Der Mann war mit einem der Vorortzüge in die Stadt gekommen. Kompliziert, mit Zugausfällen, mehr Haltestellen und Umstiegen. Eine Tasche hatte er noch bei sich, die andere war irgendwo im Gedränge abhanden gekommen. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum, zu viele Betrunkene, zu viel Aggression. Bereitschaftspolizei in der Bahnhofsvorhalle, Männer mit Hunden, die breitbeinig, die Hände in die Hüfte gestemmt, den Weg schmal machten. Vielfache Augenkontrolle. Offenbar als harmlos eingestuft, schlurfte er aus der Halle, auf den großen Platz. Gleich neben ihm knallte es. Scherben auf dem Boden, ein ausgeleerter Abfalleimer. Mayonnaisefußspuren.
Der Anruf hatte ihn nachmittags erreicht, rasch hatte er noch ein paar Sachen eingepackt und war gleich los. Blöd, dass er kein Auto hatte.
Lachen. Eine Gruppe junger Frauen, Mädchen, zu dünn angezogen für die Jahreszeit, aufgekratzt und unterwegs irgendwohin. Eine Rakete flog nah an seinem Kopf vorbei, funkensprühend, plötzliches grelles Licht, Farben regneten vom Nachthimmel. In der Ferne Sirenen. Man sollte nicht allein sein in so einer Nacht, in dieser Nacht. In keiner Nacht. Die Taxistellplätze waren leer, blieben wohl auch leer. Nur alle 70 Minuten ein Bus. Kanonenschläge hallten durch fast menschenleere Straßen, dennoch schlief da jemand in einem Hauseingang, auf Pappe und Planen. Ab und an ein Taxi, späte Gäste einer Feier. Erste Heimkehrer.
Orgelmusik aus einer gotischen Kirche, schwach erleuchtete Fenster, Kerzen vielleicht. Beifall. In einem Obergeschoss bewegten sich Menschen hinter bodentiefen Fenstern, tanzten zu unhörbarer Musik. Ein älteres Paar, Hand in Hand, ins Gespräch vertieft, schaute kurz auf, uninteressiert, der Mann hatte ihm in die Augen gesehen und nichts bemerkt. Spiegel der Seele.
Junge Männer, Araber vielleicht. Flüchtlinge möglicherweise. Er wechselte die Straßenseite, etwas ängstlich und schämte sich gleich dafür.
Er fragte einen Passanten nach dem Weg, bekam eine kaum verständliche gelallte Antwort, aber die Richtung stimmte mit der überein, die er für richtig hielt und bald war da auch das Krankenhaus. Dritter Stock, Innere. Zimmer 365. Draußen brach das Feuerwerk los.
„Ein frohes neues Jahr!“ Eine Pflegerin lächelte ihn an.
Ein frohes neues Jahr. Wer brauchte schon ein neues Jahr? Einen neuen Tag, einen nächsten Tag.
Ein paar Stunden wenigstens.
Den Himmel sehen wir uns an hier und jetzt.
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Genau!
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Ich habe das vorhin unterwegs gelesen. Und jetzt noch mal. Für unterwegs ist es zu schön.
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Zu schnell abgesendet. Schön ist das falsche Wort. Eher…für unterwegs gefällt es mir zu gut und hat eine ruhigeres Lesen verdient.
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Danke. Ja, ein ernsterer Text, der sich wirklich nur erschließt, wenn man sich etwas Zeit nimmt.
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Zuerst ist zuerst! 😉
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Wieder einmal ein echter Wurf aus Deiner Feder. Super, wie Du mit kleinen Details eine nachfühlbare Atmosphäre schaffst und gleichzeitig diskret aktuelle Themen einbaust. Von der unerwarteten Wendung ganz zu schweigen. Toll, macht Lust auf mehr… und nährt die Hoffnung, dass es doch noch ein paar Tage mehr geben wird. 😉
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Vielen Dank. Ernste Themen sind ja eigentlich dein Spezialgebiet. Aber man kann ja nicht ablehnen, wenn die Phantasie ein Angebot macht.
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