China-Shopping (1)

China-Shopping (1)

Als ich ein Kind war, kauften wir bei Ischebeck ein, das war der Lebensmittelladen in der Nähe. Was es dort nicht gab, kauften wir in der Stadt. Da gab es Kaufhäuser und Warenhäuser und überhaupt mehr Geschäfte, als mir lieb war. Also nicht nur für Modellautos von Siku und Wiking, einen neuen Karl-May-Band und eine Brühwurst mit Senf und Brötchen, sondern auch für Kleidung, Bügeleisen und Suppenschüsseln. Das dauerte alles so lange, so lang konnte überhaupt keine Wurst sein. Mal abgesehen davon, dass die Wurst ohnehin eher dick als lang war.

Manchmal – und das war aus meiner kindlichen Sicht deutlich praktischer – wurde auch bestellt. Nicht online natürlich, auch wenn Konrad Zuse schon den ersten Computer gebaut hatte. Meine Eltern hatten nicht mal Telefon, sie kannten nicht mal jemand, der Telefon gehabt hätte. Ans Internet war noch nicht zu denken, unsere Phantasien drehten sich, wenn es um das Jahr 2000 ging, um fliegende Autos und den Kontakt zu Außerirdischen. Das Jahr 2000 war mächtig weit weg damals, okay, das ist es inzwischen auch schon wieder. Bestellen bedeutete also, einen Katalog durchzublättern und, hatte man gefunden, was das Herz begehrte, Größe und Farbe zu bestimmen, gern auch mal die Zahl der Raten, wenn man auf Kredit kaufte und das war bei Otto, Quelle, Neckermann und Bader Teil des Einkaufsvergnügens.

Bestellung abschicken, warten. Lange warten. Wochenlang. Gefühlt jahrelang. Dann kam das Paket und manchmal war drin, was man bestellt hatte, manchmal war etwas nicht lieferbar und manchmal passte, was so sorgfältig ausgesucht worden war, dann doch nicht. Bei den Lieferzeiten konnte es schon mal passieren, dass Kinder aus Klamotten rausgewachsen waren, die sie noch nicht einmal bekommen hatten. Dann also zurückschicken. Mit dem Paket zur Post in der Stadt. Weil: Ein Auto hatten wir natürlich auch nicht.

An die Zahlungsmodalitäten erinnere ich mich nicht mehr genau. Anfangs hatten meine Eltern kein Bankkonto. Sowas brauchte man auch nicht, weil der Lohn bar ausgezahlt wurde. Bei der Sparkasse hatte man ein Sparbuch. Ich auch, praktisch gleich nach der Anzeige meiner Geburt eingerichtet. Fünf Mark von der Sparkasse als Startkapital, glaube ich zumindest. Ich nehme an, dass meine Eltern Bareinzahlungen auf das Konto des Versandhauses leisteten, bis es später üblich bzw. notwendig wurde, ein Lohn- und Gehaltskonto einzurichten.

Was es nicht in der Stadt gab und was nicht im Katalog stand, das gab es praktisch nicht. Vielleicht in Amerika.. Die Japaner waren die gelbe Gefahr, die uns alle bedrohte, obwohl sie keine Kommunisten waren und auch keine Atombombe hatten. Aber sie bauten Transistorradios, diese kleinen, zerbrechlichen Teile, vermutlich aus Bakelit, mit denen man überall Radio hören konnte. Obwohl es noch lange dauern sollte, bis es auch einen Grund geben würde, Radio zu hören, denn zu der Zeit, von der ich gerade erzähle, gab es eigentlich nur Nachrichten, Operettenmelodien und wenn es ganz verrückt kam, die Musik aus den wilden Zwanzigern. Mein kleiner grüner Kaktus. In China gab es nur Mao, Kommunisten, seltsam uniformierte Menschen und zu wenig Reis. Das sollte sich ändern.

