Enschede, Wilmink & Textilgeschichte

Komisch, wie nah und wie fern eine Stadt einem doch sein kann. Nah, weil Enschede, das ist die niederländische Stadt, um die es hier geht, gerade einmal 100 Kilometer von Warendorf entfernt liegt. Fern, weil ich, obwohl wir so oft dort waren, so wenig über diese Stadt weiß. Naja, jetzt weiß ich natürlich gerade mal wieder etwas mehr, weil wir, wie so oft, ein paar Stunden dort verbracht haben.

Enschede, von Willem Brakman als  ‚het onlieflijke stadje‘ (die unliebliche Stadt) bezeichnet, ist nicht schön, keine dieser putzigen niederländischen Städte, die eine kuschelige Mischung aus siebzehntem Jahrhundert und Coffeeshop zu sein scheinen. Ich habe an anderer Stelle schon darauf hingewiesen, dass die Stadt im zweiten Weltkrieg mehrfach bombardiert wurde, weil man sie für das benachbarte Gronau, also eine deutsche Stadt, hielt. Aber auch Stadtbrände und eine gnadenlose Stadtplanung haben dafür gesorgt, dass wenig historische Substanz erhalten ist.

In Enschede gibt es muurgedichten (Mauergedichte) wie auch in Den Haag oder Utrecht. In Enschede habe ich sie allerdings bisher übersehen. Oder sie sind neu. An diversen Stellen der Stadt finden sich kurze und lange Texte verschiedener Autorinnen und Autoren. Willem Wilmink ist vielleicht der Bekannteste von ihnen, hat auch für Herman van Veen geschrieben. Nicht dass ich ihn gekannt hätte. Einer seiner Texte steht aber an prominenter Stelle, nämlich an der Wand der Buchhandlung, die ich in Enschede eigentlich immer aufsuche.

Foto: Manfred Voita

 

Textilstadt

Es ist die Endstation der Züge,

beinah kein Mensch muss dort hin,

beinah kein Hund geht so weit mit

Enschede

Die Burgen der Industrie

stehen noch hier und dort verstreut:

Spelunken, hohl und verlebt/verschlissen

worin der Wind nun freies Spiel hat

Textilbarone von einst

ihr Jagdrevier besteht nicht mehr

Wo könnten sie geblieben sein,

Van Heek, Ter Kulle, Blijdenstein?

Haben sie Kinder gezeugt,

haben sie hier noch Nachkömmlinge,

oder wählten die schnell eine bessere Stelle

als Enschede?

Krim, Bergenkamp, Sebastopol,

es ist vorbei. Das Maß ist voll.

Beinah kein Mensch hat hier noch Kenntnis

von eurer Gelassenheit, eurem Leid.

Quer durch das ausgezehrte Herz

läuft nun der kahle Boelevart

mit Postamt und V&D.

O, Enschede, Enschede.

(eigene Übersetzung)

Van Heek, Ter Kulle und Blijdenstein waren Textilfabrikanten, Krim, Bergenkamp und Sebastopol Arbeitersiedlungen in Enschede, V&D war die Abkürzung für die Kaufhauskette Vroom & Dreesman.

75 Textilfabriken produzierten hier einst, Enschede war das Zentrum der niederländischen Textilindustrie und wie im angrenzenden Münsterland hat das Verschwinden dieser Industrie Spuren hinterlassen. Manchmal sind das prächtige Fassaden und Türme, die vom Wohlstand ihrer ehemaligen Eigentümer zeugen, oft sind es Industriebrachen und Arbeitslosigkeit bzw. der Niedergang von Städten und Regionen. 85 % der Arbeiter Enschedes waren in der Textilindustrie beschäftigt! Heute erinnert nur noch wenig daran.

 

4 Gedanken zu “Enschede, Wilmink & Textilgeschichte

  1. Wilminks „Burg der Industrie“ ist heute wohl das noch vor Einfahrt weithin sichtbare Kastengebäude, an dem der angenehme Schriftzug „Grolsch“ prangt. Bekannt auch in Münster. 🙂 Ansonsten fuhr ich samt Anhang immer gerne im Dreiklang: Der Markt, die Twente, das Shoppen. our personal idees. Tja. Von Burgsteinfurt und Borghorst her besuchte man ja als auch historischer Textilstädter die Kleidungsabteilungen der Enscheder Innenstadt. Und ich habe gerade noch mal nachgeschaut: der große Verein FC Twente aus Enschede wird heute ausgestattet von: Sondico. Die auch Fußball in Portsmouth und bei Old Athletic ausstatten. Habe ich nie von gehört, vielleicht eine aufstrebende Enscheder Marke? Meine Lieblingsseite Osnaball wird es vielleicht mal aufklären. – Werde demnächst mehr auf die Mauern achten, der Text ist ja doch eher mein Ding, der Ball derzeit verloren … 😉

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  2. „Komisch, wie nah und wie fern eine Stadt einem doch sein kann.“
    Ja, das kenne ich auch: es gibt Städte, die in einer Stunde erreichbar sind, genügend Neugier besitze ich auch – und doch bin ich (noch) nicht dort gewesen.
    Enschede: hier war es auch so, dass ich immer, wenn ich die A31 in Richtung Ostfriesland (oder auch retour) befuhr, lockte es mich, doch einmal zwischendurch abzufahren und mir diese Stadt anzuschauen. Und dann habe ich es auch einmal getan.
    Ehrlich gesagt, habe ich nur die gut besuchte, nüchtern wirkende City mit einem Riesenmarkt (in Deutschland war gerade Feiertag und in NL waren die Winkels open) wahrgenommen.
    Wenn man die Gründe dafür kennt, dass historische Substanz fehlt….
    Das mit den Mauergedichten ist wirklich interessant.
    Viele Grüße!

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  3. In Enschede war ich noch nie, aber das Mauergedicht gefällt mir gut. Ich wusste nicht, dass es solche Städte in Holland gibt, wie im Gedicht so traurig besungen wird. Danke fürs Fotografieren und Übersetzen.Ist Boelevart = Boulevard im Sinne von Prachtstraße?

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