Warum, darum

Jan Van Vianen, Public domain, via Wikimedia Commons

„Das war bis hierhin schon mal ganz interessant. Kommen wir zu Ihrem Lebenslauf.“

„Ja gern. Geboren am 31.12.1952, Ausbildung zum Industriekaufmann, dann BWL-Studium…“

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber – die reinen Fakten liegen uns vor, die stehen schon in Ihren Bewerbungsunterlagen. Das ist ja nicht mehr als ein Gerüst. Es wäre schön, wenn Sie Ihre Motivation einbringen könnten. Lassen Sie uns verstehen, wie Sie zu Ihren Entscheidungen gekommen sind. Ihr Leben besteht schließlich nicht aus einer Anhäufung von Zufällen, die dazu geführt haben, dass Sie heute hier sitzen und nachher, wenn alles gut geht, als neues Mitglied unseres Teams Ihren Arbeitsvertrag unterschreiben. Also, wie  man so schön sagt: Butter bei die Fische. Es reicht, wenn Sie bei Ihrem schulischen Werdegang einsetzen.“

„Danke. Dann, ja, dann fange ich mal an mit dem Jahr 1958. Mit meiner Einschulung. Ich habe mich sehr bewusst für die einzügige Volksschule entschieden.“

„Ich unterbreche Sie nur ungern, aber es gab damals überhaupt keine Alternative zur Volksschule, oder?“

„Das ändert doch nichts daran, dass ich diese Schule sehr bewusst annehmen konnte? Nur so konnte ich die Volksschule zu meiner Schule machen, zu der, die ich wollte.“

„Und deshalb sind Sie dann auch dort geblieben, statt zum Gymnasium oder zumindest zur Mittelschule zu wechseln.“

„Genau. Ich bin sogar länger geblieben.“

„Man könnte auch sagen, dass Sie sitzengeblieben sind.“

„Könnte man, sollte man aber nicht. Es war schon damals nicht meine Art, mich schnell zufriedenzugeben. Mit der vierten Klasse war ich noch nicht fertig und ich kann Dinge nicht gut unerledigt lassen.“

„So kann man das natürlich auch ausdrücken. Vielleicht überspringen wir den Rest Ihrer insgesamt ja nicht sehr erfolgreichen Volksschulzeit und kommen zu Ihrer Berufswahl.“

„Das ging jetzt aber sehr hoppla hopp. Für meine Berufswahl muss ich schon etwas weiter ausholen.“

„Bitte. Nehmen Sie sich die Zeit die Sie brauchen.“

„Schade, ich kann das Foto gerade nicht finden. Ich sehe nämlich glücklich aus auf dem Bild. Kann sein, dass nur ich das so sehe, aber auf Fotos sieht man ja oft viel mehr, als die Kamera festhält. Zum Beispiel sehe ich meine Begeisterung und ich sehe auch das Ende der Geschichte. Es ist ein Farbfoto, eins, das mit einer Kodak-Instamatic geknipst wurde. In den Sommerferien in Ostfriesland.“

„Sehr schön. Wir sehen es vor uns. Das heißt, nein. Ich sehe überhaupt nichts vor mir.“

„Äh, ja. Ich stehe da mit einem zu großen Hut auf dem Kopf, einer offenen Weste, einem lässig über die Schulter gehängten Beutel und kurzen Hosen. Staubig von Kopf bis Fuß.  Ein bisschen Huckleberry Finn. Wir hatten im Garten meiner Oma Kartoffeln geerntet, an einem heißen Tag und mein Onkel hatte mich angespornt, ordentlich reinzuhauen. Ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt.“

„Also etwa zu dem Zeitpunkt, an dem Ihre schulische Karriere ins Schlingern geriet?“

„Ja, wohl ungefähr zu der Zeit, als meine Eltern anfingen sich damit abzufinden, dass mein Kopf nicht fürs Büro und meine Finger nicht fürs Handwerk taugten.“

„Machte Ihnen das denn keine Sorgen?“

„Nein. Ich hatte ja Karl May. Ich konnte immer noch Cowboy oder Missionar werden.“

„Bitte keine Details dazu. Ich fürchte, ich kann Ihnen so schon nicht mehr ganz folgen.“

„Weiter mit den Kartoffeln?“

„Wenn es denn sein muss…“

„Jetzt weiß ich übrigens überhaupt nicht mehr, wann Sie aufgehört haben, sich bei mir dafür zu entschuldigen, dass Sie mich unterbrechen. Aber egal. Also Onkel Erwin. Wenn du genug Kartoffeln gesammelt hast, gehen wir in die Stadt und verkaufen sie, das hat mein Onkel Erwin gesagt. Er hob die Kartoffeln mit der Forke an und ich sammelte sie auf. In einen Drahtkorb. So einen…“

„Schon gut. Sind Sie sicher, dass wir das alles wissen müssen?“

„Sicher? Was ist schon sicher! Aber ja, ich denke, das ist für meine Motivation unerlässlich. Also nicht das mit dem Korb. Aber das mit den Kartoffeln und meinem Onkel schon. Als wir fertig waren, wollte er nicht mit mir in die Stadt und da die Kartoffeln verkaufen. Er hatte das von Anfang an nicht vor, aber das habe ich erst Jahre später begriffen. Man verkauft nicht einfach so in der Stadt Kartoffeln aus einem Leinenbeutel. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich damals fühlte! Ich war so enttäuscht. Betrogen und unglücklich. Ich hab Rotz und Wasser geheult und war doch völlig machtlos. Das würden Sie auf dem Foto übrigens auch nicht sehen, ich schon. So ist mir klar geworden, dass ich Kaufmann werden will. Unbedingt Kaufmann. Also nicht, dass da gleich der Himmel aufging und ein goldener Strahl mich traf, das war erst später, in einer Kirche in Prag, bei einem Konzert. Bach, glaub ich.“

„Ja. Sehr schön. Ich denke, wir haben jetzt ein ganz gutes, also zumindest ein sehr deutliches Bild von Ihnen. Das reicht. Für einen angehenden Buchhalter war das schon recht… äh, ja. Sie hören dann von uns.“

15 Gedanken zu “Warum, darum

  1. Die Wünsche, Gedanken und Taten sind auf Grund der Verhältnisse eben immer ein bisschen anders, aber aus der eigenen Geschichte gibt es keinen Ausweg, es gibt aus dem ganzen Leben, wenn man so will, keinen Ausweg.

    Gefällt 3 Personen

    • Die Geschichte hat natürlich einen autobiografischen Kern. Während meiner Berufstätigkeit in der Erwachsenenbildung habe ich selbst das Vergnügen gehabt, als Jobcoach zu arbeiten und damit auch Arbeitslose auf Vorstellungsgespräche vorzubereiten. Die Idee, das eigene Leben als Geschichte zu erzählen, stammt daher. Die Geschichte mit den Kartoffeln ist auch ziemlich wahr, das Vorstellungsgespräch, in dem der Bewerber diese Geschichte erzählt, bleibt aber bewusst offen. Ich nehme mal an, dass der Bewerber drei Wochen später seine Unterlagen im Briefkasten vorfindet, aber es gibt auch Unternehmen, die mit Kreativität und Ehrlichkeit etwas anfangen können.

      Gefällt 1 Person

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