Aus den Anfangstagen des Blogs gibt es ein paar Beiträge, die keine oder kaum Leserinnen und Leser gefunden haben. Ich nehme an, dass es gute Gründe dafür gab. Aber das hindert mich nicht daran, diese Beiträge, also die Rohrkrepierer, Ladenhüter und Karteileichen, noch einmal ans Tageslicht zu zerren. Den Anfang macht
Der Name der Dose

Adolph von Menzel [Public domain oder Public domain], via Wikimedia Commons
Ein lichtloses Treppenhaus mit riesenhaften Schränken und einer endlosen Treppe, die ihren Anfang in unbekannten Tiefen haben mag und eher zufällig auch zu uns hinauf führt. Dunkles Holz und immer der Geruch von Bohnerwachs.
Eine hellere Wohnung, in der ein Mann, für meine kindliche Vorstellung uralt, dabei gewiss kaum älter als vierzig, mit seiner Haushälterin lebt: Tante Frieda, deren große, unendlich verlockende Blechdose
mit Bonbons auf dem Küchenschrank steht, weit weit oben, unerreichbar.
Immer, wenn ich an diese Dose dachte, scheiterte ich bei dem verzweifelten Versuch, mich an den Namen der Bonbons zu erinnern, der doch so groß auf der Dose stand. Unmöglich, es wollte mir einfach nicht gelingen, mein inneres Auge auf jenen Schriftzug scharf zu stellen. Wie vergeblich meine Mühen waren, weiß ich erst jetzt: Als ich die Dose dort oben stehen sah, konnte ich ja noch gar nicht lesen.
Von dem Treppenhaus träume ich noch manchmal, doch bis zu den Bonbons bin ich nie wieder gekommen.
Einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Qualität eines Textes und der Aufmerksamkeit durch die eher zufällig vorbeikommenden Internet-Leser, ist sicher falsch. Deshalb tust du gut daran, Texte wie diesen nochmal hervorzuholen. Seine wenigen Sätze beschwören in atmosphärischer Dichte ein gar zyklopenhaftes Trepenhaus herauf. Erst später wird klar, dass das Riesenhafte die kindliche Froschperspektive ist. Das Kind, das noch nicht lesen konnte, versucht, sich an einen Schriftzug zu erinnern. Das könnte gelingen, da bei Kindern die eidetischen Fähigkeiten noch ausgeprägt sind.
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Jetzt musste ich erst ‚Eidetik‘ googeln. Danke für den Hinweis, es ist wieder einmal wie so oft. Als Autor weißt du eben nicht alles über die Geschichte, die du erzählst… oder zu erzählen versuchst.
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Ich habe auch eine kindliche Erinnerung an eine Puppe die hoch oben auf einem hohen Schrank saß und ich konnte sie nicht erreichen. Ich war sehr traurig. Das war allerdings nur eine Kommode die für mich als Kleinkind so hoch erschien. Ich finde solche Erinnerungen schön und wichtig. Danke für deine Geschichte.
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Ich mag diese rätselhaften Erinnerungen, die, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, ob und woran man sich erinnert. Unverstandenes oder eben auch Unerreichbares sind da ganz wichtig, auch die Gefühle, die oft von einer Heftigkeit waren, die aus der Sicht es Erwachsenen nicht mehr nachvollziehbar ist.
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Meine Oma sagte oft, im Keller wäre der „Miek“. Ich ging deshalb nie in den Keller; erst als ich Papa mal Bier holen sollte, Mitte der Siebziger. Angst hatte ich aber, nicht vorm Bier (Warsteiner), aber vor Omas Miek … Echt! 🙂
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Schön, dass du die Erzählung noch einmal veröffentlicht hast. Ich mag die Stimmung des Treppenhauses. Manchmal reichen wenige Sätze, um ganz dicht bei dem Erzählenden zu sein.
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Es ist auch diese Stimmung, um die es mir in dem Text ging.
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Sehr schön dicht beschrieben.
Ich habe auch Kindheitserinnerungen an so ein dunkles Bohnerwachs-Treppenhaus und das dustere Dachgeschoß, in dem wir lebten. Eine für mich als Kind riesengroße, darin aufrecht hingestellte Teppichrolle flößte mir so eine Angst ein….
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Bei mir war das der Schrottkerl, eine Figur wie der böse schwarze Mann, der mir immer angedroht wurde, um mich zur Räson zu bringen. Aber das Treppenhaus reichte eigentlich schon.
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Bei uns war es der „Bullemann“, mit dem man uns Angst machte.
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Was für schreckliche Kinder müssen wir doch gewesen sein, dass es notwendig war, uns mit erfundenen Schreckensgestalten zu beeindrucken!
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„Rohrkrepierer, Ladenhüter und Karteileichen“: da bin ich bei Dir als ob Du MICH beschrieben hättest. Letztlich aber, und ich weiß das, weil ich die Dose jetzt aus Abschreibungswahrhaftigkeit aus der Küche hole, steht folgendes drauf: ECHT Sylter Brisen-Klömbjes. Immer aus meiner Apotheke im Geist-Viertel. 😉 Schmeckt seit Kindheitstagen super!
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Jetzt, nachdem du die Dose überprüft hast, bin ich – und das nun wirklich nach Jahrzehnten – endlich mal auf die Idee gekommen, die besagte Dose zu googeln. Und siehe da: Ich bin mir fast sicher, dass ich sie identifiziert habe. Villosa Hustelinchen, die große rote Vorratsdose. Der Hersteller kam aus Hagen, in Hohenlimburg bin ich geboren. Da passt schon vieles zusammen. Jetzt muss ich nur noch einen dieser Bonbons besorgen, um eine Geschmacksprobe zu nehmen. Obwohl: Ich habe keine Ahnung mehr, wie die Dinger geschmeckt haben. Es war die Dose, die mich beschäftigte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Villosa
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Villosa? Starker Name. Denke mal, die gibt´s noch! Auf der Suche nach der roten Dose …
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