Nicht mal Bahnhof verstanden

Nicht mal Bahnhof verstanden

 

Wir waren erst vor wenigen Wochen nach Ostfriesland umgezogen. Ich kannte den Weg zur Schule und den in die Stadt, ansonsten wachte ich jeden Morgen in einem mir noch fremden Landstrich auf. Aber obwohl für mich alles neu war, hielt die Welt nicht inne und wartete, bis ich soweit war. Meine neuen Mitschüler hatten sich längst einen Praktikumsbetrieb für das Schulpraktikum gesucht, als ich noch nicht einmal ahnte, dass auch ich ins Praktikum gehen sollte. Die Landwirtschaftskammer nimmt dich, sagte mein Klassenlehrer, also ging ich hin und saß fortan täglich in einem Büro und kolorierte mit Buntstiften irgendwelche Messtischblätter. Ich hätte sicher genauso gut Servietten falten oder Kugelschreiberfedern nachspannen können.

Den Höhepunkt meines Praktikums sollte die Teilnahme an einer Außenaktivität der Kammer bilden. Ich bekam eine Fahrkarte in die Hand gedrückt und sollte am folgenden Morgen mit dem Zug von Leer nach Borssum fahren. Aber der Zug hielt nicht nur in Borssum, sondern vorher auch in Oldersum und die ganzen Sums verwirrten mich so, dass ich in Oldersum ausstieg. Mitten auf dem platten ostfriesischen Land. Allein auf dem Bahnsteig. Niemand, der mich abholte, niemand der wusste, wo ich war oder wo ich hinsollte. Nicht einmal eine Telefonnummer, die ich hätte anrufen können. Der Wind pfiff, es war kalt und ich war so falsch am Platz, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich fuhr wieder zurück und ging nachhause. Das war der beste Tag des gesamten Praktikums.

Bild: SuzanneBrandkamp, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Außen vor

Außen vor

Ich hatte Lokalverbot. Im Club. Der besten, der einzigen Diskothek in der Stadt. Vertrieben aus dem irdischen Paradies, war mein Leben plötzlich sinnlos geworden.

Ich habe keine Erinnerung daran, womit ich es verdient hatte, dass Francesco, so hieß der Wirt, ein energischer Italiener, mich des Ladens verwies. Vermutlich eine Kollektivstrafe für unsere konsumschwache langhaarige Gammlertruppe. Ich war eigentlich zu brav für sowas. Obwohl, wenn ich nachdenke… aber das muss ich ja nicht gerade jetzt tun.

Auf den ersten Blick hätte man denken können, dass alles so weiter ging wie bisher. Wir führten die gleichen Gespräche wie zuvor, lagen auf der Wiese am Hafen in der Sonne oder hockten am Kriegerdenkmal, drehten Zigaretten und boten einen erschröcklichen Anblick für die braven Bürger der Stadt. Sobald es aber dunkel wurde, sobald es kalt wurde, verengte sich die Stadt auf eine Straße, leuchtete nur noch ein Licht – und ich musste im Dunklen bleiben.

Wir Ausgeschlossenen, ich teilte mein Schicksal, Glück im Unglück, mit drei oder vier anderen, suchten Asyl im Venezia, einer neonlichtkalten Eisdiele mit Edelstahlbestuhlung und Tischplatten aus Marmorimitat, die erst um 22 Uhr dichtmachte. Mit einer Jukebox, in der nichts unsere Gnade fand und die wir doch manchmal mit Kleingeld füttern mussten, damit nicht jedes unserer Worte bis in die letzte geflieste Ecke getragen wurde. War die Cola alle, dauerte es auch nicht mehr lange und es wurde ungemütlich.

Also stromerten wir wieder durch die Stadt, suchten in den Eingängen der Läden Schutz vor dem ewigen Wind und träumten von Konzerten und Festivals, von Hendrix und den Scherben, die nie auch nur in die Nähe unseres Provinzstädtchens kommen würden. Die Glücklichen, die sich jetzt im Club drängelten, zu Songs von Marvin Gaye oder Santana tanzten, okay, auch zu Peter Maffay und das ging ja eigentlich gar nicht. Draußen trafen wir natürlich auch die schrägeren Typen, die, die das immerwährende Lokalverbot ereilt hatte, die in schlecht beleuchteten Ecken dealten und angeblich sogar mit einer Waffe gesehen worden waren. Mädchen allerdings sahen wir nie, die schienen sowas wie Lokalverbot nicht mal zu kennen.

