Neu: „An Deutschland“ von Rainer Strobelt

Neu: „An Deutschland“ von Rainer Strobelt

Rainer Strobelt, dessen Texte ich hier immer wieder einmal vorstelle, hat sein neues Buch veröffentlicht. Ich habe am Prozess der Textauswahl, der Gestaltung und Formatierung ein wenig mitgewirkt, bin also nicht gänzlich unbefangen. Okay, ich bin befangen. Es ist ein schönes Buch geworden, ein gutes Buch und eins, das sich gut auf dem Nachttisch und im Bücherregal macht. Ein Buch, das man verschenken könnte, würde man sich denn von ihm trennen wollen. Aber halt, ich merke, dass es mit mir durchgeht. Etwas Abstand ist auch bei dem Buch eines Freundes angebracht.

Rainer schreibt schon lange und hat in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Reihe Bücher veröffentlicht. Jetzt, nach dreißig Jahren, ist es an der Zeit, zu ordnen und zu werten. „An Deutschland“ sammelt die Gedichte, in denen sich Rainer Strobelt mit unserem Land auseinandergesetzt hat. Nachdenklich, optimistisch, ernst, spielerisch, fast immer kurz.

Oft heißt es, dass Liebe durch den Magen geht, Deutschland geht Rainer Strobelt durch den Kopf, er prüft sein Land und sich auf Herz und Nieren und wir Leser lassen uns seine Worte auf der Zunge zergehen. Ein Schatz für alle, die Rainer Strobelt erst jetzt entdecken, denn manches ist inzwischen nicht mehr im Handel erhältlich. Und auch für diejenigen, die Rainer Strobelt schon länger kennen und schätzen, bekommt der ein oder andere Text beim Wiederlesen ganz gewiss einen anderen Stellenwert, eine neue Bedeutung. Lesen hilft.

Mist

Mist

Ich schreibe seit vielen Jahren auch im Rahmen der Schreibwerkstatt Seitenweise und manchmal stelle ich hier auch Texte vor, die für die Schreibwerkstatt entstanden sind. Diesmal ging es darum, einen Text aus der griechischen Mythologie neu zu erzählen. Bitte schön, hier ist meine Fassung:

„Nummer fünf.“
„Echt jetzt? Lässt sich da nichts machen? 12 Aufgaben in 12 Jahren?  Das kann man doch keinem vermitteln. Selbst The crown hat es nur auf sechs Staffeln gebracht – und die waren keineswegs göttlich.“
„Diana?“
„Ich sag nur Unsterblichkeit. Oder meinst du diese römische Artemis-Kopie?“
„Ist jetzt auch egal. Das sind nun mal deine Bewährungsauflagen. 12 Aufgaben in 12 Jahren und am Ende die Unsterblichkeit.“
„Okay. Dann raus damit. Was darf’s denn diesmal sein?“
„Rinderställe ausmisten.“
„Was für ein Scheiß!“
„Ja. Es kommt aber noch schlimmer: Die von Augias. 3.000 Rinder und niemand hat ausgemistet, seit Jahren nicht.“
„Hab ich einen Joker? Eine Alternativaufgabe? Zwölf von dreizehn vielleicht?“
„Nein, aber du musst dich nicht lange damit aufhalten. Es muss innerhalb eines Tages durch sein.“

Herakles trat vor den Spiegel und probierte einige Posen aus, mal mit dem Bizeps im Vordergrund, dann mit gesenktem Daumen und wildem Blick.
Es gibt in der griechischen Sagenwelt leider keine Hinweise darauf, das Oionos Herakles als eine Art Tourmanager und Berater begleitet hat, aber es steht auch nirgends, dass er es nicht getan hat, also nehmen wir das mal an, weil es überhaupt nicht heldenhaft rüberkäme, wenn Herakles sich hier in Selbstgespräche verzetteln würde – Oionos also, sein Vetter und Freund, das immerhin ist sicher, las sich die genauen Bedingungen noch einmal durch. Keine Bilder, das war ihm klar, es dürfte auf keinen Fall Bilder davon geben, wie der strahlende Held durch die Kacke watete.

„Marie Kondō!“
„Bitte?“ Oionos konnte sich nicht so schnell von den ekligen Bildern lösen, vom Gestank und der puren Erniedrigung, der Herakles mit dieser Aufgabe ausgesetzt werden sollte.
„Marie Kondō! Die Japanerin. Die Ikone der Ordnung. Blitzblank und cool. Da muss doch was gehen.“
Herakles sah die Bilder auf Insta schon vor sich. Glückliche Kühe auf grünen Wiesen, er mit Marie Kondō am wolfssicheren Zaun mit einem Cocktail in der Hand…
„Wie kommst du gerade auf die?“
„Ausmisten.“
„Das hast du glaube ich falsch verstanden. Alles auf einen Haufen und wegschmeißen, was einen nicht glücklich macht.“
„Ja, die Rinder dürfen bleiben.“
„Glaub mir, so einfach ist das nicht. Nächste Idee?“
Herakles, angeregt durch seine Marie Kondō, hatte sich einen Ouzo-Spezial besorgt und mit seinen großen groben Fingern natürlich prompt ordentlich gekleckert. Nachdenklich starrte er auf die Pfützen auf dem Tisch.
„Ja. So machen wir das.“
Oionos konnte seinem Kumpel schon wieder nicht folgen, das Thema Marie Kondō hatte sich doch erledigt, oder?
„Ich reiße eine Wand des Stalls ein, leite Alpheios und Peneios…“
„Alfios und Pinios heißen die beiden Flüsse inzwischen, dein Altgriechisch verwirrt die Leute nur.“
„Meinetwegen, ich leite die beiden Flüsse durch den Stall und die spülen den ganzen Mist weg.“
Oionos kannte das selbstzufriedene Grinsen des Halbgottes zur Genüge, aber es war nun mal seine Aufgabe, den Advocatus Diaboli zu geben und alle Einwände auf den Tisch zu legen, praktisch gleich neben die Ouzo-Pfützen, in die Herakles gerade seine Finger steckte.
„Innerhalb eines Tages, ja?“
Herakles leckte ungerührt seine Finger ab.
„Klar, Wanddurchbruch, Flüsse umlegen, was machen wir nachmittags?“

„Schon mal an den Denkmalschutz gedacht? Es geht um ein Gebäude aus der mythischen Vorgeschichte, da ist nicht nur die Stadt als untere Denkmalbehörde gefragt, das hat europäischen Rang, das ist vielleicht sogar UNESCO-Weltkulturerbe.“
„Der olle Stall von Augias? Die Mauer hau ich weg. Wer viel fragt, kriegt viele Auskünfte.“
„Okay. Dann die Verlegung der Flüsse. Das betrifft die Untere Wasserbehörde und das Wasser- und Schifffahrtsamt. Bei dem Personalmangel wird es Monate dauern, bis die einen Eingangsstempel auf deinen Antrag gesetzt haben. Umweltverträglichkeitsprüfung, Beteiligung der Anlieger und das anschließende Genehmigungsverfahren, an die Sportfischer und die Wassersportler habe ich noch nicht mal gedacht.“
 „Schon mal was von der normativen Kraft des Faktischen gehört? Ich schaffe Tatsachen.“
„Hast du dich gefragt, was mit der Gülle passiert?“
„Klar, darum geht es doch. Die wird rausgespült.“
„Und dann? Ab der Ernte der letzten Hauptfrucht bis zum 31.Januar darf keine Gülle ausgebracht werden.“
„Du sprichst jetzt nicht vom attischen Kalender, oder?“
„Ich spreche von der Landwirtschaftskammer, dem Veterinäramt und den Naturschutzbehörden. Von den Dokumentationspflichten und Bußgeldern bei Verstößen.“
„Also nicht einfach einreißen, umleiten und durchspülen?“ Herakles klang jetzt wirklich ratlos.
„Nein, so einfach ist das nicht. Aber wie war das noch mit Marie Kondō?“

Tulipan & frischer Wind

Tulipan & frischer Wind

Die Tulpenblüte in den Niederlanden war unser Ziel. Es war unser zweiter Versuch, einmal hatte uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Ferienwohnung in Nordholland war schon gebucht, aber die Tulpenfelder wurden frühzeitig abgeerntet, um die alljährlich anreisenden Massen daran zu hindern, sich zwischen den Blüten zu infizieren. Corona ist kein Thema mehr, wir buchten ein Wohnboot in Zeewolde und reisten an. Zeewolde liegt in Flevoland, der jüngsten Provinz der Niederlande. Nicht nur die politische Struktur ist noch neu, Flevoland ist neu. Das östliche und südliche Flevoland bilden zusammen die größte künstliche Insel der Welt und wurden erst in den fünfziger Jahren angelegt.

