Ortsbegehung

Von Augustin Hirschvogel – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=291486

Braune Beine und nackte Füße in Ledersandalen. Ledersandalen, die ein wenig zu groß sind, so, wie Schuhe immer etwas zu groß oder zu klein sind, weil der Moment, in dem sie passen würden, vermutlich im Schuhschrank vergeht. Sonne und Staub, Lehm aus dem Garten, ein heißer Sommertag. Links die grüne Pumpe, mit der das Wasser für den Garten und die Tiere gefördert wird. Die Tür, die, nein, die Farbe weiß ich nicht mehr. Ein Fenster, ja. Dahinter ein kleiner Flur, der direkt in die Waschküche führt.

Vorher links das Klo. WC kann man es nicht nennen, denn Wasser gibt es nur aus dem Eimer. Ein Plumpsklo, das ich über die Jahrzehnte hinweg riechen kann. Das mir heute noch stinkt. Mit Zeitungspapier, in handliche Stücke gebracht. Mit einem tiefen Schacht, einem Schlund, der alles verschlingt und aus dem möglicherweise etwas aufsteigt? Wer weiß das schon?

In der Waschküche eine Badewanne. Zinkwanne, sage ich, weiß ich nicht. Woher soll ich wissen, wie eine Zinkwanne aussieht? Sie steht am Badetag, am Samstag also, mitten im Raum. Weiter hinten ein Boiler, einer der mit Kohlen beheizt wird. Glaube ich. Für heißes Badewasser. Ein Kohleofen, nein, ein Herd, auf dem meine Oma Schweinefutter kocht. Ungeschälte Kartoffeln und was auch immer. Auch so ein Geruch fürs Leben. Das Schwein lebt in einem Stall. Einem Verschlag ohne Ausgang. Bis auf ein Mal.

Zurück in den kleinen Flur: eine Stufe höher die Küche. Wärme, Helligkeit, Geselligkeit. Der Ort für den Tag. Die alte Gramuschka sitzt da und erzählt von Pommern und der Flucht und von Geistern. Gelbe Bohnen an Bändern hängen von der Decke, ein Herd, auf der Fensterbank ein Salzfässchen, Keramik, eine Acht, offen und immer etwas klebrig das Salz darin. Ein Fliegenfänger hängt von der Lampe. Schwarze Beute. Der Fußboden? Holz wohl. Braunrote Dielen. Das Haus meiner Oma. Meine Oma ist alt. Fast schon sechzig und trägt nur schwarze und graue Kittelschürzen. Ist schmal und groß. Ihre Zähne hat sie verloren, die neuen, das Kunstgebiss, haben ihr nicht so recht gepasst, die hat sie im Garten vergraben. So löst man ein Problem! Das Haus ist noch nicht alt, keine zehn Jahre, die Möbel sind noch nicht alt, nicht mal die Katze und die Hühner sind alt. Das Schwein sowieso nicht. Für mich schon. Uralt und schon immer da. Die Küche hat eine Speisekammer. Ein Paradies mit einer Türklinke.

Eine Tür, die auf der linken Seite in einen weiteren Flur führt. Gleich wieder eine Tür auf der linken Seite. Die Kellertür ist aus weißen Latten zusammengefügt, eine schmale Holztreppe führt hinab in den Keller. Nicht sehr tief und nicht sehr dunkel. Aber es gibt Spinnen. Ganz sicher. Sonst ist nichts sicher. Bis auf die Bretter, auf denen eingemachte Schweineteile stehen, farblose Kirschen und Birnen. Auf dem Kellerboden lagern große blaugemusterte Steinguttöpfe, in denen Gurken langsam sauer werden. Kohlen? Weiß ich nicht mehr. Kartoffeln bestimmt.

Wieder oben.

Gleich gegenüber der Kellertür befindet sich das Zimmer meines Onkels, das er mit mir teilen muss, wenn ich zu Gast bin. Er ist Postsekretär, ich bin fünf Jahre alt. Partner. Was ich ihm erzählt habe? Was ich ihn gefragt habe? Später habe ich seine Platten gehört und seine Bücher gelesen. Und eins behalten. Eine Flasche Haarwuchsmittel auf seinem Nachttisch. Schwarz und ölig. Und die Oma, die mich abends ins Bett bringt und mit mir betet und singt. Weißt du, wie viel Sternlein stehen? Nein, weiß ich nicht. Nie darüber nachgedacht. So evangelisch ist es hier. Mit Fotos von toten Verwandten an den Wänden und einem Orden aus der Hitlerzeit, für besonders viele Kinder. Immer noch ist da ein bisschen Stolz, trotz des Schmerzes. Trotz des verlorenen Sohns, des vermissten Mannes und der verlorenen Heimat. Ich bin hier nicht zuhause. Noch nicht.

13 Gedanken zu “Ortsbegehung

  1. „Das Schwein lebt in einem Stall.“
    „Ein Fliegenfänger hängt von der Lampe.“
    „Die Küche hat eine Speisekammer.“
    „Ich bin hier (nicht) zuhause.“
    Dorf. 700 Einwohner, 700 Kühe.
    Ostercappeln/Haaren?

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  2. Lieber Manfred, das ist ein großartiger Text, finde ich. Atmosphärisch dicht, poetisch anmutend, angreifend. Das ging mir unter die Haut und es hinterlässt mich mit vielen Fragen – an dich, an mich selbst, an unsere Zeit. Meiner Meinung nach ist das die edelste Aufgabe von Literatur, wenn ich das mal so hochgestochen formulieren darf. Genau das zu tun.
    Danke!

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    • Danke, liebe Christiane. Ob ein Text funktioniert, kann ich erst einschätzen, wenn er ein wenig Ruhe gehabt hat. Früher erledigte das die Schublade,. Jetzt bin ich noch zu nah am Text bzw. am Schreibprozess und es fällt schwer, einen Schritt zurückzutreten und nicht an jeder einzelnen Formulierung hängen zu bleiben. Deshalb ist es umso schöner, wenn ich so ein Feedback bekommme.

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  3. Dein atmosphärisch dichter Text ruft vergleichbare BIlder in mir auf, nur dass meine Oma nicht aus Pommern kam, sondern aus Köln Ehrenfeld und das Zimmer meines Onkels, in dem ich schlief, keinen Onkel mehr beherbergte. Nur noch eine Vitrine mit vielen Ausgaben von Das Beste aus Readers Digest zeigte an, dass er einst hier gelebt hatte. Ich habe alle gelesen.

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  4. Deine Erzählung erinnert mich heute an meine Kindheit. Ich bin etwas jünger, aber unter einem Fliegenfänger sitzend hab ich meine Familie ähnliches erzählen gehört.
    Du schreibst wunderbar. Ich freue mich immer wieder wenn ich so schönes lesen darf. Danke

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    • Danke, liebe Mitzi. Geschichten aus der Kindheit, Geschichten von früher mögen wir ja alle. Und egal, wo und wann sie spielen, wir erinnern uns an unsere eigene Kindheit. Das kann schön sein, das ist auch manchmal schmerzhaft. Aber wem erzähle ich das. ich weiß ja, dass du sehr anrührende und komische Geschichten aus deinem Leben erzählen kannst und genau weißt, wo man mit der Wahrheit aufhören muss, damit die Geschichte funktioniert und wie viel Wahrheit sie braucht, damit sie uns berührt.

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