In aller Eile

In aller Eile

Ich ertappe mich dabei, dass ich nicht das Buch lese, das ich schon vor mir auf den Tisch gelegt habe, sondern mal wieder das Smartphone in der Hand halte und die Kritik einer Talkshow durchgehe.

Bei der Gelegenheit: Zählt das als körperliche Betätigung, praktisch als Sport, wenn man Texte nicht liest sondern durchgeht? Na, vermutlich nicht, meiner für meine Fitness zuständigen App war das jedenfalls völlig egal. Ich werde sie deinstallieren, denn seit sie mir täglich vor Augen führt, dass ich meine Ziele mal wieder nicht erreicht habe, fühle ich mich viel weniger fit als damals, als ich mir noch einreden konnte, doch eigentlich recht viel zu Fuß oder auf dem Fahrrad unterwegs zu sein. Gut, dass das Ding keine Zugriff auf andere Dienste hat, sonst hätte es vielleicht schon den Notdienst oder gar den Bestatter angefordert.

Aber ich habe einfach keine Zeit für Bewegung. Ich muss ja diesen Artikel lesen, also ich muss nicht, aber ich tue es ja, obwohl ich eigentlich nicht mal die Talkshow sehen wollte. Ich bin da nur reingeraten und irgendwie hängengeblieben. Und jetzt schreibe ich auch noch über eine Talkshow, die ich nicht sehen wollte und den Bericht in der Online-Ausgabe irgendeines Magazins,, den ich eigentlich auch nicht lesen will, für das ich keine fünf Pfennig – sagt man das noch oder heißt das jetzt keine fünf Cent – ausgeben würde, gäbe es eine Bezahlschranke. Gäbe es allerdings für diesen Artikel eine Bezahlschranke, dann würde ich vermutlich ziemlich lange rumrecherchieren, ob ich nicht irgendwo kostenlos an diese Information kommen könnte, die mich doch keinen Deut interessiert.

Prokrastination heißt das wohl und ja, selbst das Buch, das ungelesen auf dem Tisch liegen blieb, wäre nur eine weitere Ausflucht gewesen, denn ich weiß ja, was ich zu tun habe und dass die Zeit schon knapp wird. Ich spüre gerade mal in mich hinein, ob sie schon knapp genug ist, ob ich schon diesen Druck spüre, dieses Zittern, dass es diesmal wirklich nicht reichen wird, bestimmt nicht und ich nicht mal eine Ausrede habe, wenn es denn keine sein sollte, dass ich keinen hinreichenden Druck verspürt habe.

Und ja, ich glaube, es wird knapp, vielleicht sogar zu knapp, weil dieser Text ja auch noch hochgeladen werden muss, ein Bild muss gefunden werden, eine Überschrift, ein paar Schlagwörter und wenn ich gerade dabei bin, dann tauchen da im Reader ein paar Texte auf, die ich ganz schnell, nur mit einem Auge, auch nur mit dem linken, aber doch noch lesen muss. Jetzt aber schnell, die Zeit reicht nicht mehr, um noch nach groben Fehlern und dem besseren, weil treffenderen Wort zu suchen.

Wie komme ich hier jetzt raus? Egal. Aus.

Lodge in Translation

Lodge in Translation

Vor einiger Zeit habe ich glaube ich zumindest erzählt, dass ich meine David-Lodge-Bücher erneut lese. Inzwischen bin ich damit fast durch, was nicht daran liegt, dass es so viele sind oder ich so langsam lese. Ich lese schon langsam, also jetzt nicht mit dem Finger in der Zeile jede Silbe mitsprechend, aber schon Wort für Wort und Satz für Satz und gern auch mal einen Satz zurück und eine Seite zurück, weil da etwas stand, das mich erst später erreichte, aber daran liegt es nicht, wie schon gesagt.

Es drängeln sich immer Bücher vor, die mir geschenkt werden, also meistens auf meinen nachhaltig geäußerten Wunsch hin,  Bücher, die schon so lange warten, dass sie unruhig werden und mit dem Klappentext klappern oder Bücherwurmbefall vortäuschen und Bücher, die mir von geliebten Autoren empfohlen werden. Nicht, dass mir  Arno Schmidt eine persönliche Buchempfehlung übermittelt hätte.