Alles ist geplant, alles ist angelegt und zweckmäßig. Das hat nichts zu tun mit den niederländischen Städten und Dörfern, die wir schätzen und lieben, der bunten Mischung aus Mittelalter und Coffeeshop. Nein, so simpel ist das natürlich nicht, aber die Formulierung gefiel mir. Flevoland hat keine Dörfer. Es gibt Städte und dazwischen liegen Betriebe. Große landwirtschaftliche Betriebe, die auf eine Tradition von ein paar Jahrzehnten zurückblicken. Zeewolte feiert seinen vierzigsten Geburtstag. Selbst der Geschichtsverein in Blaricum, einem nordholländischen Ort, von dem noch die Rede sein wird, ist älter.

Paul Gerhardt dichtete im 17. Jahrhundert:

Geh aus / mein hertz / und suche freud
In dieser lieben sommerzeit
An deines Gottes gaben:
Schau an der schönen gärten zier
Und siehe / wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.

Die bäume stehen voller laub /
Das erdreich decket seinen staub
Mit einem grünen kleide
Narcissus und die Tulipan /
Die ziehen sich viel schöner an /
Als Salomonis seyde.

Ich zitiere den Meister des evangelischen Kirchenliedes eigentlich nur wegen der Tulipan. Und wegen Salomonis Seyde.

Flevoland ist vermutlich wunderschön, wenn man die Tulpenblüte erlebt. Wir haben die Felder gesehen. Die Tulpen nicht mehr. Okay, ich gestehe, ein paar Tulpenfelder haben wir schon noch gesehen. Bei herrlichem Sonnenschein und eiskaltem Wind. Das Wetter in diesem Jahr hat die Tulpen früher blühen lassen, Pech gehabt. Dafür waren wir jetzt eben in Flevoland. Weil wir aber partout etwas unternehmen wollten, beschlossen wir, das Kunstmuseum Singer-Laren zu besuchen. Singer nach der Gründerin, Laren heißt der Ort in Nordholland.

Die Ausstellung hieß Frisse Wind und das passte ganz hervorragend zum Wetter in Flevoland. Es wehte ein frischer Wind. Um den ging es natürlich nicht, es ging um die Impressionisten des Nordens und von denen will ich nicht erzählen. Also nicht, dass die nicht der Rede wert wären, ich will nur etwas anderes erzählen.

Wir radelten über Flevoland, durch Wald, über schmale Betonwege und lange Straßen, sehr lange Straßen. Eine Landschaft, die Ostfriesland hügelig erscheinen ließ. Ab und an ein Hof. Windkraftanlagen. Wasser. Dann eine Brücke. Das Gooimeer, dahinter das Markermeer und das Ijsselmeer. Über die Brücke und wir haben Flevoland verlassen.

Noch ein kleines Stück und alles war anders. Blaricum, das hieß zunächst ein neuer Ortsteil: Blaricumermeent. Ganz neu, ganz anders neu als Zeewoude. Schick, hier ist Wasser nicht einfach da, hier ist Wasser ein gestalterisches Element, man hat einen Bootsanleger am Haus, das an der Gracht liegt. Architekten haben hier groß geträumt. Bauunternehmen sind nicht einfach Bauunternehmen sondern High-End-Bauunternehmen. Es ist wärmer hier als auf Flevoland, bestimmt wird der Ort beheizt und es riecht auch anders, es duftet. Erst später wird mir klar, dass es nach Geld riecht. Geld stinkt nicht, Geld duftet, jedenfalls wenn es wie hier neues Geld ist. Alles ist adrett, alles ist perfekt. Die Gegenwart glänzt, die Zukunft kann kommen.

Etwas weiter dann Blaricum, das alte Dorf, alte, sehr alte Höfe, Reetdächer, die typischen Heuschober, natürlich keine Bauern, Fernsehstars und Profifussballer leben hier. Blaricum gehört zu den Dörfern mit der höchsten Millionärsdichte, drei von zehn Haushalten besitzen mehr als eine Million. Aber so lässt es sich aushalten.

Mit Tulipan war also nicht so viel, mit Salomonis Seide hingegen schon. Aber unsere Reise ist ja noch nicht zu Ende.

 

    Verräterisches Papier

    Verräterisches Papier

    Alles hat ein Ende, aber nicht alles hat auch einen Anfang

    „Hände hoch!“

    Gefühlt stand ich augenblicklich im Bett, aber vermutlich lag ich immer noch auf der linken Seite, die Bettdecke bis kurz unter die Ohren gezogen und machte diese kleinen Geräusche, die von meiner Familie immer als Schnarchen missdeutet werden. Aber wer kann schon darüber Auskunft geben, was mit ihm in der Welt geschieht, während er sich im Reich der Träume aufhält.

    „Da bin ich wieder.“

    Ja, das war ziemlich offensichtlich, widersprach aber allem, was ich bisher über Träume gewusst hatte. Sie sollten doch nicht wie Serien bei Netflix sein, oder?

    „Hallo, etwas mehr Aufmerksamkeit bitte.“

    Billy Jenkins ließ den Colt kreisen. Gun Spinning. Ich hatte mich schlau gemacht.

    „Weißt du inzwischen mehr?“ Er stupste mich mit der Mündung seiner Waffe an und ich fragte mich, ob man wach wohl tot wäre, wenn man im Traum erschossen würde. Blöde Frage, denn dann wäre man ja nicht wach. Aber vielleicht doch tot.

    Ja, ich wusste mehr. Billy war jetzt zum zweiten Mal in meine Nacht hineingeritten und hatte mich dringend aufgefordert, ihm bei der Rettung einer Familie in Dalton City zu helfen. Glenn OBrien hieß der Farmer, dessen Frau mit ihren acht Kindern von China Dick und seiner Bande auf der Hazienda des Grauens festgehalten wurde. Sengende Sonne und heulende Coyoten. Drei Männer der Special Police hatten die Bande gestellt, aber sie konnten nichts unternehmen, ohne die Familie zu gefährden. Soweit war alles klar. Und was hatte ich damit zu tun?

    Billy druckste ein bisschen herum. Wir kannten uns, soviel musste ich gestehen. Aus den frühen sechziger Jahren. Vom Dachboden meiner Oma. Das mag komisch klingen, aber wenn Sie geschluckt haben, das Billy seriell in meinen Träumen auftaucht, um meine Hilfe einzufordern, dann ist das mit dem Dachboden doch wirklich keine Herausforderung mehr, oder?

    Es ging um ein Buch. Bei Billy ging es immer um ein Buch oder nein, noch häufiger um ein Heft. Das war mir nicht bewusst, als ich ihn kennenlernte.  Von 1934 bis 1963 erschienen tatsächlich mehrere Hundert Hefte und Dutzende Bücher mit seinen Abenteuern.

    China Dick wollte genau das: ein Billy-Jenkins-Buch. Also eigentlich hatte er es sogar, ihm fehlte nur die Schatzkarte und die genauen Anweisungen, wo der Schatz in den Bergen des Grauens versteckt worden war. Irgendwo auf den ersten 35 Seiten des Buchs musste das stehen und genau diese Seiten fehlten in der Ausgabe, die China Dick besaß. Es gab keine weitere in den Staaten, Billy war dort nie so eine große Nummer gewesen wie bei uns. Aber Billy hatte sich an mich erinnert, an unsere Bekanntschaft auf dem Dachboden im Bollinghauserweg in Leer-Heisfelde.

    Damals war er mir nur zwischen zwei Pappdeckeln erschienen und hatte meine Phantasie gebraucht, um seine Abenteuer erleben zu können. Jetzt stand er mir gegenüber, etwas grob gezeichnet, mit dieser übertriebenen Dramatik der Westernromane, aber immer noch besser als im Schlafanzug  dazustehen. Wie ich. Helfen sollte ich, helfen wollte ich. Wer will das nicht, wenn eine so vielköpfige Familie in Gefahr ist? Auch wenn sie nur auf dem Papier in Gefahr ist. In meinem Traum auf dem Papier in Gefahr ist.

