Der Text, den ich heute hier veröffentliche, ist neu, aber er beschreibt Erfahrungen, die ich vor über vierzig Jahren gemacht habe. Mein Anspruch war nicht, die Verhältnisse so objektiv wie möglich darzustellen, sondern meine Sicht auf eine Realität, die manche vielleicht als bedrückend erleben mögen.
Leise gehen
Das Zimmer liegt am Ende der Station, es ist das Ende der Station. So, wie Menschen sich spezialisieren, etwas gut können, spezialisieren sie auch Räume. Manche werden zu Bädern, Küchen, Fluren oder Schlafzimmern, nur ganz wenige aber werden zu Sterbezimmern. Dabei gehört doch wirklich nicht viel dazu, denn so, wie überall gelebt wird, wird auch überall gestorben. Zum Sterben, wenn es seine Ordnung haben soll, braucht es nur wenig Platz und eigentlich fast keine Möbel. Ein Bett genügt schon. Ein Stuhl, vielleicht ein Tischchen, aber das interessiert die Sterbenden schon nicht mehr, das ist Deko, die es den Lebenden leichter macht einen Raum zu ertragen, in dem nur noch geatmet wird und dann auch das nicht mehr.
In dieses Zimmer kommt keiner wie Goethe, der in seinem Lehnstuhl starb und bis in die letzten Minuten die Weltbühne bespielte. „Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen! Gib mir dein Pfötchen“, soll er gesagt haben. Hier verlangt auch niemand nach mehr Licht. Nach nichts verlangt man hier und wenn doch, dann geht’s zurück auf die Station, dann stellt man sich erneut an und wartet, bis man wirklich an der Reihe ist. Nicht einmal der Schmerz, niedergekämpft oder weggespritzt, darf mit in diesen Raum, in dem es leise ist, immer, auch wenn nebenan in der Teeküche das Personal schwatzt und raucht und die Spülmaschine läuft, weil die Stille in die Wände eingezogen ist wie Nikotin in die Tapeten.
Keiner kommt. Kein Besucher, kein Geistlicher. Manchmal öffnet sich die Tür und eine Schwester prüft, ob alles seine Richtigkeit hat. So, wie aufmerksame Eltern einen Blick ins Kinderzimmer werfen um zu sehen, ob die lieben Kleinen auch schon schlafen, schaut sie, ob der Sterbeprozess voranschreitet. Die Atmung flach, die Füße und die Unterschenkel kalt, eiskalt. Das dauert noch. Da wird die Nachtschwester noch einmal schauen müssen, ob das Bett wieder neu bezogen werden, das Zimmer wieder neu belegt werden kann.
Man ist nicht gefühllos, aber der Tod ist hier kein Drama. Hier hört das Leben einfach auf, manchmal ganz unbemerkt. Ob es einen Himmel gibt oder eine Hölle, solch große Fragen stellt hier keiner. Einen Leichenkeller, den gibt es, soviel ist sicher und danach verlieren sich die Spuren.
Am anderen Morgen, wenn die Tür offensteht und das Bett frisch gemacht ist, dann darf der Zivi, der mal wieder durchgemacht hat, dort noch eine halbe Stunde schlafen.