Einmal, in einer beleuchteten Schaufensterpassage, griff Conny mir ins Haar. Damals kämmte ich meine Haare von einem ordentlichen Linksscheitel aus schwungvoll nach vorn, so dass sie meine Stirn vollständig verbargen und praktisch eine Linie über meinen Augenbrauen bildeten. Mit wenigen Handgriffen, vielleicht hatte Conny sogar seine Bürste in der Jackentasche, zauberte er einen Mittelscheitel, den ich seither brav beibehalten habe, auch wenn der Scheitel in der Mitte inzwischen ein wenig breiter geworden ist und meine Haare nicht mehr lang und nicht mehr schwarz sind.

Irgendwann war das Lokalverbot vorbei. Es endete nicht mit einer Einladung, doch bitte wieder unser Geld im Club abzuliefern, sondern mit unserer zunächst zögerlichen, mit schrägen Blicken bedachten, dann aber selbstverständlichen Rückkehr in den Club. Wir machten uns wieder über die Dorfjugend lustig, tranken am Wochenende unser schal werdendes Bier, rauchten frierend vor der Tür mit denen, die gerade mal wieder ausgesperrt waren und warteten darauf, dass das Leben endlich mal Gas geben würde.

Edward Hopper, Public domain, via Wikimedia Commons

Junge Stimmen

Junge Stimmen

Wir entscheiden die Wahlen. Klingt trivial, ist es auch. Natürlich, wer sonst? Klingt weniger schön, wenn man sich dieses wir genauer ansieht, denn wir, die Alten entscheiden. Ab wann man sich zu den Alten zählt, interessiert mich eigentlich nicht sehr, aber die Wählerinnen und Wähler, die 50 und älter sind, stellen die Mehrheit der Stimmberechtigten und nicht nur das, ihr Anteil an denen, die tatsächlich wählen, ist noch einmal größer. Wir dürfen nicht nur wählen, wir tun es auch. Und in den nächsten Jahren wächst diese Gruppe weiter.

Wir sind die, denen es gut geht. Ja, ich weiß, nicht allen ab 50 geht es gut. Wir sind auch die, die mehr Zeit beim Arzt verbringen, als gut für die Krankenversicherungen ist. Zu uns gehören auch diejenigen, die kaum mit ihrem Geld auskommen und die jobben müssen, bis der Arzt kommt. Aber der kommt ja nicht, der behandelt unsere Zivilisationskrankheiten.

Wir sind tendenziell konservativ, wir wollen nicht, dass sich Dinge ändern, weil wir uns die Namen der Handelnden dann nicht mehr merken können und in einer Welt, in der nichts mehr sicher zu sein scheint, sollten wenigstens die Renten sicher sein. Wir machen uns keine großen Sorgen um den Klimawandel, weil wir mehr Angst vor Kriminalität und Terrorismus haben, vor zu vielen Ausländern und zu wenigen Pflegerinnen und Pflegern. Vor dem Gendern und davor, dass die Bäckerblume und die Apothekenrundschau eingestellt werden könnten. Wir mögen es sicher, sauber und satt. Gegen uns entscheidet keiner.

Nach uns die Sintflut.

Vielleicht sollten wir ein Wahlrecht einführen, dass die Zahl der Stimmen, die ein Mensch bei einer Wahl abgeben kann, an die durchschnittliche Restlebenserwartung koppelt. Eine 18jähre hätte bei einer Lebenserwartung von 83 Jahren dann 65 Stimmen, eine 83jähige, gut, sein wir nett, 1 Stimme. Die, über deren Zukunft entschieden wird, würden über die Zukunft entscheiden. Jetzt sagt bloß nicht, junge Leute seien nicht erfahren und vernünftig genug. Ich weiß, was für einen Unfug ich anstelle und was für einen Unsinn ich mir zurechtdenke. Okay, es muss ja nicht gleich jeder so seltsam sein wie ich. Aber klüger und besser als der Rest sind wir auch nicht.

Wenn wir die Stimmen dann auch noch verteilen dürften, kämen viele lustige Parteien in die Parlamente. Ich fürchte nur, dass ich mit den Ergebnissen solcher Wahlen genauso unzufrieden wäre, wie mit den gegenwärtigen.