    Ich erinnerte mich an Billy Jenkins. Ich erinnerte mich an das Buch. Also als Buch, nicht als Geschichte. Nicht mal an den Titel. Nur daran, dass die ersten Seiten fehlten. Zwanzig, dreißig Seiten vielleicht. Genau, sagte Billy, dass muss es sein, die fehlen China Dick auch.

    Ich brauchte etwas, um ihm zu erklären, dass das Fehlen der Seiten nicht unbedingt bedeutet, dass es sich um die gleiche Geschichte handeln musste und das, falls das tatsächlich so sein sollte, China Dick mit einem Buch, in dem die gleichen Seiten fehlten, nicht wirklich geholfen wäre. „Also muss ich ihn doch erschießen?“, fragte Billy hoffnungsfroh, aber ich bat ihn, damit noch etwas zu warten. Mein Onkel Erwin war, wenn ich mich recht erinnerte, der Eigentümer des Buches gewesen.   

    „Dann müssen wir zu ihm!“ stellte Billy fest. Ob ich ein Pferd brauche oder eine Waffe? Onkel Erwin war a) mein Onkel und b) weit über achtzig. Also ja. Pferd und Waffe.

    „Gut. In der nächsten Nacht, es wird gleich schon wieder hell und wenn du so unruhig schläfst, fällst du mir noch vom Pferd.“

    Ich war mir ziemlich sicher, dass ich niemals so ruhig schlafen könnte, dass ich nicht vom Pferd fiele, aber ich widersprach Billy nicht. Er hatte einen eisernen Willen und zwei Pistolen.

    In der folgenden Nacht machten wir uns auf den Weg zu Onkel Erwin. Er hatte am Telefon behauptet, sich an nichts erinnern zu können, aber das sagte er immer, wenn ich ihn anrief. Außerdem lebte er in einer Stadt, die stolz darauf war, als Eulenspiegelstadt bekannt zu sein.

    Ich bat Billy, in der Seniorenresidenz nicht so oft auf den Boden zu spucken und möglichst auch nicht so stark zu sächseln, weil das zarte Gemüter immer noch an Karl May erinnern könnte. Oder Walter Ulbricht. Jedenfalls einen, der es mit den Roten hatte. Billy kapierte weder das einen noch das andere und spuckte erstmal aus. Demonstrativ.

    Inzwischen hatte ich mich natürlich schlau gemacht. Ich war aus dem Alter heraus, in dem ich mich von Pistolen beeindrucken ließ. Jedenfalls tagsüber von geträumten Pistolen. Billy Jenkins hieß nämlich eigentlich Erich Rudolf Otto Rosenthal und war in Magdeburg geboren worden. Ein Sohn jüdischer Eltern, der früh ein großer Fan von Buffalo Bill wurde und ihm erfolgreich nacheiferte. Mit einer eigenen Westernshow und einer Bücherreihe, die von ihm inspiriert war. Natürlich nicht von jemandem, der Rosenthal hieß, nicht 1934. Aus Erich und so weiter Rosenthal wurde Erich Fischer, evangelisch und Parteimitglied.  Sogar Hitler und Goebbels zeigte er seine Kunststücke. Nur Bücher schrieb er nicht, dafür gab er nur seinen Namen her, kein Wunder also, dass Billy sich nicht erinnern konnte, wo der Schatz in den Bergen des Grauens versteckt worden war.

    Onkel Erwin war nicht dement, aber tagsüber konnte Billy nicht und nachts war Onkel Erwin für Western völlig unempfänglich.  Mehr als der Hinweis auf den Dachboden war nicht drin, da konnte Billy auf den Boden spucken, wie er wollte. Und dann sagte Onkel Erwin doch noch etwas.

    „Vielleicht bei Amazon.“

    Billy war sofort hellhörig geworden.

    „Okay, lass uns hin reiten.“

    „Da kann man nicht hinreiten.“

    „Zu gefährlich? Zu weit? Wir könnten die Abkürzung durch ein Buch nehmen.“ Billy war Feuer und Flamme. „Auf der einen Seite sind wir noch hier, auf  der nächsten schon am Ziel und was die beiden Orte trennt, ist nur ein Sternchen.“

    „Ein Sheriffsternchen“, kalauerte ich, aber er lächelt nicht mal.

    „Was willst du von Amazon?“

    „Bücher“, zugegeben, ein sehr allgemeiner Vorschlag, aber ich setzte gleich hinzu: „‚Vielleicht sollten wir es über Männer im Goldrausch versuchen, die sind vermutlich ziemlich nah dran an Jeff Bezos.“

    Billy begann demonstrativ seine Waffen zu polieren, ich schenkte mir also weitere Albernheiten, lenkte ihn ab und bestelle bei Amazon die Billy-Jenkins-Gesamtausgabe. Ein paar Hundert Hefte und eine ganze Reihe Bücher. Lieferung nach Dalton City. Tom Prox und Glenn OBrien würden sie abholen.

    Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass China Dick die passende Passage in einem der Bücher finden und die Familie laufen lassen würde, dass die Special Police um Billy Jenkins und Tom Prox die Bande daraufhin überwältigen und ihrer gerechten Strafe zuführen und ich meinen Anteil an der ausgesetzten Belohnung bekommen würde. Schon um meine Amazon-Rechnung zu bezahlen. Die nächste Nacht sollte es zeigen.

    Das „Hände hoch“ würde mir bestimmt nicht fehlen. Billy kam noch mal vorbei, um mir zu sagen, dass die Familie frei war und mir der Dank aller Jenkinsianer gewiss sei. Danach schlief ich wie ein… ein Murmeltier und das bezieht sich nicht auf die kleinen Laute, die ich manchmal nachts mache. Aber das ist hier nun auch wirklich nicht das Thema.  Jedenfalls schlief ich tief und fest, bis es an der Tür klingelt. Glenn OBrien und seine Familie. Ich ließ sie nicht rein. Wenn Sie mehr wissen wollen: Der neue Billy-Jenkins-Band: Ärger am Ems-River.

    Abgehängt

    Abgehängt

    Wir waren mit der Bahn unterwegs, mit dem Verkehrsmittel der Wahl, wenn man irgendwohin will, aber nicht unbedingt muss, wenn man über Zeit und Geduld verfügt und liebe Menschen kennt, die einen zur Not auch wegbringen oder abholen.

    1994, als aus der Deutschen Bundesbahn die Deutsche Bahn AG wurde, gab es in Deutschland noch ein Schienennetz von 44.600 km. Inzwischen ist es um rund 12 % auf 39.200 km geschrumpft, davon befinden sich 33.400 km, gut 85%, im Eigentum der InfraGO AG, die seit ein paar Monaten für das Netz und die Bahnhöfe zuständig ist. Etwa 5.700 Bahnhöfe und Haltepunkte gibt es im Lande, davon  2.300 Bahnhofsgebäude, von denen aber nur noch rund 700 der DB InfraGO gehören. Und um Bahnhöfe soll es diesmal gehen, schon wieder um Bahnhöfe, wir fahren gerade öfter mit der Bahn.

    Von Warendorf aus, einem Haltepunkt ohne Empfangsgebäude – das ist 1995 abgebrannt, seither steht, wer auf Bahnfahren steht oder angewiesen ist, ohne Bahnhof da – ging es nach Münster. Der dortige Bahnhof wurde 2017 renoviert und modernisiert und ist jetzt ein Schmuckstück. Würden auch noch die Züge pünktlich fahren, es wäre überhaupt nicht mehr auszuhalten. Wir wollten nach Oberhausen und mussten dafür in Wanne-Eickel umsteigen. Das geht, also rein technisch funktionierte das ganz okay. Der Zug nach Oberhausen kam ziemlich pünktlich, nur hatten wir eben noch einen recht langen Aufenthalt in Wanne-Eickel, also eigentlich in Herne, denn inzwischen gehört Wanne-Eickel zu Herne, was bisher aber meines Wissens nicht dazu geführt, hat, dass der berühmte Mond von Wanne-Eickel seinen Glanz auch auf Herne ausgedehnt hat. Ich lese gerade, dass der Megahit von Friedel Hensch und den Cyprys eigentlich eine Coverversion eines französischen Tangos war und überhaupt nur so heißt, weil die Band gerade zu einer Autogrammstunde in Wanne-Eickel war.

