher kommen, von einem anderen Ort. Die Hovestadtstraße hieß eben Hovestadtstraße. Punkt. Das es Straßen gibt, die nach Menschen heißen und Menschen, die wie Orte heißen… dieses Durcheinander herrschte in meinem Kopf nicht.

Die Bolohstraße war unsere Straße, da wohnten wir. Eine Bedeutung hinter dem Namen habe ich nie gesucht – und gerade in aller Eile auch nicht gefunden. Bestimmt was Niederdeutsches, irgendein Flurname. Unser Flur hatte keinen Namen, der hieß Flur – oder Diele. Die Bolohstraße hinauf, vorbei an mehreren Wohnblocks, dann zwischen Feldern einen kleinen Hügel hoch. Auf der Anhöhe lagen zwei Läden, links ein Edeka, in einer Sackgasse gegenüber ein winziger Laden in einem Wohnhaus, in einem Zimmer: Naschereien und Eis!

Den Namen des Lebensmittelladens habe ich mir gemerkt, vermutlich, Weiterlesen

Ladenöffnungszeit

Die Schublade? Nein, nicht die Schublade! war meine erste Reaktion, nachdem ich gelesen hatte, dass Jules dazu einlud, die Geheimnisse der Kramlade zu lüften. Dann, wie es so ist bei einem Schreibimpuls, näherte ich mich doch langsam der Schublade. Nicht der in der Küche, die geht noch, da besteht nur Verletzungsgefahr für Leichtsinnige, nein, der in meinem Zimmer, gleich neben dem Schreibtisch, diesem großen Teil, das eigentlich mal für Bettwäsche oder solche Sachen gedacht war. Holzimitation, groß genug, um einen Hund darin zu begraben, also quasi die Schublabe, in der der Hund begraben liegt.

Ich öffne sie nur im äußersten Notfall, suche sogar Sachen, von denen ich annehmen muss, dass sie sich in der Lade befinden, erst mal woanders. Wenn ich sie öffnen muss, verrutscht immer etwas, verknittert, zerreißt, verkanntet sich gar und dann geht sie womöglich nicht mehr zu.

Die größte Gefahr, die von solchen Schubladen ausgeht, besteht, wie jeder weiß, der eine solche Lade sein eigen nennen muss, darin, dass man in ihnen verloren gehen kann, wenn man nämlich damit beginnt, sich auf ihren Inhalt einzulassen. Da hat sich nämlich angesammelt, was man jahrzehntelang schon nicht mehr gebraucht hat – und nicht wegwerfen mochte, nicht, weil man es möglicherweise noch einmal brauchen würde, nein, weil es mit Erinnerungen aufgeladen ist oder, zugegeben, weil man es einfach vergessen hat.

Ich muss aber noch tiefer graben, in der Schublade ruht das Döschen, ein kleiner gestreifter Metallkasten. In dem Kästchen liegen Münzen, die mir zugelaufen sind, ich bin kein Numismatiker, einfach nur Kleingeld. Geld wirft man doch nicht weg, oder?

Da sollten auch sie sein: meine Medaillen. Wenn man bei blauem Plastik von Medaillen sprechen kann. Bakelit vermutlich.

Bundesjugendspiele auf dem Ascheplatz hinter der evangelischen Gemeinschaftsschule Hagen-Halden. In der Rückschau praktisch ständig, mit Ausnahme der Ferienzeiten und natürlich… oh weh, die Büchse der Pandora ist geöffnet, jetzt gibt es kein Halten mehr… mit Ausnahme der Hallensaison. Mit hängendem Kopf in die Halle – und ich war ein recht gesundes Kind, hatte also so gut wie nie eine Ausrede, ich musste mit in die Turnhalle.

Dieser Geruch, die Mischung aus Schweiß, alten Socken, Holz, Plastik, Gummi, an keinem anderen Ort ist es je gelungen, diese einzigartige Duftnote zu reproduzieren – und dafür bin ich wirklich sehr dankbar. Ob Boden- oder Geräteturnen, ich hatte vermutlich einfach zu viele Knochen dafür.

Dann schon lieber die Bundesjugendspiele auf dem Ascheplatz. 40 Punkte waren wohl die magische Grenze, die Latte, die ich Jahr für Jahr riss. Teilnehmerurkunde. Die maximale Demütigung. Totale sportliche Niete. Laufen, Springen und Werfen waren einfach nicht meine Disziplinen. Ich war zum Beispiel schon immer gut im Stehen. Sitzen kann ich auch ganz hervorragend. Trotzdem gelang es mir, drei Siegerurkunden und die dazugehörigen Medaillen zu erringen. Vermutlich wird ein gnädiger Sportlehrer mir ein paar Punkte zugeschustert haben, vielleicht einfach mal die 21 Grad Außentemperatur zu meinem kläglichen Ergebnis addiert… oder meine Zeit auf 50 Metern gegen meine Weite beim Werfen ausgetauscht und schon passte es.