Bild: Francis Danby, Public domain, via Wikimedia Commons

Hut ab

United Press International, photographer unknown, Public domain, via Wikimedia Commons

Wir waren gerade erst umgezogen. Aus Hagen nach Leer, aus dem Ruhrgebiet nach Ostfriesland, aus der Großstadt in die Kleinstadt. Also bitte, das ging doch überhaupt nicht. Für Rentner vielleicht, aber doch nicht für einen Teenager. Ich hatte nämlich schon die achte Klasse hinter mir und war überhaupt nur noch schulpflichtig, weil die Niedersachsen schon das neunte Schuljahr eingeführt hatten. Außerdem war der Schuljahresbeginn von Ostern auf den Herbst verlegt worden, sodass ich in der kurzen 9a landete, aber in die lange 9b gehört hätte. Oder so ähnlich. Fast nämlich wäre ich nach nur einem halben Jahr Ostern 1967 entlassen worden, statt wie es sich ziemte im Herbst 1967. Also im Sommer eigentlich, aber das versteht jetzt eh keiner mehr. Ich auch nicht. Immerhin wurde ich so in Leer gleich zweimal neu eingeschult, erst in der falschen, dann in der richtigen Klasse. Vielleicht war das auch alles ganz anders und ich habe versehentlich ein halbes Jahr zu viel Schule genossen.

Leer also und ich fühlte mich so groß, so… das Wort cool war noch nicht eingebürgert und mein Fremdwortschatz beschränkte sich auf…, nein, eigentlich besaß ich noch keinen. In Hagen hatte ich die großen Jungs noch bewundert, die mit den Mick-Jagger-Hosen. Habe ich gerade noch gegoogelt. Damals war das ein feststehender Begriff, hautenge, kleinkarierte Hosen mit einem enorm breiten Gürtel. Jetzt findet man sie nicht unter diesem Namen. Vermutlich hießen sie nur auf unserem Schulhof so und deshalb habe ich nie eine bekommen. Nur eine kleinkarierte Hose ohne superbreiten Gürtel und das war so falsch, wie eine Jeans von Quelle, so ein blaues Teil, das man getrost auch hätte bügeln können und das niemals ausblich. Ja. Die bekam ich natürlich auch. Damit waren meine Coolnesswerte locker im Minusbereich.

Aber in Leer, da wollte ich es den Landeiern zeigen und auftrumpfen wie die großen Jungs. Mit der richtigen Jacke und Hose und Mütze und… ja, Mütze! Ringo und John und bestimmt auch die anderen, auf jeden Fall aber die großen Jungs in Hagen trugen Kappen. Schwarze Kappen, man sieht das auf Plattencovern und Fotos aus der Zeit. So eine musste ich auch haben. In Leer gab es natürlich kein Fachgeschäft für Teenager, die ihren Idolen nacheifern wollen, eine Art Kultausstatter oder so. In Groningen, vielleicht sogar schon in Winschoten, kurz hinter der holländischen Grenze, hätte ich bestimmt gefunden, was mein Herz begehrte. In Leer gab es nur einen Hutladen, in dem ältere Damen und alte Männer ihren Kopfbedarf deckten, denn Hüte und Mützen waren damals schon hoffnungslos aus der Mode. Bis auf die Beatlescap, von der man dort allerdings noch nie gehört hatte und bis vor zwei Minuten ahnte ich auch nicht, dass das Teil so heißt.

Ich wusste nicht genau, wonach ich suchte. Der Verkäufer hatte keinen blassen Schimmer, was er mit einem Kunden unter 60 anfangen sollte, mochte sich das Geschäft aber auch nicht entgehen lassen und so verließ ich stolz, aber auch ein wenig zweifelnd, den Laden mit einer schwarzen Kappe, die ich tapfer nachhause trug. Dort teilte mir mein Onkel freudestrahlend mit, dass es sich bei meiner Neuerwerbung um eine Prinz-Heinrich-Mütze  handelte, benannt nach dem jüngeren Bruder Kaiser Wilhelms II. Sowas wurde auch nie von den Beatles oder gar den großen Jungs getragen, dafür aber von Altkanzler Helmut Schmidt. Mega.