    Mit den Wörtern Band und Cyprys ist es wie mit diesem Hund und dem Ball, beide magnetisch, aber gleich gepolt: Sie stoßen sich ab. Was nicht heißt, dass ich die Cyprys abstoßen finde. Sie waren nur keine Band. Eine Band hatte lange Haare, ein Schlagzeug, einen Bass und zwei Gitarren. Und die Cprys? Eben! Die guckten in den Mond.

    Wanne-Eickel also: Kultbahnhof, heißt es in den Medien. Nicht nur der Mond, nein, sogar Heinz Rühmann – der mit der Feuerzangenbowle – hat seine Spuren hier hinterlassen. Nein, er hat da nichts verschüttet. Seine Eltern pachteten einst die Bahnhofsgaststätte, der Bahnhofsvorplatz trägt deshalb, nein, nicht den Namen der Pächter, sondern den des Sohnes, der dort als Kind auch seine ersten Auftritte hatte.

    Der Namensbestandteil Wanne stammt sogar aus der Eisenbahngeschichte, denn die Orte der Region konnten sich auf keinen Namen für den Bahnhof einigen, sodass die Bahnverwaltung eine Flurbezeichnung der Gegend für den Bahnhof übernahm. Später wurde sie für das das Amt Wanne übernommen und dann zum Ortsnamen für Wanne-Eickel.

    Der Bahnhof war von seiner Größe und Funktion her ein Riese im Ruhrgebiet. Jetzt ist er ziemlich deprimierend. Das Wartegebäude auf unserem Bahnsteig hatte keine Türklinken, weder innen noch außen, es ließ sich mit etwas gutem Willen und den Fingernägeln öffnen, wenn man denn unbedingt rein wollte. Wir wollten nicht, obwohl es kalt und zugig war. Zugig ist für einen Bahnhof natürlich nur angemessen. Aber es ist eben auch eng, marode und unerfreulich. Außerdem regnete es. Die Botschaft, die dieser Bahnhof vermittelt, ist sehr deutlich: Wenn ihr schon keine Geld für ein Auto habt oder vielleicht nicht mal einen Führerschein, dann nehmt das, ihr Loser.

    Das Netz – nein, nicht das Schienennetz – tobt. Nein, nicht wegen des Bahnhofs, nicht wegen der drittklassigen Behandlung der ÖPNV-Nutzer. Nein, es gibt Pläne und damit auch die Hoffnung, dass der Bahnhof noch in diesem Jahr modernisiert wird. Dann bekommt er auch einen neuen Namen: Herne-Wanne-Eickel-Hauptbahnhof. Darüber tobt das Netz, aber wann täte es das nicht?

    Schade, schon vorbei

    Schade, schon vorbei

    Norddeich – Juist, das sind etwa 8,5 Kilometer Luftlinie, über Wasser allerdings eine Schlangenlinie, horizontale Serpentinen. 90 Minuten Fahrzeit, Fährzeit, je nach Wasserstand. Unten im Schiff, im Souterrain sozusagen: Eine junge Frau schläft langausgestreckt auf einer der Bänke. Ordentlich Wellen diesmal, die Scheiben werden nass. Bullaugen, denke ich, aber die sehen doch anders aus.

    Die Fähre ist da. Kutschen warten auf Passagiere. Jetzt nicht die eleganten Berlinen, mehr die Geräte, mit denen Feierwütige über Land gekarrt werden. Handwagen der Hotels, Pensionen und der Vermieter von Ferienwohnungen stehen bereit. Rollkoffer rattern über das Kopfsteinpflaster. Ein Sound der Insel.

    Viel Klinker, wie auf dem ostfriesischen Festland. Zweckmäßig. Da ist nichts 500 Jahre alt, 100 vielleicht. Erst die Stürme und das Hochwasser, dann der Tourismus. Man kann mögen, was da steht, man kann es auch hinnehmen, ist eben so. Irgendwas guckt man ja immer. Handwerker auf Fahrrädern mit Anhängern zum Beispiel oder die Straßen: manchmal unbefestigte, zerwühlte Wege die mehr an ungeschickt gepflügte Felder erinnern. So sieht das aus, wenn Kaltblüter liefern, was auf der Insel zu liefern ist: alles.

    In der ersten Märzhälfte ist es ruhig. Kalt und ruhig. Bis auf die Koffer und die Pferde. Hufe auf Kopfsteinpflaster. Zwei Kaltblüter vor einem Wagen, manchmal mit einem weiteren Anhänger. Fröhlich klingt das. Klippklapp. In gemächlichem Tempo. Keine Ahnung, was die Pferde davon halten. Fußgänger, ein paar Radfahrer, Möwen, Gänse. Rehe, die am Wegesrand stillstehen und wohl glauben, dass wir sie nicht sehen. Mit dem Glauben funktioniert es ja eigentlich umgekehrt: Man glaubt an etwas, das man nicht sieht.  Naturschutzgebiete. Am Mitte März sind weitere Teile der Insel unzugänglich. Für eine dicke Scheibe Rosinenbrot mit Butter und eine Kanne Tee in der Domäne Bill, fast am westlichen Ende der Insel, ist aber noch Platz.

    Wir werden freundlich bedient, überall. Wird Zeit, dass die Touristen wieder kommen, dass Geld verdient wird auf der Insel. Die Ware ist da, die osteuropäischen Kassiererinnen, Kellnerinnen, Verkäuferinnen und ihre männlichen Kollegen haben noch nicht recht zu tun. Eine Verkäuferin telefoniert durch, während sie uns erstmal warten lässt und schließlich abkassiert. Ich könnte mich ärgern. Muss ich aber nicht.

    Ladenöffnungszeit: 10:00 Uhr bis 12:30 Uhr. Manchmal noch zwei, drei Stunden am Nachmittag, aber nicht überall. Manches hat noch zu. Manches bleibt zu. Vieles hat so einen sechziger Jahre Charme, eng, vollgestellt, das Textilgeschäft auf dem Dorf halt. Genau das ist es ja eigentlich auch. Nicht jede Insel muss aussehen wie Sylt.

    Solange nur der Strand da ist, der lange, breite Sandstrand von Ost bis West, so lang wie die Insel. Wenig Menschen, wenig Hunde, kaum Seevögel. Wind, Wasser, Wellen. Unsere eigenen Fußspuren auf dem Rückweg.

    Nichts erinnert daran, wie hart das Leben auf dieser Insel einst war. Doch, der Hammersee, ein Überbleibsel der Petriflut. 1651 zerriss sie die Insel in zwei Teile. 1932 brach dann ein Deich, der diesen Schaden behoben hatte.  Übrig blieb der Hammersee.

    Eins noch: Ein neues, ein für mich neues Wort habe ich von Juist mitgebracht: Strandportion. Das war der persönliche Anteil an dem Strandgut, das nach einer Schiffskatastrophe auf Juist angespült wurde. Oder überhaupt angespült wurde. Die ersten Lehrer auf der Insel erhielten neben einem sehr sparsam bemessenen Entgelt eine solche Strandportion.

    Die Rückfahrt: Wir sind früh am Fährhaus, haben die ankommende Fähre schon von einer Düne aus gesehen. Ziemlich früh. Rollkoffer auf Klinker. Neue Gäste. Wir haben unsere Koffer schon in die bereitstehenden Gepäckwagen auf dem Platz vor dem Fährhaus gestellt und können jetzt an Bord gehen. Prompt legt die Fähre ab. Viel zu früh. Sind wir falsch? Fahren wir jetzt nach Sansibar oder gar nach Norderney? Später die Durchsage. Norddeich. 60 Minuten Fahrzeit. Die richtige Richtung. Das falsche Schiff. Ein sogenanntes Vorschiff, weil an diesem Wochenende die Reisewelle einsetzt. Wir sind schneller und früher in Norddeich. Nur unsere Koffer nicht. Die kommen mit der regulären Fähre nach. Die machen noch Urlaub auf Juist.

