Nase voll

Photo by Michel Marcon

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„Wir gehen eigentlich nur noch ganz selten zu einem Bäcker“, sage ich zu Elfie, während wir die lange Ausfahrt nehmen, die eigentlich schon ein  landwirtschaftlicher Nutzweg ist. Wir haben Eier gekauft, frisch ab Hof. Eine Klingel neben dem kleinen Laden, der links vor dem Wohnhaus in einem Nebengebäude untergebracht ist. Das Wort Laden ruft falsche Bilder auf,  es ist nur ein besserer Lagerraum mit ein paar Regalen, einem Kühlschrank, Tisch und einer Kasse. Eine Klingel, damit man jemanden aus dem Haus, ja, im wahrsten Sinne des Wortes, herausklingeln kann.

Vorneweg der Hofhund mit gefletschten Zähnen. Der junge Mann, möglicherweise der Bauernsohn behauptet, dass der Hund grinst. Mag sein, bei Alice im Wunderland grinst schließlich auch eine Katze. Jedenfalls will er gestreichelt werden, der Hund, nicht der Sohn. Und ich muss dann später auch nicht an den Bäcker denken, weil ich den mal wieder streicheln müsste. Sondern weil wir so unsystematisch einkaufen, einfach immer darauf setzen, dass der Supermarkt ein paar Häuser weiter schon offen hat, und so kann man auf dem Land nicht einkaufen.

Aber einen Bäcker gibt es da, nicht gleich beim Bauern, schon ein Stück entfernt im Dorf. Da bekommt man vielleicht auch noch eine Tüte Milch und ein halbes Pfund Butter. Das wäre auch gut so, denn einen Lebensmittelladen gibt es nicht mehr im Dorf . Und dann erinnert sich Elfie an den Bäcker in Holland, vielleicht in Coevorden, vielleicht auch in Zwolle, ich frage nicht nach, es ist eine Erinnerung, die wir nicht teilen, eine aus ihrer Kindheit, wenn sie ihre Tante in Holland besuchte und dann war da dieser Bäcker, zu dem sie so gern ging, weil das ganze Geschäft so nach frischem Brot duftete.

Nun nahm ich schon immer an, dass es bei holländischem Brot eigentlich auch der Duft ist, der sättigt, das Brot kann es unmöglich sein, denn wenn man nicht gut aufpasst, hat man es beim Schnuppern gleich inhaliert.

Während sie still  in ihrer Erinnerung schwelgt oder längst an etwas anderes denkt, denke ich an einen Samstag in Leer, natürlich im Leer meiner Kindheit. Nicht den Samstag, also keinen, den man kalendermäßig bestimmen könnte, sondern den typischen, nein, auch nicht, sondern den Samstag, wie er mir in Erinnerung geblieben ist und wie ich ihn mit dem Fotoapparat festgehalten hätte, wenn man solche Erinnerungen fotografieren könnte. Aber mit einer Kodak-Instamatic wäre das ohnehin unmöglich gewesen, vielleicht mit der geheimnisvollen Spiegelreflexkamera meines Onkels, mit separatem Belichtungsmesser und Wechselobjektiven.

Nein, wohl auch damit nicht. Die eigenen Bilder sind anders.

Puzzleteile von unterschiedlichen Tagen, aus verschiedenen Jahren, die, richtig zusammengesetzt, ein Bild ergeben: das eines Samstags in Leer, in den fünfziger und sechziger Jahren. Beim Fleischer, Kunden dicht gedrängt, weil für den Sonntag gekauft wird. Rotbraunes Packpapier um Wurst und Schinken, Rollbraten und Kotelett. Scheibe Wurst fürs Kind? Korbbrot und einen Mohnzopf vom Bäcker, drei Stufen hoch, gleich neben dem Friseur. Für mich eine Kakaozunge. Schnell zum Milchgeschäft, nicht weit von Friedhof und Krankenhaus. Quark und Sahne.

Eine Ledertasche, vielleicht auch ein Einkaufsnetz, meine Oma witwenschwarz. Alles raschen Schrittes, denn mittags: Feierabend. Ladenschluss. Ruhe. Sonnabend. Rasenmähen, vor der Hecke harken. Hühner im Garten, ein Schwein im Stall. Dampfloks am Horizont. Starfighter am Himmel. Erinnerungen wie hinter Glas, ohne Ton, ohne Gesichter. Wie im Freilichtmuseum.

11 Gedanken zu “Nase voll

  1. Bei der Vorstellung, dass man am holländischen Brot nicht zu stark schnuppern dürfe, sonst hat man es schon inhaliert, musste ich schmunzeln. Deine Impressionen von einem Samstagmorgen in Leer lassen vor meinem inneren Auge eine versunkene Zeit wiederauferstehen. Dein Vergleich mit Puzzleteilen legt ja nah, dass sie zusammenpassen und auch vollständig sind. Ich selbst habe nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an fünf Dorfläden meines Heimatdorfes, an vier Kneipen, an den Fiseur, den Bäcker, den Metzger, an die beiden Schuster. Ich will sie nächstens mal aufschreiben, bevor ich alles vergessen habe. Danke für die Anregung.

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  2. Lieber Manfred,

    mir geht es wie Jules und meine geheimen Hirnkammern fangen an zu arbeiten. So wie sie gerade quietschen sortiert sich da vielleicht auch eine Geschichte oder auch nur ein paar Erinnerungsfetzen zusammen, mal schauen wann sie ins Wort hinein wollen.

    Ebenfalls lieben Dank Dir für die Anregung
    San

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  3. Wir haben hier gleich zwei Bäcker um die Ecke, welch ein Glück. Früher kam unser Bäcker mit einem kleinen Transporter in unsere Straße, sein Sauerteigbrot war das Familienbrot, denn es blieb lange frisch. Das Rämpftel ( die Eckstücke) waren uns Kindern einen Streit wert. Schön, wie du durch deine Erinnerungen meine eigenen hochholst. Nun rieche ich wieder den Duft des frischen Brots, dass noch fast warm mit ein bißchen Butter wundervoll mundete.

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