Warum, darum

Jan Van Vianen, Public domain, via Wikimedia Commons

„Das war bis hierhin schon mal ganz interessant. Kommen wir zu Ihrem Lebenslauf.“

„Ja gern. Geboren am 31.12.1952, Ausbildung zum Industriekaufmann, dann BWL-Studium…“

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber – die reinen Fakten liegen uns vor, die stehen schon in Ihren Bewerbungsunterlagen. Das ist ja nicht mehr als ein Gerüst. Es wäre schön, wenn Sie Ihre Motivation einbringen könnten. Lassen Sie uns verstehen, wie Sie zu Ihren Entscheidungen gekommen sind. Ihr Leben besteht schließlich nicht aus einer Anhäufung von Zufällen, die dazu geführt haben, dass Sie heute hier sitzen und nachher, wenn alles gut geht, als neues Mitglied unseres Teams Ihren Arbeitsvertrag unterschreiben. Also, wie  man so schön sagt: Butter bei die Fische. Es reicht, wenn Sie bei Ihrem schulischen Werdegang einsetzen.“

„Danke. Dann, ja, dann fange ich mal an mit dem Jahr 1958. Mit meiner Einschulung. Ich habe mich sehr bewusst für die einzügige Volksschule entschieden.“

„Ich unterbreche Sie nur ungern, aber es gab damals überhaupt keine Alternative zur Volksschule, oder?“

„Das ändert doch nichts daran, dass ich diese Schule sehr bewusst annehmen konnte? Nur so konnte ich die Volksschule zu meiner Schule machen, zu der, die ich wollte.“

„Und deshalb sind Sie dann auch dort geblieben, statt zum Gymnasium oder zumindest zur Mittelschule zu wechseln.“

„Genau. Ich bin sogar länger geblieben.“

„Man könnte auch sagen, Weiterlesen

Unhörbar

Photo by Mohammad Metri on Unsplash

Je älter ich werde, desto weniger Zeit verbringe ich damit, Musik zu hören. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich früher das Radio einschaltete, um NDR 2 zu hören, Musik für junge Leute oder später am Nachmittag den Club, ist mir längst abhandengekommen. Je mehr Geld ich für Musik ausgeben konnte, desto weniger gab ich aus. Je teurer die Anlage wurde, desto seltener wurde sie genutzt. Das lässt sich alles vermutlich gut erklären. Irgendwann geht man eben seltener aus, hört nicht mehr, was gerade neu und gut ist, findet vielleicht auch nicht mehr gut, was neu ist und koppelt sich langsam von der musikalischen Entwicklung ab. Ein guter Zeitpunkt, Jazz zu hören. Oder ein paar Konzerte zu besuchen, bei denen ältere Herrschaften auf der Bühne stehen, die ihr Handwerk beherrschen. Was auch wieder nach Jazz klingt.

Übrigens gefiel es mir früher, dass die Künstler*innen ungefähr so alt wie ich waren, meist Weiterlesen

Abschied mit Anlauf

Jordan White@unsplash

„Wir ziehen um.“

Drei Wörter, zweihundertvierzig Kilometer. Vierzehn sein war auch so schon hart genug. Und da stellten meine Ernährungsberaterin und mein Finanzdienstleister, auch als Mutti und Papa bekannt, doch tatsächlich noch in Frage, wo ich war. Dabei wusste ich nicht mal ganz genau, wer ich war. Aber das mit dem Umziehen war nicht zu diskutieren. Das heißt, diskutieren schon, bis zur totalen körperlichen und psychischen Erschöpfung. Nur änderte das nichts mehr.

„Es ist doch auch schön dort.“

Landschaftliche Schönheit, kulturelle Vielfalt und das Vorhandensein bedeutender Baudenkmäler verschiedenster Epochen gehörten zu den Argumenten, die während der Pubertät und in den darauf folgenden zehn Jahren aber auch so was von daneben waren, dass bereits ihre Erwähnung zur Aberkennung der Erziehungsberechtigung führen sollte. Fand ich.