    Kaiserwetter, ein Prinz und der Bahndamm

    Kaiserwetter, ein Prinz und der Bahndamm

    Es sollte ein sonniger, frühlingshafter Sonntag werden. Wir pumpten die Reifen unserer Fahrräder auf und fuhren zum Bahnhof, um mit der Eurobahn nach Isselhorst-Avenwedde zu fahren. Irgendwann hat man nämlich das Gefühl, alle schönen Radwege der unmittelbaren Umgebung zu kennen. Die Wege bleiben schön, aber der Reiz des Neuen, des Fremden geht verloren, wenn man weiß, dass hinter der nächsten Kurve die hübsche Wassermühle liegt und dass es in Telgte eine kleine Rösterei mit leckerem Kaffee und Nussecken gibt. Zugegeben, jetzt will ich da hin. Aber gestern nicht. Gestern wollten wir das Unbekannte, ja, wir waren sogar bereit, dafür nach Ostwestfalen zu reisen. 44 Minuten mit der Bahn, also nicht mit einem richtigen Zug, sondern mit etwas, dass man früher wohl einen Schienenbus genannt hätte und das heute Triebwagen heißt.

    Es gab keinen speziellen Grund, dass es Isselhorst-Avenwedde werden sollte, der Zug fährt halt nur in nach Münster oder nach Bielefeld. Isselhorst-Avenwedde war für eine Radtour gerade weit genug entfernt und uns völlig fremd. Der zunächst fast leere Zug füllte sich zunehmend, Fußballfans waren auf dem Weg nach Bielefeld, um Arminia im Kampf gegen den Abstieg zu unterstützen.

    Wir waren im ländlichen Ostwestfalen, man neigt hier nicht zu dramatischen Gesten und ungezügelten Emotionen. Ein Fanschal oder ein Trikot, eine Flasche Bier, das reicht schon, um sich von sonntäglichen Ausflüglern abzuheben. Ein paar Stationen, dann hält der Zug in Gütersloh. Jetzt noch ein paar Minuten, Isselhorst ist ein Ortsteil von Gütersloh. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingemeindet. O Gott, wie alt ich mich fühle, wenn ich vom vergangenen Jahrhundert schreibe. Fast so alt, wie ich mich nach 50 Kilometern auf dem Fahrrad fühle. Ich verschweige an dieser Stelle besser, dass wir mit E-Bikes unterwegs waren.

    Isselhorst Avenwedde also. Ein Haltepunkt, so schien es. Der Bahndamm lag recht hoch, eine Treppe führte hinunter zum Ausgang. Nur eine Treppe, kein Aufzug, nicht mal eine Fahrradrampe. Ging schon mal gut los. Die üblichen schmuddeligen Treppenhäuser und Gänge, dann waren wir draußen. Gleich um die Ecke stand ein Denkmal und das schmucke Bahnhofsgebäude, das 1891 eingeweiht, inzwischen aber längst zweckentfremdet wurde und nun der Kultur und der Jugend dienen soll. Der Bahnhof hieß Isselhorst-Avenwedde, lag aber in Avenwedde. Ich könnte erklären, warum das so ist, verbrauche den Platz aber lieber dafür, auszubreiten, dass ich das nicht tun werde. Da ich aber das Denkmal schon erwähnt habe,  kann ich das nicht einfach stehen lassen, denn in Avenwedde kam es zum ersten Unfall eines Personenzugs in Deutschland, bei dem es auch Todesopfer gab, damit war es natürlich auch der schwerste Unfall in der noch recht jungen deutschen Bahngeschichte.

    Drei Tote des Jahres 1851 wären längst vergessen, aber Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, damals noch nicht der Thronfolger, denn sein Vater war noch nicht deutscher Kaiser, war mit diesem Schnellzug unterwegs und kam, je nachdem, wem man glauben möchte, bekam einen Schnupfen, bekam ein paar Schrammen ab oder trug eine stark blutende Wunde am Hinterkopf davon. Er starb nicht daran, das besorgte erst der Tabak, Friedrich war starker Raucher und starb 1888 nach nur 99 Tagen als Kaiser Friedrich III im sogenannten Dreikaiserjahr an Kehlkopfkrebs. Nicht in Avenwedde, sondern in Potsdam.

    Wir stiegen in Avenwedde auf unsere Räder, verfuhren uns ein bisschen im Ort, dann durch einen langen Tunnel unter dem Bahndamm hindurch, von dem damals die Waggons in die Tiefe stürzten, über schmale Wege hinaus in den nachmittäglichen Sonnenschein.

    Isselhorst, das sich auf das Namensschild des Bahnhofs gemogelt hat, soll nicht unerwähnt bleiben, so wie es nicht unerfahren blieb. Ein hübscher kleiner Ort oder Ortsteil, sonntäglich ruhig, mit kleinen Geschäften, freundlich aufgeräumt, ein wenig wie die Kurorte der Region. Warendorfern bemerken mit einem Anflug von leichtem Interesse, dass der Ort Mitte des 11. Jahrhunderts „im ältesten Heberegister des Klosters Freckenhorst erwähnt“ wurde. Als Gislahurst. Zum Verständnis: Freckenhorst ist ein Ortsteil Warendorfs. Wir waren also praktisch in einer ostwestfälischen Exkolonie unseres 1975 nur widerwillig eingemeindeten Ortsteils. Da fühlten wir uns doch gleich ein wenig heimisch. Dann lag da auch noch ein Café mit Außengastronomie direkt an unserem Weg und weil wir schon fast fünf Kilometer geschafft hatten, gönnten wir uns eine Pause. Der Rest ist schnell erzählt. Der Teutoburger Wald am Horizont, Fachwerkhäuser, Pferde auf den Weiden, kleine Wäldchen. Mal ein nicht asphaltierter Weg mit mehr Schlaglöchern als uns lieb ist, dann wieder schmale Straßen, kaum Autos, viele Radfahrer, die sogar grüßen. Und das in Ostwestfalen. Zum Abschluss eine Pizza und ein großes Glas Rotwein in einer kleinen Pizzeria in Warendorf. Perfect Days.

    Zwei Filme

    Zwei Filme

    Wir waren im Kino. Zweimal. Ein Mann ist tot, vielleicht ermordet, vielleicht ein Unfall, möglicherweise ein Selbstmord. Ein Mann geht zur Arbeit. Jeden Morgen. Der eine ist Professor für Literatur, nehme ich an und Franzose, der andere ist Japaner und putzt Klos. Der eine ist verheiratet und hat einen Sohn, oder besser: war verheiratet und hatte einen Sohn, denn er ist ja tot. Der andere hat eine Nichte und eine Schwester und einen Vater.

    Der tote Professor wäre gern etwas gewesen, was er vielleicht nicht sein konnte, ein Schriftsteller nämlich. Der lebende japanische Toilettenmann ist offenbar ganz glücklich mit dem, was er tut. Vielleicht, weil er es so tut, wie ich mir das von Japanern vorstelle, die ganz im Hier und Jetzt sind. Alles, was ich über Japan weiß, weiß ich von Haruki Murakami. Also nicht persönlich. Obwohl: Wenn ein Autor eine Geschichte schreibt und ich die lese, dann weiß ich das doch von ihm persönlich, oder?

    Gilt das auch, wenn ich eine Übersetzung lese? Das ist ein Thema des Romans, den ich gerade lese, der nichts mit Japan zu tun hat und der Babel heißt und von R. F. Kuang geschrieben wurde. Frau Kuang ist eine in China geborene Amerikanerin und nein, Asiaten sind nicht alle gleich. Nehme ich an. Ich weiß, wie gesagt, nichts über Asiaten, was mir nicht Haruki Murakami erzählt hat und der erfindet immer ganz viel dazu.

    Tampopo kenne ich natürlich auch. Diesen Film über Nudelsuppe. Und deshalb denke ich, dass Japaner, wenn sie Nudelsuppe kochen oder Klos putzen, eben nichts anderes tun als das und dann ist es richtig, das, was man da gerade tut, so gut man es kann zu erledigen, weil man gerade eben nichts anderes macht und dann macht man, was man macht, mit aller Konzentration und Hingabe und macht es deshalb auch irgendwann gut. Sehr gut sogar. Ob man nun Nudelsuppe kocht oder Klos putzt.

    Wenn man schreiben will und das nicht mit voller Konzentration tut und deshalb nicht so gut, wie man das tun könnte, dann wird daraus nichts, das wäre die Lehre, die man ziehen könnte, wenn man beide Filme sehen sollte. Aber das war natürlich nicht die Intention der Regisseure.

