
Es ist still in der Wohnung, noch früh. Elfie ist schon im Büro. Ich breite die Zeitung auf dem Tisch aus und gieße mir etwas Tee nach, nicht, weil ich noch Durst auf Tee habe, sondern weil es zur Stimmung dieses Vormittags gehört, so wie der letzte Bissen des Brötchens mit Holundergelee, des selbstgemachten Holundergelees, zu dem ich beigetragen habe, als ich den Saft und den Gelierzucker kaufte und nachhause trug. Butter auf dem Brötchen, gute Butter, wie meine Mutter immer sagte.
Die Schlagzeilen von gestern. Biden hat gewonnen. Was für eine Aufregung das war. Gerade in dem Moment , als Wolf Blitzer Joe Biden als gewählten Präsidenten ausrief, hatte ich mal wieder bei CNN nachgeschaut, wie der Stand der Dinge war. Tränen bei Van Jones, einem anderen CNN-Mann. Ein perfekter Augenblick, der Höhepunkt der Wahlberichterstattung. Ich habe es gesehen, ich war dabei, live bei CNN und das können nicht alle sagen, höchstens ein paar Milliarden Menschen weltweit.
Klar, alle anderen habe das inzwischen auch mitbekommen, in der Tagesschau, bei Heute, über welches Medium auch immer, aber das ist doch irgendwie so, als würde man sich das Video der Weihnachtsbescherung Stunden später ansehen, weil man die Bescherung verpasst hat, das Tor von Mario Götze bei der WM in Brasilien in der Aufzeichnung sehen, nachdem das Spiel schon Geschichte und das Ergebnis bekannt war. Ganz nett, aber eben Second Hand.
Abzeichen müsste es geben für die Menschen, die live dabei waren, Orden für die Veteranen der ruhmreichsten Sekunden, Minuten, Stunden und Tage der Fernsehgeschichte. Mondlandung, rumble in the jungle, der Fall der Mauer, 9/11, WM-Sieg, Biden.
Es ist so still in der Wohnung. Die Zeitung kenne ich schon, die Nachrichten sind nicht nur von gestern, die sind von vorgestern. Ob ich mal bei CNN…? Aber die Spannung ist raus, die langen Tage und Nächte, die man damit verbrachte, darauf zu starren, wie die Auszählung in Pennsylvania vorankam. Oder eben nicht vorankam. Stundenlang nicht. Stunden, in denen John King die immer gleichen Countys blau oder rot werden ließ, Erklärungen so lange wiederholte, bis auch ich sie verstanden hatte, Stunden, in denen mein passiver Wortschatz des amerikanischen Englischs ständig besser wurde, in denen ich manchmal sogar ganze Sätze verstand.
Pennsylvania hatte mich noch nie im Leben auch nur ein Stück interessiert. Transsylvanien, okay, Graf Dracula. Aber Pennsylvania? Ich kann es jetzt sogar schon fast richtig schreiben. Und das CNN-Team gehörte zum engeren Freundeskreis, das waren Menschen, mit denen ich die Tage, aber auch die Nächte verbrachte. Die müde waren wie ich und aufgeregt, erwartungsvoll wie ich.
Jetzt ist es vorbei. Wie gebe ich meinem Leben nur wieder einen Sinn?
Was für eine Anteilnahme! Da komme ich mir ganz klein vor als weniger Anteilnehmende. Ich meine, interessiert verfolgt habe ich Wahl und Stimmenzählung in den USA auch und dies nicht ohne (zumindest innerliche) manchmal auch geäußerte Aufregung. Gestern aber überkam mich diese Art von Ruhe, die mich auch immer im letzten Moment vor Prüfungen überkam. Als wäre an der Sache nichts zu ändern (was ja im konkreten Fall auch stimmte), und es käme nur noch darauf an, Haltung zu bewahren. Jetzt jedenfalls fühle ich mich nicht leer, sondern sehr erleichtert, habe den Kopf endlich wieder frei – wenn man von dem bisschen Corona, und dem bisschen Lockdown, und dem bisschen Klimawandel, und dem bisschen Flüchtlingsproblem, … mal absieht.
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Die US-Wahlen sind vorbei. Die aktuellen Massnahmen gegen das Corona-Virus müssen möglicherweise den ganzen Winter durchgezogen werden. Es gibt kein heiteres Weihnachten.
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Was bitte hat jetzt Weihnachten mit dieser Wahl zu tun ?
Natürlich gehen alle Probleme weiter, aber Gott sei Dank
ab Januar ohne Trump ! 🙂
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Es gibt doch gar keine Winter mehr. Präsidentendekret.
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Dann hoffen wir, dass es bei der EU vorwärtsgeht. Wir wollen wenn schon den ewigen Sommer statt wie früher den ewigen Winter.
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Wenn Corona Mal durch ist, wird sich zeigen müssen, ob die Welt mit Biden einen führenden Politiker im Kampf gegen Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und nicht zuletzt den Klimawandel hat. Der Mann steht vor so viel Aufgaben, er ist nicht zu beneiden.
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Entschuldigung, Du wirst doch Pittsburgh oder Philadelphia kennen?
Zumindest, wenn du Cineast, Musikliebhaber oder Bücherwurm bist.
Beide Städte liegen in Pennsylvania, ein wichtiger Staat in den USA.
Schon immer – 20 Wahlmänner-Stimmen sind ja nicht ohne…
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Klar. Aber mein Amerikabild ist tatsächlich nicht von den Grenzen der Bundesstaaten geprägt. Es sind die Bücher, vor allem die Musik und natürlich auch die Filme. Das Land kenne ich nicht aus eigener Anschauung, vielleicht verstehe ich es auch deshalb nicht.
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Die Spannung ist raus? Nein: der Bogen ist schon wieder gespannt: Laschet – Röttgen – Merz und Treffer. Welcher? Wir kommen nie zur Ruh, außer in Pennsylvania. – Aber ich habe Plugangst. 😉
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Keine Sorge. Der nächste Event kommt ganz bestimmt… 😉
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Ja. Leider.
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