„Und außerdem hat Papa einen besseren Arbeitsplatz gefunden. Nach den Sommerferien gehst du dann dort zur Schule.“

So gesehen reichten zweihundertvierzig Kilometer nicht aus. Wenn schon umziehen, dann doch bitte so weit, dass es keine Schulpflicht mehr gab oder wenigstens 14jährige mit der Schule fertig wären. Dann könnte ich vielleicht so etwas wie ein Abitur h.c. bekommen. Aber nein,

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Da Capo

Foto: Elfie Voita

Ich sagte irgendetwas, lachte auf und gab ihm einen Stoß, nicht besonders heftig, aber es reichte, um ihn auf die Straße und vor den herannahenden Bus zu bugsieren. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr.

Jedes Wort davon ist wahr – und zwar nicht so wahr, wie es Geschichten sind und auch nicht so wahr, wie etwas wahr ist, wovon in einer Geschichte gesagt wird, dass es wahr sei. Nein, es ist innerhalb und außerhalb dieser Geschichte wahr – und ich bereue nichts. Das heißt, etwas bereue ich schon: Das Ganze hat sich nämlich auf einer Bühne abgespielt und es kam niemand zu Schaden; ich weiß nicht einmal mehr, wer nicht zu Schaden kam. Was ich bereue, ist die Tatsache, dass ich auf dieser Bühne stand und mir gefühlt hunderte von Menschen auch noch dabei zusahen.

Es war der Tag der Schulentlassung und gemeinsam mit unserer Parallelklasse hatten wir wochenlang geprobt. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich wenigstens ein paar Minuten lang meinen Text gelernt hätte. Andererseits war mir klar, dass mir vor lauter Lampenfieber ohnehin kein Wort mehr einfallen würde, wozu also die vergebene Mühe?

Die Generalprobe war ein ziemliches Desaster, was ja angeblich ein gutes Zeichen ist, woran aber offenbar niemand glaubt, der an einer Generalprobe teilnimmt oder gar für das Gelingen der Veranstaltung Verantwortung trägt. Mein Klassenlehrer war nicht so leichtfertig gewesen, mir eine Hauptrolle Weiterlesen

Überdachte Literatur

Von Michael Kammerer (Rob Gyp) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37604962

Der Dachboden war der geheimnisvollste Ort in dem kleinen Siedlungshaus, das mir uralt schien, weil meine ewig schwarzgekleidete hagere Oma uralt war. 65 war sie wohl. Oh, es gab auch den Wohnzimmerschrank, den meine Erinnerung auf eine Tür, die linke, reduziert hat. Hinter dieser Tür, die später manchmal abgeschlossen wurde, verwahrte mein Onkel seine Bücher. Wie der Rest des Schrankes aussah, habe ich vergessen. Vielleicht besitze ich noch ein Foto, aber wozu nachschauen? Die wichtige Seite des Schrankes ist ja erhalten geblieben.

In den Sommerferien las ich nach und nach alle Bücher aus diesem Schrank. Einen Science-Fiction-Roman, eine Liebesgeschichte und… da muss viel mehr gewesen sein, aber offenbar hat mich sonst nichts nachhaltig beeindruckt. „Das Beste aus Readers Digest“ habe ich auch verschlungen, vermutlich nicht nur das Beste. Viele bunte Bände, die auf einem Regalbrett im Zimmer meines Onkels standen. Und die Hörzu.

Sechs Wochen Ferien und nur kleine Mädchen und alte Leute. Ab und zu donnerte ein Starfighter im Tiefflug über den dörflichen Vorort der kleinen Stadt und durchbrach mit einem kolossalen Knall die Schallmauer. Dann kehrte wieder Frieden ein. Kreuzspinnen lauerten zwischen den Dornen der Blutberberitze, am Horizont zog eine unhörbare Dampflok Güterwagen und eine Rauchfahne in Richtung Emden. Die Zeit schlich, es war warm, Fliegen summten, die Katze döste in der Sonne und die Hühner gackerten. Da brauchte ein Zwölfjähriger dringend Lesefutter.