So, jetzt habe ich sie endlich aufbekommen, die blöde Büchse. Die Medaillen sind weg. Meine einzigen sportlichen Auszeichnungen. Bis auf das Seepferdchen. Aber es gäbe da noch eine Schublade, da könnte ich…

Topp, die Wette gilt

1930 erschien ‚Hiob‘, der Roman von Joseph Roth, der später auch verfilmt wurde. Das Lutztheater aus Hagen zeigte in Warendorf eine von Koen Tachelet für das Theater bearbeitet Fassung. Hiob ist auch ein alttestamentarisches Buch und Mendel Singer, die Hauptperson in Joseph Roths Roman, ist natürlich an diesen biblischen Hiob angelehnt.

Hiob geht es, wie wir uns alle erinnern, ganz ausgezeichnet, er lebt mit seiner großen Familie in Gesundheit und Wohlstand, bis Gott Satan, der gerade mal bei ihm zu Gast ist, von diesem gottesfürchtigen Mann vorschwärmt. Das kann Satan nicht einfach hinnehmen und er entgegnet, dass es ja wohl keine Kunst sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, wenn man so begütert und glücklich sei, er würde doch gern mal sehen, was dabei herauskäme, wenn man Hiob seinen Wohlstand nähme.

Gott lässt sich auf diesen Menschenversuch ein und so nach und nach wird Hiob alles genommen, von seinem Hab und Gut über die ihm lieben Menschen bis zu seiner Gesundheit. Er hält an seinem Glauben fest, fordert aber schließlich von Gott eine Erklärung ein – die er auch bekommt. Kurz gesagt: Hiob, der hier für alle Menschen steht, hat keinen Einblick in das schwere Handwerk eines Schöpfers und muss schon einsehen, dass Gott besser weiß, was für die Menschen gut ist. Weil Hiob das anerkennt, wird sein Wohlstand erneuert, er bekommt erneut Kinder, zufällig genau so viele wie zuvor und alles ist gut.

Mendel Singer geht es im Unterschied zum biblischen Hiob schon mal nicht so gut, er ist arm, einer seiner Söhne leidet an Epilepsie und eigentlich hat er auch keine Freude mehr an seiner Frau, die im Gegensatz zu ihm schon gern ein besseres Leben hätte und die Hilfe von Ärzten oder wundertätigen Rabbis in Anspruch nehmen möchte, um den kranken Sohn zu heilen.

Aber nein, Mendel hört natürlich nicht, er betet, alles geht den Bach hinunter, irgendwann findet sich die Familie in Amerika, bald darauf sind die Ehefrau und ein Sohn tot, die Tochter in der Psychiatrie, ein Sohn in Russland verschollen und Mendels Glauben fast dahin.

Selbstverständlich geht auch hier alles gut aus… aber warum müssen wir das wissen? Was will uns diese Geschichte sagen… und warum musste Joseph Roth sich die Mühe machen, das mit seinen Worten zu wiederholen?

Ja, ich hab schon kapiert, dass wir nicht an der Allmacht Gottes zweifeln sollen und seine unerforschlichen Wege nicht erkennen können oder so ähnlich. Nicht nur das Gute kommt von Gott, nein, auch wenn er uns leiden lässt, hat er einen Plan… oder eine Wette mit Satan laufen? Ist es das, was ich verstehen sollte?

Der Griff zur Zigarette

Nichtraucher! In den 50er-60er Jahren galt das fast als Beleidigung. Die Schlote rauchten und Erhards Zigarren symbolisierten den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Landes. Rauchen war dufte. Cool, würden heutzutage meine Töchter sagen und ich hatte es noch nicht einmal probiert, konnte nicht mitreden – dabei war ich schon elf. Mein Entschluss stand fest: Wenigstens eine Zigarette würde ich rauchen! Zugegeben, ich sah diesem Initiationsritus mit einem flauen Gefühl in der Magengrube entgegen, immerhin hatten mich Helmut, Charles, Martin und Dieter, die Pausenclique vom Schulhof, ganz schön unter Druck gesetzt, bis ich Weiterlesen

