Es sollte ein sonniger, frühlingshafter Sonntag werden. Wir pumpten die Reifen unserer Fahrräder auf und fuhren zum Bahnhof, um mit der Eurobahn nach Isselhorst-Avenwedde zu fahren. Irgendwann hat man nämlich das Gefühl, alle schönen Radwege der unmittelbaren Umgebung zu kennen. Die Wege bleiben schön, aber der Reiz des Neuen, des Fremden geht verloren, wenn man weiß, dass hinter der nächsten Kurve die hübsche Wassermühle liegt und dass es in Telgte eine kleine Rösterei mit leckerem Kaffee und Nussecken gibt. Zugegeben, jetzt will ich da hin. Aber gestern nicht. Gestern wollten wir das Unbekannte, ja, wir waren sogar bereit, dafür nach Ostwestfalen zu reisen. 44 Minuten mit der Bahn, also nicht mit einem richtigen Zug, sondern mit etwas, dass man früher wohl einen Schienenbus genannt hätte und das heute Triebwagen heißt.
Es gab keinen speziellen Grund, dass es Isselhorst-Avenwedde werden sollte, der Zug fährt halt nur in nach Münster oder nach Bielefeld. Isselhorst-Avenwedde war für eine Radtour gerade weit genug entfernt und uns völlig fremd. Der zunächst fast leere Zug füllte sich zunehmend, Fußballfans waren auf dem Weg nach Bielefeld, um Arminia im Kampf gegen den Abstieg zu unterstützen.
Wir waren im ländlichen Ostwestfalen, man neigt hier nicht zu dramatischen Gesten und ungezügelten Emotionen. Ein Fanschal oder ein Trikot, eine Flasche Bier, das reicht schon, um sich von sonntäglichen Ausflüglern abzuheben. Ein paar Stationen, dann hält der Zug in Gütersloh. Jetzt noch ein paar Minuten, Isselhorst ist ein Ortsteil von Gütersloh. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingemeindet. O Gott, wie alt ich mich fühle, wenn ich vom vergangenen Jahrhundert schreibe. Fast so alt, wie ich mich nach 50 Kilometern auf dem Fahrrad fühle. Ich verschweige an dieser Stelle besser, dass wir mit E-Bikes unterwegs waren.
Isselhorst Avenwedde also. Ein Haltepunkt, so schien es. Der Bahndamm lag recht hoch, eine Treppe führte hinunter zum Ausgang. Nur eine Treppe, kein Aufzug, nicht mal eine Fahrradrampe. Ging schon mal gut los. Die üblichen schmuddeligen Treppenhäuser und Gänge, dann waren wir draußen. Gleich um die Ecke stand ein Denkmal und das schmucke Bahnhofsgebäude, das 1891 eingeweiht, inzwischen aber längst zweckentfremdet wurde und nun der Kultur und der Jugend dienen soll. Der Bahnhof hieß Isselhorst-Avenwedde, lag aber in Avenwedde. Ich könnte erklären, warum das so ist, verbrauche den Platz aber lieber dafür, auszubreiten, dass ich das nicht tun werde. Da ich aber das Denkmal schon erwähnt habe, kann ich das nicht einfach stehen lassen, denn in Avenwedde kam es zum ersten Unfall eines Personenzugs in Deutschland, bei dem es auch Todesopfer gab, damit war es natürlich auch der schwerste Unfall in der noch recht jungen deutschen Bahngeschichte.
Drei Tote des Jahres 1851 wären längst vergessen, aber Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, damals noch nicht der Thronfolger, denn sein Vater war noch nicht deutscher Kaiser, war mit diesem Schnellzug unterwegs und kam, je nachdem, wem man glauben möchte, bekam einen Schnupfen, bekam ein paar Schrammen ab oder trug eine stark blutende Wunde am Hinterkopf davon. Er starb nicht daran, das besorgte erst der Tabak, Friedrich war starker Raucher und starb 1888 nach nur 99 Tagen als Kaiser Friedrich III im sogenannten Dreikaiserjahr an Kehlkopfkrebs. Nicht in Avenwedde, sondern in Potsdam.
Wir stiegen in Avenwedde auf unsere Räder, verfuhren uns ein bisschen im Ort, dann durch einen langen Tunnel unter dem Bahndamm hindurch, von dem damals die Waggons in die Tiefe stürzten, über schmale Wege hinaus in den nachmittäglichen Sonnenschein.
Isselhorst, das sich auf das Namensschild des Bahnhofs gemogelt hat, soll nicht unerwähnt bleiben, so wie es nicht unerfahren blieb. Ein hübscher kleiner Ort oder Ortsteil, sonntäglich ruhig, mit kleinen Geschäften, freundlich aufgeräumt, ein wenig wie die Kurorte der Region. Warendorfern bemerken mit einem Anflug von leichtem Interesse, dass der Ort Mitte des 11. Jahrhunderts „im ältesten Heberegister des Klosters Freckenhorst erwähnt“ wurde. Als Gislahurst. Zum Verständnis: Freckenhorst ist ein Ortsteil Warendorfs. Wir waren also praktisch in einer ostwestfälischen Exkolonie unseres 1975 nur widerwillig eingemeindeten Ortsteils. Da fühlten wir uns doch gleich ein wenig heimisch. Dann lag da auch noch ein Café mit Außengastronomie direkt an unserem Weg und weil wir schon fast fünf Kilometer geschafft hatten, gönnten wir uns eine Pause. Der Rest ist schnell erzählt. Der Teutoburger Wald am Horizont, Fachwerkhäuser, Pferde auf den Weiden, kleine Wäldchen. Mal ein nicht asphaltierter Weg mit mehr Schlaglöchern als uns lieb ist, dann wieder schmale Straßen, kaum Autos, viele Radfahrer, die sogar grüßen. Und das in Ostwestfalen. Zum Abschluss eine Pizza und ein großes Glas Rotwein in einer kleinen Pizzeria in Warendorf. Perfect Days.