Eigene Bücher hatte ich nicht mitgebracht, wozu auch? Die paar, die in Hagen hinter der Klappe meiner Bettcouch standen, kannte ich fast auswendig, weil ich sie wieder und wieder las, bis es endlich ein neues Buch gab. Viel mehr Bücher besaßen wir nicht. Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihr Poesiealbum dabei, das unterwegs zum Tagebuch wurde. Mein Vater war mit nicht viel mehr als seinem Soldbuch in den Krieg gezogen und mit nichts aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Nicht heimgekehrt, sondern…äh fremdgekehrt? Nicht ins Sudetenland, das hinter dem Eisernen Vorhang verschwand und nun als Nordböhmen ein Teil Tschechiens ist, sondern ins Nachkriegsdeutschland. Bücher waren das letzte, was meinen Eltern fehlte. Aber da war ja der geheimnisvolle Dachboden meiner Oma in Ostfriesland.

Im ersten Stock ihres Hauses befand sich eine Dachluke, die, wenn man sie öffnete, eine Leiter freigab, mit deren Hilfe man in den Spitzboden gelangen konnte. Bestimmt hat niemand diese Luke für mich geöffnet, bestimmt habe ich mich nicht getraut, das allein zu tun, also bin ich wohl einfach einmal meinem Onkel gefolgt. Ich kannte so etwas nicht, wir wohnten mit fünf anderen Familien in einem Neubau mit einem riesengroßen Dachboden, der Teil des Alltags  war, auf Weiterlesen

Der Tagedieb

Von Albert Letchford – File:Tales from the Arabic, Vol 1.djvu, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61330156

Wieder einmal ein Beitrag aus der Reihe „Zu Recht vergessene Jugendwerke“. Es geht hier nicht um den CVJM oder die FDJ, sondern um Texte, die ich vor  vielen Jahrzehnten geschrieben habe.

Der Tagedieb

Im Morgenland erzählt man sich bis auf den heutigen Tag Märchen und Legenden, aber auch alte Wahrheiten werden so von Generation zu Generation weitergetragen. Einst wurde mir diese Geschichte erzählt, deren Echtheit mit der Erzähler beim Barte seiner Großmutter beschwor.

Meine Geschichte ist seltsam; würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für einen jeden, der sich warnen ließe. Und dies ist sie:

In den Tagen des Hārūn al Raschīd lebte in Bagdad ein Weiser, der lange Jahre treue Dienste für den Kalifen und seine Wesire geleistet hatte und mit vielen Ehrengewändern  dafür belohnt worden war. Nun jedoch war er in Ungnade gefallen, weil er in den Ruch geraten war, mit Geistern Umgang zu pflegen, die nicht zu den rechtgläubigen zählten. Seiner Ämter und seines Ansehens beraubt, sann er auf Rache und fand – mit Hilfe jener frevelhafter Geister, mit denen er sich tatsächlich gemein gemacht hatte – einen Weg, der nur einem verwirrten Geist entspringen konnte.

Er stahl einen Tag aus der Woche –  und zwar den Montag. Anfänglich bemerkte niemand, was geschehen war, doch dann brach der Winter ein – um viele Wochen zu früh, denn das Jahr war um 52 Tage kürzer geworden. Kein Mensch konnte sich erklären, was geschehen war und als auch noch der Dienstag gestohlen wurde, begannen Männer und Frauen, Kinder und Greise zu zittern, denn ihre Lebenszeit verrann viel schneller, als sie erwarten durften. Weiterlesen

Wehrlos

Foto: Elfie Voita

 

Unterwegs, um Abschied zu nehmen. Ein schwerer Gang, wie man so sagt. Umsteigen in der kleinen Stadt, in der ich meine Jugend verbracht habe. Eine halbe Stunde Aufenthalt. Ich schaue mich um, habe das Gefühl, mich hier auszukennen, wohl nur noch ein Gefühl, was weiß ich denn vom Leben in der Stadt, von den Menschen in der Stadt.

Dabei habe ich hier gelernt, wie sich Heimat anfühlt. Nein, nicht damals, sondern erst viel später, wenn ich als Besucher zurückkehrte. Für ein paar Tage, ein paar Stunden. Liebe geht angeblich durch den Magen, Heimat möglicherweise auch, ich spüre sie im Bauch. Nein, ich könnte den Punkt jetzt nicht benennen, nicht darauf zeigen, aber er ist da, reagiert sofort. Mein kleines, warmes Heimatgefühl, vielleicht so wie, nein, ganz anders, an einer anderen Stelle als das Glück, Weiterlesen