Fleischlos (4)

Fleischlos (4)

Ben will rauf auf den Turm und einer darf mit oder soll, aber auch nur einer, weil es doof wäre, wenn einer allein unten warten müsste. Langweilig wäre das. Sie würfeln und Luis geht mit. Er fühlt sich nicht so, als hätte er beim Würfeln gewonnen, aber einfach unten bleiben kann er ja auch nicht.

Der Turm ist eigentlich fest verschlossen, praktisch uneinnehmbar, aber wenn ein Satz schon mit eigentlich anfängt… Luis sieht das Schlüsselloch, in das bestimmt ein riesengroßer schwarzer Schlüssel passen würde, den sie aber leider nicht dabei haben. Ben drückt trotzdem die Klinke herunter und siehe da, nichts rührt sich. Ben ist fast so erleichtert wie Luis, aber er rüttelt doch dran und plötzlich geht die Tür auf, einfach so. Die beiden Jungen können ja nicht wissen, dass die Tür sehr wohl verschlossen war, aber das gerade in dem Moment, in dem Ben zum zweiten Mal die Tür zu öffnen versuchte, ein Mondstrahl, der nur zu einer bestimmten Minute, ach was, einer Sekunde im Jahr durch eine Ritze in der Wand des Turms fällt und das auch nur dann, wenn nicht gerade eine Wolke den Mond verdeckt, dass dann dieser Mondstrahl genau durch das Schlüsselloch hindurchgeht. Mehr braucht es nicht, aber das ist schon eine ziemlich sichere Art, einen Turm abzuschließen, denn wer mag schon darauf warten, dass – pling – ein kleines bisschen blasses Licht durch das Schlüsselloch fällt?

Die Tür ist offen und das fühlt sich jetzt ziemlich komisch an, so, als würde etwas ganz Kaltes durch seinen Hals laufen, aber Ben zieht die Tür auf, die knarrt, als wäre sie extra dafür gemacht worden, wie in einem Horrorfilm und dann fällt ein bisschen Licht in den Turm und sie können den Anfang der Treppe sehen. Aber wenn sie die Treppe hoch wollen, müssen sie die Tür schon wieder loslassen und dann ist das kleine bisschen Licht auch wieder weg. Zum Glück haben sie ja ihre Taschenlampen und machen gleich beide an, es ist nämlich nicht einfach dunkel im Turm, es ist wie so eine staubige schwarze Nacht, die Luft steht und riecht nach Fledermauspisse, das meint jedenfalls Luis und irgendwo oben flattert auch etwas. Ben will da auch überhaupt nicht mehr hoch, aber was soll er machen, wenn die anderen jetzt draußen stehen und warten?

Ben ist keiner, der schnell aufgibt und Angst zeigen, das geht schon mal gar nicht. Also mit der Handytaschenlampe die Treppe rauf. Erst sind es breite Steinstufen, nicht gerade in gutem Zustand, da ist wohl auch schon mal ein Ritter in voller Rüstung raufgelaufen und hat dabei was zerbröselt. Dann, nach einem Stück, es wird der erste Stock gewesen sein, sind es nur noch Holzstufen und die knarren und klingen überhaupt nicht gut. Manche haben tiefe Risse, bei anderen fehlt ein ganzes Stück.

Dann wird auch noch Bens Taschenlampe schwächer. Licht an lassen und gleich keinen Akku mehr haben, um Bilder zu machen oder, aber das denkt Ben nur, das sagt er nicht: Hilfe zu rufen? Luis hat noch mehr Akku und leuchtet auch ein bisschen die Treppe hoch, aber er will das Handy nicht aus der Hand geben und vorne laufen will er auch nicht.

Von draußen kommt kein bisschen Licht, die Fenster sind zugemauert oder verrammelt. Hier soll keiner rein-, vielleicht aber auch keine rauskommen. Es wird eng im Treppenhaus und dann, zack, ist der Akku alle. Blöd, denkt Ben, hätte er besser aufpassen müssen. Luis will nicht weiter, aber allein mitten im Turm warten will er auch nicht. Ben ist sich nicht ganz sicher, ob es schlau ist, jetzt noch weiterzugehen, aber Netz haben sie hier auch nicht, das hat Luis schon probiert, also rauf, von da können sie wenigstens schreiben oder anrufen. Runter wäre natürlich logischer, aber in solchen Situationen machen die Leute ja immer genau die falschen Sachen.

