Teil 1
Die letzte Häuserreihe der Neubausiedlung war geradeso vor dem Fest bezugsfertig geworden. In manch einem der Häuser stapelten sich deshalb noch die letzten Umzugskartons neben bunten Paketen, Päckchen und Umschlägen mit vielen Briefmarken aus den Staaten und von Tante Inge aus Hannover. Im allerletzten Haus lagen noch keine Pakete unterm Christbaubaum, im allerletzten Haus stand noch nicht einmal ein Baum.
Draußen, jenseits des Gartenzauns, wuchsen Bäume, Birken und Weiden, nicht sehr viele und nicht besonders mächtige Bäume, sondern solche, die einst gepflanzt und später geduldet worden waren und die trotzdem auf geheimnisvolle Weise verbunden waren mit dem großen Wald. Vorposten waren sie, den Launen der Menschen ausgesetzt, die sie mal umarmen und mal umhauen wollten.
Hinter dem Feld, das nun im Winter ruhte, hinter dem vereisten Entwässerungsgraben, der die Grenze bildete, begann der Wald, der Nadelwald, wie Mama gesagt hatte. Mit jedem Schritt weg vom befestigten Pfad hinein ins Unterholz, blieb das Bekannte zurück. Schnee knirschte unter den kleinen Stiefeln. Es knackte, huschte und flatterte, aber nur, wenn Lina nicht so genau hinschaute, nur aus den Augenwinkeln ein wenig nach links oder rechts schielte, sah sie ein Kaninchen davonhoppeln oder ein Reh erstarren.
Lina tastete nach ihrem Lillifee-Portemonnaie. Ja, es war noch da. Papa hatte gesagt, dass es in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum geben würde. Das neue Haus hatte so viel Geld gekostet, vielleicht brächte der Weihnachtsmann ja noch ein kleines Geschenk für Lina, aber einen Baum brächte der bestimmt nicht mit.
Bäume, das wussten ja schon babykleine Kinder, wuchsen im Wald. Also war Lina losgegangen, um einen Weihnachtsbaum zu holen. Wo sollten denn die Geschenke liegen, wenn nicht unter dem Weihnachtsbaum? Wie sollte es denn im Wohnzimmer leuchten und duften und überhaupt Weihnachten werden, wenn da kein Baum stand? Lina schüttelte empört den Kopf und stapfte weiter, die Hände in die warmen weiten Taschen ihres pinken Sternchenmantels gesteckt und die Kapuze tief in die Stirn gezogen, so dass nur die Augen und eine kleine rote Nase herausschauten. Es roch schon ganz schön gut nach Weihnachtsbaum, fand Lina, aber die Bäume, die sich immer dichter drängten und nicht mehr viel Licht auf den ziemlich unaufgeräumten Waldboden fallen ließen, waren alle viel zu groß und zu dick und überhaupt nicht schön. Eigentlich ein bisschen unheimlich. Grüne Riesen waren das mit langen Ästen, wie dicke Bärte sahen die aus oder wie weite Ärmel.
Huh, da hätte sie sich aber beinah erschreckt, Weiterlesen