    Der eine war übrigens Wim Wenders, der aus Düsseldorf kommt und dort kann man sehr gut Ramen essen. Jetzt wollte ich gerade sagen, dass ich über Ramen nichts weiß, außer was mir Haruki…, aber das hätte nicht gestimmt, weil ich zwar noch nie Ramen gegessen habe, dafür aber Tampopo gesehen habe und die Nudelsuppe, die dort gekocht wird, das ist natürlich Ramen oder die heißt Ramen oder wie man das jetzt richtig sagt.

    Die Frau des Professors ißt in einer wichtigen Szene des Films auch Nudeln und sie findet die sehr lecker, obwohl das zu dem Moment überhaupt nicht passt, aber es ist schön, wenn Menschen zu schätzen wissen, was man ihnen gekocht hat, ansonsten ist sie Schriftstellerin und erfolgreich, weil sie ihr Schreiben allem anderen vorzieht, auch dem Professor und vielleicht sogar ihrem Sohn. Deshalb ist sie verdächtig, sie ist aber auch Sandra Hüller, also Sandra Hüller spielt eine deutsche Autorin in diesem französischen Film, in dem niemand richtig sympathisch ist, aber dafür ist er trotzdem spannend.

    Doch, der Hund, der ist nett, aber der hat komische Augen, während der Sohn blind ist und auch irgendwie komische Augen hat. Der Sohn ist aber auch auf seine Art komisch. Und 11 ist er und man fragt sich, warum er dem gesamten Prozess beiwohnen darf, obwohl er doch ein wichtiger Zeuge ist und ziemlich minderjährig. Aber ich weiß ja nichts über die französische Justiz und den Jugendschutz in Frankreich.

    Aber ich wette, dass Klos in Frankreich nicht so sauber sind wie die in Tokyo. Also die in Deutschland auch nicht, aber die in Frankreich, die kenne ich. Junge, Junge, falls die noch so sind…Obwohl, das ist jetzt auch schon eine Weile her.

    Der Japaner liest übrigens viel, er schreibt nicht, aber das gleicht sich dann ja auch aus, wenn in dem einen Film lauter Schriftsteller auftauchen, muss in dem anderen eben mehr gelesen werden. Musik ist dem Japaner auch wichtiger, aber westliche Popmusik, die gut abgehangen ist, also Siebziger bis Neunziger so etwa.

    Murakami macht das auch gern, also Musik in seinen Roman aufrufen. Er kann sie ja nicht spielen, aber wenn er die Titel nennt, kann man sich ja schon mal die Mühe machen, die Musik dazu auch zu hören. Es ist schön, wenn das Buch einen Soundtrack hat, auch wenn er den Hintergrund für etwas liefert, dass man nicht so gut versteht, auch wenn man vieleicht denkt, dass man es verstehen würde. Aber ich verstehe natürlich den Japaner nicht so gut, der sein Leben dem Putzen widmet, weil ich nicht so gern putze und lieber schreibe.

    Den Franzosen, der gern schreibt, aber nicht dazu kommt, weil er putzen muss, vielleicht auch das Klo putzen muss, weil seine Frau das nicht tut, die in der Zeit lieber ihren nächsten Roman schreibt, den kann ich verstehen. Obwohl der eigentlich Französisch spricht und das spreche ich genauso wenig  wie Japanisch.

    Den Japaner erschüttert es, dass seine Emotionen, die er so sorgfältig durch einen gleichförmigen Tagesablauf geglättet hat, von einer Frau oder besser von deren todkrankem Exmann geweckt werden. Den Professor erschüttert nichts mehr, aber seine Frau und sein Sohn müssen für sich klären, wie und warum etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen, wenn Menschen ihre Emotionen ordentlich geglättet hätten und das, was sie machen, eben mit aller Hingabe machen würden. Hausaufgaben mit einem Kind oder Kochen für eine Familie.

    Einen Roman zu schreiben ist auch Arbeit, einen Roman zu lesen aber auch. Und Putzen und Kochen. Ob das eine besser ist als das andere und warum wir das vielleicht so sehen und das auch sehr unterschiedlich schätzen und bezahlen, das hat etwas mit der Kultur zu tun.

    Was nicht ganz stimmt, denn auch die Japaner schätzen den Schriftsteller mehr, also Murakami zum Beispiel und den Klomann nicht so sehr. Aber ich denke zumindest von ihnen, dass sie etwas richtig gut machen können, auch wenn es gesellschaftlich nicht so hoch geschätzt wird, weil alles wert ist, richtig gemacht zu werden.  Bei dem französischen Film sind es dramatische Momente, die uns mitnehmen, in dem japanischen ist es der ruhige Fluss der Erzählung,  in dem auch das Drama zum Alltag gehört und höflich zur Kenntnis genommen wird.

    Also mir hat der japanische Film besser gefallen, aber von Filmen verstehe ich auch nichts. Und wie man eine ordentliche Filmkritik schreibt, lerne ich auch nicht mehr. Ach so: Perfect days hieß der eine Film und Anatomie eines Falles der andere.

    Sowohl als auch

    Sowohl als auch

    Mein Leben hätte, wie jedes andere Leben auch, so viele verschiedene Verläufe nehmen können. Das ist eine triviale Erkenntnis, denn jede der etwa 20.000 Entscheidungen, die wir täglich treffen, führt zu einem anderen Lebensverlauf, einem mit einer Waffel Eis in der Hand und einem ohne Eis, einem mit einer Kugel Schokolade und einer Kugel Haselnusseis und einem mit einer Kugel dunkler Schokolode mit Sahne und so weiter und so weiter.

    Wenn wir das soweit akzeptiert haben, dann können wir gleich den nächsten Schritt tun: Jede Entscheidungsmöglichkeit wird in einem parallelen Universum realisiert. In dem einen kaufe ich kein Eis, in dem anderen schon. In dem einen eine Kugel Schoko und Haselnuss, in dem anderen die dunkle Schokolade mit Sahne. Multiversen nennt man das und es gibt Leute, die sagen, dass es eher anzunehmen ist, dass diese Multiversen existieren, als das sie nicht existieren und wenn wir uns dafür entscheiden, zu glauben, dass sie nicht existieren, entsteht gleich ein neues, in dem es keine Multiversen gibt. Nehme ich an.

    In einem dieser Universen wären meine Eltern nicht mit uns Kindern nach Leer umgezogen, sondern in Hagen geblieben, wo ich dann eine Lehre gemacht hätte. Zum Betriebsschlosser oder Betriebselektriker, zum Schlosser oder sonst was Handfesten. In Leer habe ich nach der Handelsschule eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht, hätte ich die Stelle nicht bekommen, wäre ich vermutlich Schuhverkäufer geworden. Ich weiß sogar wo.

    Nach der Ausbildung wurde mit angeboten, in meinem Ausbildungsbetrieb als Industriekaufmann weiterzuarbeiten. Ob ich Buchhalter geworden wäre? Kostenrechner? Stellvertretender Abteilungsleiter im Öleinkauf? Was wäre aus mir geworden, hätte ich die Fachoberschule nicht erfolgreich abgeschlossen? Was, wäre ich der Idee meines Freundes Manni gefolgt, Sozialarbeit zu studieren? In Wilhelmshaven?

    Was, wenn mich die Fachhochschule Ostfriesland nicht angenommen hätte? Was, wenn ich einen der notwendigen Scheine auch im dritten Versuch nicht geholt hätte? Wenn ich 1978 den Job in der Zentrale der der Hamburg-Mannheimer in Hamburg bekommen hätte und in Hamburg gelebt hätte?

    Wenn ich das Stellenangebot der Landesanstalt für Arbeit in Niedersachsen angenommen hätte und Arbeitsberater oder Arbeitsvermittler in einem niedersächsischen Arbeitsamt geworden wäre?

    Was, wenn ich das Stellenangebot des Landkreises Leer in Erwägung gezogen hätte und im Amt für Lastenausgleich in Leer oder bei den Entsorgungsbetrieben auf Borkum gearbeitet hätte? Borkum! Klingt gerade nicht so schlecht für mich.

    Hätte ich meinen Doktor in Münster gemacht, wäre der akademische Oberrat schneller mit seiner Habilitation fertiggeworden? Was hätte ich getan mit meinen akademischen Weihen? Was, wenn ich das Stellenangebot der Handwerkskammer Dortmund angenommen hätte und Ausbildungsberater im Ruhrgebiet geworden wäre? Was, hätte ich mich zu einer Bewerbung als SAP-Berater und Entwickler durchringen können?

    Was, wenn ich an dem Abend nicht in der Kneipe in Leer gewesen wäre, an dem du dort warst?