Wäre auch nur schwer vorstellbar, vielleicht mit einem Leuchtschriftband auf seinem Grabstein, seinem Grabfindling, aber woher sollte er meinen literarischen Geschmack kennen, mal davon abgesehen, dass er damit gegen die Totenruhe verstieße. Vertiefen wir das nicht weiter, obwohl vertiefen im Zusammenhang mit Totenruhe auch schon wieder seltsam ist. Gut, Schmidt hätte mir vielleicht verziehen.

Viele kennen das sicher auch, dass in einem Buch, das man sehr mag, ein anderes Buch, ein anderer Autor empfohlen wird und dann muss  man dieser Spur folgen. Gerade ging mir das noch so mit J.M.A. Biesheuvel, dessen „Reis door mijn kamer“ mir in „Des Sinn des Lesens“ von Pieter Steinz nahegelegt wurde. Und weil Steinz Niederländer ist, hat er vergessen, darauf hinzuweisen, dass es Biesheuvels Buch auch in deutscher Übersetzung gibt, die “Reise durch mein Zimmer“.  Nicht zu verwechseln mit Karl-Markus Gauss „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“.

Kenne ich nicht. Biesheuvel hingegen kannte ich schon seit vielen Jahren und wusste deshalb, dass er unter eine bipolaren Störung litt. Litt, weil er 2020 gestorben ist. Warum ist eigentlich immer die Rede von verstorben und nicht von gestorben? Gibt es da einen gravierenden physischen Unterschied oder ist gestorben unhöflicher? Egal. Jedenfalls musste ich Bisheuvel lesen und dann auch noch googeln, was es an Videos gibt und die gibt es natürlich und dann muss man die auch gucken und dann stößt man wieder auf… also so geht das.

Was ist aber sagen wollte: Meinen David Lodge lese ich in den deutschen Übersetzungen, also Lodge in translation, während ich niederländische Literatur manchmal im Original, manchmal in der Übersetzung lese. Biesheuvel zum Beispiel kommt aus der gleichen Ecke, räumlich wie konfessionell, wie Maarten ´t Hart, die beiden waren befreundet, haben sogar die gleichen Schulen und Unis besucht, aber – oh Wunder – ihr Wortschatz ist so unterschiedlich, dass ich bei Biesheuvel öfter mal etwas einfach überlese, um nicht immer nachschlagen zu müssen, während ich ´t Hart recht zügig lesen kann.

Bei ´t Hart habe ich, wenn ich denn mal eine deutsche Übersetzung lese, immer das Gefühl, die falsche Synchronisationsstimme zu hören. So klingt der Mann doch nicht, das stimmt doch nicht. Bei Biesheuvel ist das anders, der hat für mich keinen eigenen Klang, obwohl er in den Niederlanden als einmaliges Talent und Meister der Kurzgeschichte gefeiert wurde. Was also geht durch Übersetzungen verloren, was wird möglicherweise sogar gewonnen? Wir erinnern uns daran, dass es mal hieß, ein Buch müsse man in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen, weil es im Original doch sehr verliere. David Lodge könnte ich mir im Original nur zusammenstoppeln, nur den Plot verstehen, nicht den Humor genießen und trotzdem höre ich nicht seine Stimme, wenn ich ihn lese.

Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf Weiterlesen

Auspacken

Jean de Vaudetar presents his gift of a book to Charles V of Franc

Ich habe ein neues Buch geschenkt bekommen.
Es ist nicht Weihnachten und ich habe auch nicht Geburtstag.
Darum geht es also nicht.
Es geht darum, dass ein Buch ein ganz besonderes Geschenk ist, eins, das man nicht auspackt und sagt: Oh, ein Buch!
Sondern etwas, das man geschenkt bekommt und das dann Seite für Seite ein Geschenk ist. Nicht immer natürlich. Manchmal. Wenn es ist, wie es sein sollte.
Dann ist es ein Geschenk, wie es sonst wohl keines gibt, weil in diesem Buch etwas wartet, vielleicht eine Welt, vielleicht ein Abenteuer, eine Idee, eine Reise in einen anderen Kopf und eine Begegnung mit dem eigenen Kopf.
Was für ein Geschenk.

Auf der Warteliste

Meistens lese ich mehrere Bücher gleichzeitig. Warum das so ist, weiß ich eigentlich nicht. Es hat sich eben so ergeben. Hier oben in meinem Arbeitszimmer, wenn man die Ecke mit PC und Büchern und Kabeln und Videos und Ordnern und Krimskrams ein Zimmer nennen will, liegen die Bücher herum, die noch gelesen werden wollen. Also nicht das es ihre Absicht wäre, ihr Wille, gelesen zu werden, es ist schon mein Wille, aber mit einem einfachen „mein Wille geschehe“ ist das ja nicht getan. Manche stehen da und müssen warten, werden sogar wieder zurückgestuft, wenn sie fast dran gewesen wären.

