Edgar Selge

Edgar Selge

Wieso ich das eine Buch lese, das andere aber nicht, ich kann es nicht wirklich erklären. Früher waren es Klappentexte und Rezensionen, die meine Entscheidungen beeinflussten, das geschieht jetzt seltener, weil ich schneller vergesse, was ich da gehört oder gelesen habe. „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge wurde mir in die Hand gedrückt, ein Geschenk. Eins, für das ich dankbar bin. Also eigentlich bin ich ja grundsätzlich dankbar, wenn ich beschenkt werde, einfach deshalb, weil Menschen mich beschenken, auch wenn das bei manchen Anlässen eben so üblich ist und das Nichtschenken viel bemerkenswerter wäre. „Du, ich schenke dir mal nichts, weil ich keinen Bock hatte, etwas für dich zu kaufen. Geschweige denn dir etwas zu basteln“, das sagt man ja nicht.

Meistens gibt es aber, was ich mir gewünscht habe, eine mögliche Enttäuschung habe ich mir dann also selbst zuzuschreiben. Hätte natürlich auch was, ein paar Sachen auf die Wunschliste zu schreiben, die man bestimmt nicht will und dann mal zu sehen, was davon tatsächlich geschenkt wird.  Das böte dann Anlass für interessante Gespräche. „Vielen Dank, das wäre aber nicht nötig gewesen“ oder „Hast du wirklich geglaubt, dass ich sowas lesen würde? Ich dachte, du würdest mich besser kennen.“

Edgar Selge also. Dem allgemeinen Hintergrundrauschen hatte ich schon entnommen, dass das Buch gelobt wurde. Heißt ja nichts, Leute werden dafür bezahlt, Rezensionen zu schreiben und wenn man nicht weiß, was die jeweiligen Rezensenten sonst so gefeiert haben, ist ein Urteil schwer einzuordnen. Jetzt habe ich das Buch gelesen. Ich mochte es.

Das wäre doch mal eine Rezension, gerade auch für Leute, die keine Zeit haben, aber die lesen vermutlich auch keine Bücher. Also ausführlicher. Ein Roman, heißt es. Autofiktion oder autobiografisch geprägt, jedenfalls nah am Leben des Autors, nehme ich an, die biografischen Details des Autors und des Protagonisten stimmen zumindest überein. Die Frage, ob das alles so stimmt, ob Selge das alles so erlebt hat, verbietet sich eigentlich, weil er sein Buch eben nicht als Autobiografie bezeichnet, er wird wissen, warum. Es wird kein Leben erzählt, kein Lebenslauf erläutert, sondern im Kern des Textes sind wir im Herford der fünfziger Jahre. Vor dort aus blickt er zurück und nach vorn, auch mal von heute aus zurück auf spätere Ereignisse, den Tod des Bruders und der Eltern. Doch es ist die Kindheit, um die es geht. Das Leben kurz nach der Katastrophe des Nationalsozialismus.

Ich bin nur wenige Jahre jünger, aber in meinem Elternhaus war die Nazizeit kein Thema, vielleicht auch, weil ich keine älteren Geschwister hatte, die Fragen gestellt hätten. Vielleicht auch, weil meine Eltern nicht unter der Niederlage, unter dem Verlust des großen Glaubens an die Volksgemeinschaft, den Führer und den Sieg litten. Während des Lesens des Buchs wurde mir für mich viel nachvollziehbarer, welche Last auf dem Leben, auf dem Denken und Sprechen der Nachkriegszeit lag und wie unmittelbar Verfolger, Gleichgültige und Opfer in der erzwungenen Demokratie miteinander leben mussten und wie schnell es die Täter und die Mitläufer wieder zu Macht und Einfluss gebracht hatten. Selge handelt das nicht theoretisch ab, er lässt uns teilhaben an den Gesprächen am Mittagstisch, an der Begeisterung für Musik und Kunst und an der Gewalt, an der psychischen und physischen, die der Vater über die Familie hat.

Edgars Leiden unter diesem Vater, aber auch seine Prägung durch diesen Vater, zieht sich durch die Episoden des Buchs. Episoden sind es, die Selge erzählt, vom Kino und von der Schule, vom Spielen im Garten und von Besuchen bei den Nachbarn.

Seine Familie war anders, gebildeter, musischer, aber auch verstrickter in die NS-Vergangenheit, als meine Familie, aber Selge erzählt nicht nur von sich, er erzählt von uns, von diesem Land und den Menschen, von ihren Werten und ihren Urteilen. So waren wir und ob wir anders sind, besser, wird eine andere Generation erzählen müssen.

Foto: Martin Kraft, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

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6 Gedanken zu “Edgar Selge

  1. Danke, lieber Manfred, für diese Beschreibung. Ich sah das Buch damals mit dem markanten Gesicht und vor ein paar Tagen in Berlin noch einmal, zum Mängelexemplar gestempelt und von der Preisbindung befreit, dachte dann das Übliche. Das wollte ich auch gelesen haben. Jetzt begegnet es mir schon wieder in sympathische Wörter gehüllt. Es scheint mich zu verfolgen. Mal sehen, wer schneller ist.

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