    Jede Entscheidung ein eigenes Universum und das in Hagen mit einer ganz anderen Plattensammlung als das in Leer.

    Das Dröhnen der Schädel*

    Das Dröhnen der Schädel*

    Hören Sie mir doch auf mit Zufall! Das kann doch kein Zufall sein. Das ist Absicht. Böse Absicht! Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit der Synchronizität, davon wird mir schwindlig.

    Ich wache morgens auf, mit Kopfschmerzen, jede einzelne graue Zelle spür ich, also zwei Aspirin und dann nichts wie raus – und was ist? Da schlägt mir eine lauwarme… na, nennen wir es Luft, mir fällt so schnell nichts Treffenderes ein, entgegen, abgestanden, als hätte sie jahrelang Dienst in einer Turnhalle getan. Keine frische Brise, die mir den Schädel durchpustet, nein. Natürlich nicht.

    Woher die Kopfschmerzen kommen? Was geht Sie das an?

    Und außerdem: Wenn ich schon selbst dran schuld bin und ein wenig Strafe verdient habe – ist es dann nicht merkwürdig, dass ich sie prompt auch kriege? Da läuft was, eine galaktische Verschwörung, ich sag’s Ihnen. Und Taylor Swift hängt da auch mit drin. Wie, das weiß ich noch nicht. Noch nicht.

    *Das Schweigen der Lämmer wäre mir lieber gewesen!

    Rainer Strobelt über Ahlen

    Rainer Strobelt über Ahlen

    Freund Manfred Voita schreibt, er kenne keine Ahlener Schurken – und kennt doch mich, den Rainer Strobelt. In Jugendjahren schmetterte dieser immerhin die Internationale durch manche Ahlener Nacht, besonders gerne übrigens in Rufweite des Anwesens vom Badewannenprimus. (Es wird wohl ein weiterer Ahlener mit Profil dabei gewesen sein.) Solch ein Sänger kann später aber offiziell unter den „Söhnen und Töchtern der Stadt“ und als Lyriker aufgelistet werden. Bravo, Ahlen!
    Ja, Manfred, du hast recht: Ahlens Bergbau mit seinen Kumpeln. Und seine Emailleindustrie selig. Und seine alteingesessene Bauernschaft: „Pütt Pott Ploug“ eben, wie Ahlens ältester Karnevalsverein heißt. Eine eigentümliche Bevölkerungsmelange allemal. Wie häufig hörte ich die Eingesessenen sagen unter leichtem Naserümpfen „Die da jenseits der Bahn.“
    Jetzt einige Ahlener Fußballhelden gefällig? Jürgen Wagner (ging dann zum SSV Hagen), Peter Schreiner (zu Arminia Bielefeld), Rainer Wunderlich (Schüler- und Jugendnationalmannschaft), Wolfgang Vöge (blonder Flügelflitzer beim BVB und in Leverkusen, B-Nationalmannschaft), die herzerfrischenden Bambas: Papa Musemestre (auch kongolesische Nationalmannschaft) sowie Sohnemann Samuel derzeit Profi beim BVB.
    Im kulturellen Bereich ragen für Ahlen u. a. heraus: der Maler Fritz Winter (gehört lt. Wikipedia zu den wichtigsten abstrakten Künstlern der Nachkriegszeit. Hier nebenbei noch einmal mein Dank an das Fritz-Winter-Haus für die Abdruckgenehmigung von Winters Feldskizze „Baumschicksale“ für das Cover meines 1997er Gedichtbandes „bei bäumen liegen“), zwischen 1948 und 2015 der weitbekannte Mädchenchor „Westfälische Nachtigallen“ mit langjährigem Leiter Dietmar Hahn, sowie gegenwärtig die Autorin und Filmemacherin Ulla Lachauer.
    An den Schulen gab es die pädagogischen Heldinnen und Helden der Stadt. So implantierte Wilhelm Rossi beim Verfasser ein für allemal die Liebe zur amerikanischen Kurzgeschichte.
    Und glaube nur niemand, die Ahlener Kneipenlandschaft hätte nichts hergegeben! Im Juli 66 jedenfalls sorgten nicht zuletzt die Biere von Kultwirt „Mocca“ Leifeld im „Eichhörnchen“ für unseren einhelligen Ausruf „Nicht drin!“, was Wembley betraf.
    Charakteristisch für Ahlen, das ewige Patchwork, auch noch eine liebenswerte Figur wie „Opa Grasgrün“, ein stadtbekannter Obdachloser, den wir stets mit vollbepacktem Fahrrad durch die Stadt fahren sahen, Zeitschriften für die Bahnhofsbuchhandlung ausliefernd. Das war eigentlich der sudetendeutsche Lehrer Oswald Kühne, der nach seinem Tod 1976 ein Grab bekam. In der Stadt mit dem Aal.

    Eine mehr als flüchtige Bekanntschaft

    Eine mehr als flüchtige Bekanntschaft

    Ein geflügelter Aal als Stadtwappen. Das bei einer Stadt, die, wie mir scheint, mehr irdische Schwere hat, als gut für sie ist, einer Stadt, die manchmal im Boden zu versinken scheint und wenn man genauer hinschaut, vielleicht auch gute Gründe dafür hätte. In Ahlen gab es mal Bergbau, erst Strontianit, dann Steinkohle. Strontianit* – ja, ich musste auch nachschauen, was das ist und wofür das gut war – ist nach rund 125 Jahren vergessen. Ob das mit der Steinkohle auch mal so sein wird? Ahlen zeigt uns exemplarisch, dass es viel zu vergessen gab und gibt und dass wir uns gern an die Helden und weniger gern an die Schurken erinnern.

    Zu den Helden gehört für mich Paul Rosenbaum, der Ahlen 1945 kampflos den Amerikanern übergab. Ein großer Platz, wenn auch nicht gerade im Zentrum der Stadt, erinnert an den Mann. Für ihn mache ich mal eine Ausnahme und akzeptiere, dass Straßen und Plätze nach Menschen benannt werden, die sich bei näherer Betrachtung oft genug als unwürdig erweisen, jedenfalls als unwürdiger als ein Gänseblümchen oder ein Knollenblätterpilz. Eine öffentliche Namensziehung wäre für mich gerade noch okay, da käme ein deutlich kleinerer Teil von zweifelhaften Gestalten zu unverdienten Ehren.

    Die Namen der Schurken kenne ich nicht, aber ich habe mir auch nicht die Mühe gemacht, in den Archiven nach denen zu suchen, die in Ahlen Hexen und Wehrwölfe foltern und verbrennen ließen.

    Gleich denke ich, dass auch unter den Schurken sicher verängstigte Bürger waren, die nur das Beste für ihre Stadt wollten, die nur die geständigen Monster gerecht bestraft sehen wollten. Menschen, die eigentlich zu den Guten zu zählen wären, oder „… ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, wie Goethe das den Mephisto im Faust sagen lässt. Ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft, so wird ein Schuh draus. 

    Ich merke gerade, ich muss noch lange schreiben, ich bin noch nicht mal mit den Schurken der Vergangenheit durch, bei denen der Gegenwart werde ich dann wohl spuken müssen. Und nein, ich kann nicht einfach ein paar hundert Jahre Grausamkeit und Ungerechtigkeit überspringen, das macht meine Tastatur nicht mit.

    Doch zum Ahlen der Gegenwart will ich dann doch noch kommen. Ich habe da lange gearbeitet, in der Nähe des Paul-Rosenbaum-Platzes, da, wo es die türkischen Geschäfte gibt, die Moschee, die Handyläden und die Wettbüros, aber auch die Kirmes, da, wo mein alter Chef gelebt hat, wo es bunt und lebhaft war, ganz anders als in der Innenstadt, die so aussieht, als hätte der Bergbau gestern zugemacht und alle Beteiligten seien sofort abgereist. Sind sie nicht, sie waren nur bei dem Mistwetter nicht auf den Straßen und es war Donnerstag, wer muss da schon in die Stadt, wenn die Läden sowieso zu sind und nie wieder aufmachen.

