Eine Tageszeitung muss sein. Worüber sonst sollte man sich am frühen Morgen schon aufregen?
Zeitungen hatten lange Zeit das Privileg, Nachrichten zu transportieren. Von der ursprünglichen Bedeutung her war die Zeitung ja auch nichts anderes als der Bericht, das mittelhochdeutsch zîtûnge geht wohl auf das mittelniederdeutsche tidinge zurück, das für Geschehen bzw. Ereignis stand. Die Nachricht begleitete bald der Kommentar und eine deutsche Zeitung, ein deutsches Nachrichtenmagazin kommt kaum noch aus ohne den Zusatz „meinungsstark“. Für den Fall, dass ich gerade mal keine eigene Meinung zur Hand habe, ist immer jemand da, der mir seine andient. Wie nett und wie uneigennützig.
Jetzt hätte ich doch fast den Anlass meiner morgendlichen Begeisterung vergessen: Es ging um den Herrn Macron, Emmanuel Macron, von Beruf Präsident. Herr Macron war, so ist jedenfalls anzunehmen, nicht um seiner selbst willen gewählt worden, sondern weil viele Frau LePen nicht so gern als Chefin gesehen hätten. Das war allen klar, den Franzosen wie auch den Deutschen, die ihm ebenfalls den Wahlerfolg wünschten. Kaum war er aber gewählt, da hieß es bei uns auch schon, er möge aber bitte keine Forderungen an uns stellen, sondern das reformunwillige Frankreich domestizieren. Es sind Arbeitnehmerrechte, die da zügig abgebaut werden sollen und ich weiß, dass ich ihm dabei keinen Erfolg wünsche.
Also: Von Europa kommt nichts, die Franzosen wollen nichts ändern. An diesen Bedingungen sind seine Vorgänger auch schon gescheitert. Bei der nächsten Wahl drücken wir dann wieder alle dem Kandidaten die Daumen, der Frau LePen zu verhindern versucht. Ob das auf die Dauer reichen wird? Meine Zeitung beschrieb die aktuellen Probleme des Herrn Macron mit den Mühen der Ebenen.
Und da begann mein Zorn, denn Herr Brecht hatte, als er diese Zeile schrieb, bestimmt nicht die Durchsetzung eines neoliberalen Regimes im Kopf, sondern fragte sich, so wird der Text jedenfalls interpretiert, wie nach den Leiden des Krieges der Aufbau des Sozialismus gelingen könnte. Andererseits: Es war eine Gelegenheit, mal wieder das Gedicht „Wahrnehmung“ herauszusuchen:
Wahrnehmung
Als ich wiederkehrte
War mein Haar noch nicht grau
Da war ich froh.
Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebenen
Bertold Brecht (1949)
Viele hätten wohl nichts gegen einen kleinen Stillstand oder gegen eine Verlangsamung des Tempos.
Bloß den „oberen“ Herrschaften passt das gar nicht in den Kram …
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Ja. Zeit, um darüber nachzudenken, was man will oder was man braucht, kann der Gesellschaft nur gut tun.
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