Pfennigkram

Bahnhof_Hagen_Hbf_03_Bahnhofshalle

Das Taxi – schwarz, wie alle Taxen jener Zeit – kam rechtzeitig, aber nicht pünktlich, was genau den Unterschied zwischen in Ruhe und in aller Eile ausmachte. So war es eigentlich immer, wenn wir reisten, dabei reichte mein Vater in Normalform schon aus, um Einfluss auf das Wetter in der Region, na schön, zumindest das Klima in der Familie zu haben. „Ilse!“ rief er, während wir seinen hochroten Kopf bewunderten, „Wir verpassen den Zug!“

Wir haben nie einen Zug verpasst, geschweige denn irgendein anderes Verkehrsmittel, denn jeder Taxifahrer beschleunigte auch über das zulässige Maß hinaus, nur um uns und unser hektisches Familienoberhaupt so rasch wie möglich wieder loszuwerden. Mehrere Koffer, die im Dienste der Familie schon so manchen Stoß hatten aushalten müssen und Belastungen, die im Gegensatz zu ihnen nicht von Pappe waren, treu ertragen hatten, wurden ein- und wenig später vor dem Hauptbahnhof wieder ausgeladen. Vier Mark neunzig zeigte der Taxameter und der Fahrer winkte ab, als Vater ihm fünf Mark in die Hand drückte und großzügig auf den Rest verzichten wollte. „Hier, Kurzer, aber nicht alles vertrinken!“ grinste der Mann und spendierte mir den Groschen.

Im Bahnhofskino lief der Beatlesfilm „Hi-Hi-Hilfe!“, aber ich wusste ja noch nicht, was ein schlechtes Omen ist. Papa raste schon durch die Bahnhofshalle, in der es damals weder Hamburger noch Coffee-to-go gab, höchstens eine Bahnhofsbuchhandlung, eine Bahnhofsgaststätte, Toiletten zweifelhafter Qualität – und natürlich Bahnsteigkarten, die für den geringen Preis von 20 Pfennigen dazu berechtigten, vom Bahnsteig aus dem abdampfenden Zug nachzuwinken, was zu jener Zeit ohne das Schwenken eines Taschentuchs undenkbar gewesen wäre.
Papa hatte inzwischen die Fahrkarten erworben, mit deren Besitz das Privileg verbunden war, auch ohne Bahnsteigkarte den Bahnsteig zu betreten – natürlich vorbei am Bahnsteigwärter, der ordnungsgemäß mit einer Zange ein Löchlein in die Karten der Nichtreisenden stanzte.
Natürlich und wie immer hatten wir zu viel und zu schweres Gepäck, das mitten auf dem Bahnsteig zu einer Art Pyramide geschichtet wurde.

Muss ich erwähnen, dass unser Zug noch nicht da war? Die Zeit hätte bequem gereicht, um einen Groschen in den Automaten in der Halle zu werfen, Sie wissen schon, diesen Glaskasten, in dem ein Affenorchester in Uniform ein Musikstück zum Besten gab, dass sich sonst niemand freiwillig angehört hätte. Aber nein, wir harrten ja auf dem zugigen Bahnsteig aus… bis auf meine kleine Schwester, die musste natürlich mal wieder, konnte unmöglich warten bis der Zug kam und konnte selbstverständlich nicht allein gehen, also zog Mutter mit ihr los.
Kaum waren sie außer Sicht, nahm Vater den Blick

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Leseerfahrung

Ich wollte nicht schreiben. Jedenfalls nicht, wenn es bedeutete, einen Griffel in die Hand zu nehmen und damit Zeichen auf eine Schiefertafel zu kratzen. Aber Sechsjährigen hört ja niemand wirklich zu. Der spätere Übergang auf den Füllfederhalter machte mir das Schreiben auch nicht leichter, denn dieses Schreibgerät, das regelmäßig aus einem kleinen Tintenfässchen betankt werden konnte Kleckse produzieren, nein, hinterließ ganz zuverlässig Kleckse.
Hätte ich damals schon von Murphys Law gewusst, mir wäre klar gewesen, dass Tinte immer erst ganz am Ende der Seite aufs Papier tropft., dann nämlich, wenn die ellenlange Hausaufgabe so gut wie fertig geschrieben ist. Die großflächigen blauen Sprenkel auf meinen Arbeiten hinderten meine Lehrer jedoch keineswegs daran, noch ihre eigenen Anmerkungen daneben zu setzen.
Ob ich damals wohl daran gedacht habe, nur noch mit roter Tinte zu schreiben, weil alle anderen, die sich mit meinen schriftlichen Leistungen befassten, das ja auch taten?
Kurz gesagt, ich schrieb weder schön noch richtig. Weiterlesen