    Puh, so schlimm ist Ahlen auch wieder nicht. Es gibt schöne Ecken, Kultur und Sport und nette Leute, ich weiß das, wie gesagt, ich habe da gearbeitet und mein Freund Rainer kommt daher und die Stadt, nein, nicht die Stadt, die Menschen haben gelitten unter den Folgen des Krieges, für den sie auch nicht mehr konnten als zum Beispiel die Warendorfer, die trotzdem  besser davongekommen sind. Problemlos ist das Leben in Ahlen auch heute nicht, nicht einfach multikulturell entspannt. Der Fußball ist nur noch viertklassig, nach allem, was man hört, hat die niederländische Thronfolgerin sich auch von dem jungen Mann aus der Badewannendynastie getrennt.

    Nein, leicht ist es nicht, dem Fisch das Fliegen beizubringen.

    *Strontianit ist ein Mineral, das bei der Zuckerproduktion eingesetzt wurde.

    Was ich noch brauche

    Was ich noch brauche

    Aufräumen, aussortieren und entsorgen. Was ich nicht mehr brauche, wofür ich keinen Platz mehr habe. Was wichtig war oder mir, uns, wichtig schien. Was schön war oder praktisch. Seligkeitsdinge. Was sein musste. Was alle hatten, alle hörten, alle lasen. Was blieb, von Menschen, die gingen.

    Was sich angesammelt hat in Jahren und Jahrzehnten. Was stumpf geworden ist und unansehnlich. Angestoßen, verknittert und verschrammt. Was nicht mehr passt. Was unpassend wurde. Was nicht gut gealtert ist. Was mein Denken geprägt hat, meinen Geschmack, mein Empfinden. Was zu mir gehörte, mir im Weg steht, wie ich mir im Weg stehe.

    Was war, kann weg, wenn du bleibst.

    Was einmal ewig schien

    Was einmal ewig schien

    Hochparterre im Wohnblock. Gleich rechts. Ein blankpoliertes Namensschild. Edelstahl vielleicht. W. Voita. Die Wohnung hat einen Korridor mit einer Garderobe. Ein Läufer. Überall Linoleumböden.

    Das Badezimmer gleich rechts mit der Wanne, dem Klo, dem Waschbecken und Spiegel, einem Elektroboiler und einem Heizstrahler über der Tür.

    Das Wohnzimmer gleich links mit Sofa und zwei Sesseln, einem ausziehbaren Tisch und einem Zeitungsständer. Teppich. Ein Fernsehschrank, Schwarzweiß-Gerät mit einem, später zwei Programmen. Ein Wohnzimmerschrank, ein Kohleofen. Fast alles neu. Die Wirtschaftswunderjahre, neue Wohnung, 75 qm. und der Chic der fünfziger Jahre.

    Die zweite Tür links führt ins Schlafzimmer. Ein Kleiderschrank, darauf ein Reisekoffer, ein Elternbett, eine Frisierkommode. Ein Kinderbett für meine Schwester. Manchmal ein Topf mit Kartoffeln unter der Bettdecke. Blick auf eine Wiese zwischen zwei Wohnblöcken. Wäscheleinen. Apfelbäume.

    Am Ende des Korridors die Küche. Meine Schlafcouch, ein Radio wie ein Möbelstück, poliertes Holz mit elfenbeinfarbenen Tasten und zwei Drehknöpfen unter einem magischen Auge. Ein paar Bücher, Karl May, Mark Twain. Die Westfälische Rundschau auf dem Esstisch mit Schublade. Vier Stühle mit dünnen Kissen. Ein Kühlschrank. Ein Elektroherd, ein Kohleofen. Eine Kohlenschütte daneben. Ein Spülstein. Ein Küchenschrank mit Aufsatz. Ein eingebauter Schrank unter dem Küchenfenster als Vorrats- und Geschirrschrank. Vor dem Haus ein Fußweg hin zu einer Treppe, weiter zur Straße, dann zur Donnerkuhle. Hinter dem Fußweg ein Sandkasten, Grünfläche, dahinter Gebüsch und Felder. Im Hintergrund Hügel und ein Steinbruch. Im Keller Kartoffeln, Eierkohlen und Brikett. Ein Lederhelm aus Bergbauzeiten. Die Waschküche mit Kessel.

    Kein Telefon, kein Auto.

    Wir: Vater, Mutter, die jüngere Schwester und ich.

    Mein Vater: Jahrgang 1914, uneheliches Einzelkind, Halbwaise, Ehemann, Vater, Schwager, Schwiegervater, Opa, Onkel, Vetter, blauäugig, Sudetendeutscher, Flüchtling, konvertiert, immer braungebrannt von der Arbeit am Hochofen, Nichtraucher, Kriegsteilnehmer, Kriegsgefangener, Gewerkschaftsmitglied, Wähler, Gartenarbeiter, Choleriker, Bergmann, Hilfsarbeiter, Katzenfreund, ungeduldig, Blasmusikhörer, Alleinverdiener, Zeitungsleser, Schichtarbeiter, Marzipanfreund, Arbeitsloser, Weintrauben und Schokolade, Herzinfarktbetroffener, Mopedfahrer, Roy-Black-Begeisterter, Brillenträger, Gebissträger, Rentner, Schlaganfallopfer.

    Meine Mutter: Jahrgang 1926. Tochter mit fünf Brüdern, in Ostpreußen geborene Wasserberg. Otto, der Bruder, der im Krieg starb, am Krieg starb. Ein Bruder, der am Krieg starb, nach der Flucht: Rheini, ein Kindergrab in Ostfriesland neben Gräbern mit Stahlhelmen. Der Vater, der nicht flüchten durfte, der in Ostpreußen blieb, vermisst wurde, verschollen blieb. Mädchen mit langen Zöpfen, Ostseekind, Strandkind, Lutheranerin, Flüchtling, Schreiberin eines Fluchttagebuchs. Nichtschwimmerin, Nichtradfahrerin, ohne Führerschein. Haushaltshilfe. Tochter, Schwester, Nichte, Cousine, Ehefrau, Schwägerin, Mutter, Schwiegermutter, Oma. Eingebildete Kranke, chronisch Kranke, Brillenträgerin, Sammlerin von Lebensweisheiten, Stubenhockerin, Leitungswassertrinkerin, Kartenschreiberin.

    Flinsen, Königsberger Klopse, Kartoffelklöße mit Zwiebeln und Speck: Ostpreußen auf dem Teller. Die kleine Familie in der Fremde, heimatlose Eltern. Kinder, die nichts davon verstehen, nicht wissen, wie es sich anfühlt, angekommen zu sein.

    Eisblumen an den Fenstern. Ferien. Vorfreude auf das Fest, die Ungeduld, die lange Adventszeit mit dem Adventskalender. Hinter jedem Türchen ein kleines buntes Bild und ein großes am 24.12. Der Heilige Abend. Ein Weihnachtsbaum mit echten Kerzen. Rote Ohren, heiße Wangen, nicht nur von der Vorfreude, der Ofen glüht. Ein Paket mit Geschenken von der Oma. Radio Norddeich sendet Weihnachtsgrüße für die Seeleute irgendwo da draußen. Kartoffelsalat mit Würstchen. Weihnachtslieder, leise und zögerlich gesungen. Meine Schwester spielt auf der Blockflöte. Ein Weihnachtsgedicht, stockend und mit mütterlicher Hilfe. Mit bestem Dank an die evangelische Gemeinschaftsschule. Geschenke und ein bunter Teller. Was für eine Seligkeit.

    Auszeit

    „Wir lesen jetzt „van den vos reynaerde“. Jeder von Ihnen einen Satz – und dann schauen wir uns die Konstruktion an.“

    Die Literaturseminare hatte ich hinter mir, sogar das zu Heiligenleben in mittelniederländischer Überlieferung. Die sprachwissenschaftliche Übung stand noch aus, sollte aber kein Problem sein, immerhin kam ich über den zweiten Bildungsweg. Gut, ich schrieb und formulierte nach Gefühl – aber für mein Gefühl richtig. Immerhin verfügte ich auch über Lateinkenntnisse im Umfang des kleinen Latinums, wenn ich auch die Prüfung komplett von einem japanischen Mitprüfling abgeschrieben hatte.

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    Gute Presse

    Es ist ja immer ein wenig Glückssache, wie eine Zeitung berichtet, ob Namen richtig sind, Fakten stimmen. Diesmal stimmte alles, sachlich richtig und gut und freundlich formuliert, beschrieb der Text meine geplante Lesung in Telgte. Okay, eigentlich kein Wunder, denn schließlich hatte ich den Text selbst verfasst.

    Eigenes Bild, erstellt mit AI