Das ist vermutlich hart für sie. Oder für ihre Autoren, die in dem betreffenden Moment sicher Herzstechen kriegen oder zumindest ein nervöses Zucken des linken Auges. Gut, vielleicht auch nicht, wie sollte es dann all den Autoren gehen, deren Bücher nicht mal das Lager des Großhändlers verlassen.

Arno Schmidt hat das in „Tina oder über die Unsterblichkeit“ allerdings genau anders herum gesehen. Bei ihm gilt nicht, dass wer schreibt, bleibt, sondern dass, wer gelesen oder besprochen oder auch beworben wird, bleiben muss. Bei Schmidt bleiben die unglücklichen Autoren nach ihrem Tod in einer unterirdischen Welt und hoffen darauf, endlich vergessen zu werden. Den meisten Autoren, die ich kenne, geht es allerdings so, dass sie darauf hoffen, endlich gelesen zu werden. Okay, ich geben zu, dass es sie nicht danach drängt, zu erfahren, ob ich sie endlich gelesen habe.

Obwohl das ja auch was hätte, wenn Deon Meyer, ein niederländischer Krimiautor, der mir völlig unbekannt ist, mich anriefe um sich zu erkundigen, warum ich sein Buch „De vrouw in den blauwe mantel“ noch nicht gelesen habe, obwohl es schon seit dem 15.06.2017 hier rumsteht. Ich weiß das genau, weil der Kassenzettel noch im Buch liegt. Das Buch selbst war ein Geschenk. Nein, ich gehe mit Geschenken nicht generell so um, das hier war eines anlässlich der „Woche des spannenden Buchs 2017“, Beifang beim Kauf eines anderen Buches sozusagen.

Deon Meyer muss noch warten, obwohl er jetzt gerade links neben der Tastatur liegt. Hoffnungsvoll. Aber rechts liegt „Drachenblut“ von Christoph Hein. Das ist dran. Und Meindert Evers „Begegnungen mit der deutschen Kultur.“ Je nach Laune lese ich auch Peter Wohlleben weiter „Das geheime Netzwerk der Natur“. Seit ein paar Tagen ist Elisabeth Etty mit „Minnebrieven aan Maarten“ dazugekommen.

Wie gesagt, meistens lese ich mehrere Bücher gleichzeitig. Sage ich so, stimmt abe nicht, ich lese sie nicht gleichzeitig, sondern ich lese einfach nicht erst das eine zu Ende und beginne dann mit dem nächsten. Manche sagen ja auch, sie hätten ein Buch aus gelesen. Klingt für mich, als sei das Buch jetzt alle. Leer. Fertig. Nein. Ich lese Bücher nicht aus. Ich lasse sie warten, ruhen, reifen um ihnen dann meine geteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

 

Leseerfahrung

Ich wollte nicht schreiben. Jedenfalls nicht, wenn es bedeutete, einen Griffel in die Hand zu nehmen und damit Zeichen auf eine Schiefertafel zu kratzen. Aber Sechsjährigen hört ja niemand wirklich zu. Der spätere Übergang auf den Füllfederhalter machte mir das Schreiben auch nicht leichter, denn dieses Schreibgerät, das regelmäßig aus einem kleinen Tintenfässchen betankt werden konnte Kleckse produzieren, nein, hinterließ ganz zuverlässig Kleckse.
Hätte ich damals schon von Murphys Law gewusst, mir wäre klar gewesen, dass Tinte immer erst ganz am Ende der Seite aufs Papier tropft., dann nämlich, wenn die ellenlange Hausaufgabe so gut wie fertig geschrieben ist. Die großflächigen blauen Sprenkel auf meinen Arbeiten hinderten meine Lehrer jedoch keineswegs daran, noch ihre eigenen Anmerkungen daneben zu setzen.
Ob ich damals wohl daran gedacht habe, nur noch mit roter Tinte zu schreiben, weil alle anderen, die sich mit meinen schriftlichen Leistungen befassten, das ja auch taten?
Kurz gesagt, ich schrieb weder schön noch richtig. Weiterlesen