Eben noch war das Licht von Luis Lampe hinter Ben, plötzlich ist es auch weg und Luis schimpft und klingt ziemlich weinerlich und kommt schnell, Ben hört das, die Stufen hoch und ist gleich hinter ihm, schiebt seine Hand in Bens und im Dunklen steigen sie weiter die Treppe hinauf.

Man spürt das, wenn der Raum plötzlich enger wird, auch wenn man fast nichts sehen kann und Ben spürt das auch. Eine enge Stelle im Treppenhaus und Luis ist fast neben ihm, das ist viel zu eng für sie beide und es gibt ein richtiges Gedrängel. Da knackst es und ein Stück Stufe, hoffentlich nur ein Stück, bricht ab und fällt in die Dunkelheit und es dauert ganz schön lange, bis sie hören, wie es irgendwo aufprallt. Gleich nochmal, wieder bricht etwas ab und Luis lässt los, Ben stellt sich an die Seite, fest an die Wand gedrückt, während neben ihm oder unter ihm ein Getöse ist, ein Bersten und Brechen, das man bestimmt auch draußen hört. Vielleicht auch nicht, sind ja so dicke Wände hier. Aber der Staub, den das alles aufwirbelt, der quillt unter der Tür hindurch nach draußen und das sieht überhaupt nicht gut aus im Mondlicht.

Ben tastet mit einem Fuß nach unten, aber da ist nichts. Nach oben, da fühlt er ein Stück Holz, keine ganze Stufe, mehr so ein Rest, der aus der Wand ragt. Er setzt den Fuß darauf, probiert, ob das Holz ihn trägt und zieht dann den andern Fuß nach. Aber er rutscht ab, verliert fast, was heißt hier fast, den Halt und… zum Glück greift die Hand von oben nach, fast sein Handgelenk, zieht ihn wieder auf die Treppe und sein Herz schlägt wild, so hat er es noch nie gespürt. Dabei ist es so still geworden im Turm.

Dann endlich macht die Treppe einen Bogen, etwas fahles Mondlicht fällt auf die oberste Stuf. Da öffnet sich ein Raum, kahl und staubig. Ben sieht einen Schatten, das ist doch Luis, der da schon wieder in das Treppenhaus verschwindet, auf die enge Wendeltreppe, die nach oben bis zur Zinnen bewehrten Turmspitze führt. Warte, ruft Ben und gleich antwortet Luis, aber die Stimme kommt von unten, von dort, wo Luis hinter Ben im Treppenhaus war und offensichtlich auch geblieben ist.  Aber wenn das da unten Luis ist, der nicht weiter kann, weil die Treppe weggebrochen ist, wer ist das dann da vorn, wer hat Ben gehalten und hochgezogen? Noch während er grübelt, greift eine kühle Hand die seine, fest und entschlossen.

Luis ist schon wieder unten. Finn und Leon wollen gleich die Treppe rauf, aber Luis erklärt ihnen, dass das keinen Sinn hat. Die Holztreppe ist fast vollständig zusammengebrochen. Im Licht ihrer Taschenlampen sehen sie den Staub und die Splitter, die es bis ganz unten geschafft haben. Aber was nun? Hilfe holen und sich dem Ärger aussetzen, hier einge-drungen zu sein? Oder abhauen und anonym Alarm schlagen? Finn hat Netz und während die anderen noch diskutieren, hat er Ricardo schon angerufen.

Die Nacht ist jetzt ausgesperrt, Masten mit Scheinwerfern hat die Feuerwehr rund um den Turm aufgebaut und Retter mit Spezialgerät versuchen, sich einen Weg durch das Treppenhaus zu bahnen. Der große Leiterwagen, mit dem man auch die oberen Stockwerke erreichen könnte, kann nicht bis hier zur Burgruine gebracht werden, aber Höhenretter sind schon vor Ort und für die ist das eine der einfacheren Übungen. Als sie den obersten Raum betreten, den, dessen Wände noch immer schwarz sind, sehen sie an der Wand zwei Schattenrisse. Eine Frau und einen Jungen – Hand in Hand.

Ende

Bild: Georg Adam, Public domain, via Wikimedia Commons

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11 Gedanken zu “Fleischlos (4)

      • Besonders gefällt mir hier die lässige Erzählweise mit den eingeschobenen Kommentaren der eigenen Geschichte. Zuerst habe ich gar nicht geglaubt, dass sich noch Spannung einstellt, aber im Turm passiert es doch.

        Gefällt 1 Person

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