Verpasst

„Vergangene Ereignisse als Tatsachen anzusehen, ist eine gesellschaftliche Konvention.“

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„Wir erreichen gleich die Endstation. Bitte alle aussteigen und denken Sie daran, Ihr Gepäck mitzunehmen.“ So oder ähnlich lauten die Durchsagen in den Zügen und daran musste ich denken, als meine Tochter mich heute für eine Hausaufgabe interviewte. Interviewte ist ein zu großes Wort dafür, sie stellte mir einfach ein paar Fragen. Zu meinem Lebenslauf.

Vorher hatten wir über ihre Großeltern gesprochen. Geburtstage, Todestage, Berufe. Ob die Großväter im Krieg gewesen waren. Ja, das waren sie, in Russland, in Holland. Mein Schwiegervater war mit gerade einmal 17 Jahren von einem fanatischen Unteroffizier eine gute Woche vor der Kapitulation in einen völlig sinnlosen Einsatz geschickt worden und kehrte Jahre später als Kriegsblinder heim.

Geschichten sind das, von einer Kindheit auf dem Lande, einem Leben in Ostpreußen, im Sudetenland,  in der Grafschaft Bentheim, von Armut und Krankheit, von ersten Autos und Kosaken, von Panzern und Flüchtlingstrecks. Geschichten aus einer fernen Zeit, so fern, dass, wie eine Tante sagte, sie sich selber manchmal frage, ob sie das alles wirklich erlebt hat.

Ich erzähle meiner Tochter die Stationen meines Lebens – und es ist für sie, das merke ich, während ich es erzähle, genauso fern, genauso fremd, wie das ihrer Großeltern. Zeiten ohne Telefon. Gut, das gab es schon, aber nicht bei uns. Zeiten ohne Computer und ohne Handy. Ohne RTL.

Dabei war das doch meine Zeit. Die sechziger, die siebziger Jahre. Meinetwegen auch noch die achtziger. Aber die sind doch noch fast Gegenwart.

Pustekuchen. Ein vergangenes Jahrhundert, eine untergegangene Zeit. Geschichte. Willy Brandt. Die DDR. Die Beatles. Meine langen Haare.

Wie bei ihrem Opa, der vom Krieg erzählte. Nein, das weiß sie nicht mehr. Diese Uhr, die man aufklappen konnte, um die Zeiger zu ertasten und so die Zeit ablesen zu können, vielleicht erinnert sie sich daran. Zeit. Meine ältere Tochter fragte die schon zitierte Tante, ja, vor auch schon wieder beinah einem Vierteljahrhundert, als wir uns eine Opferstätte ansahen, die vielleicht von Steinzeitmenschen genutzt wurde, ob sie denn damals auch dabei gewesen sei. Vergangenheit, alles eine Soße. Vorbei eben.

Dann, nachdem mein Lebenslauf, meine Hobbys, Lieblingsmusiker und Schriftsteller abgearbeitet waren, fragte sie mich, was mir denn sonst noch wichtig sei. Jetzt, Stunden später, denke ich an Stefan Zweig, an die Sternstunden der Menschheit, die Situation, die Minute, in der ein Mensch die Chance hat, dem Schicksal ins Steuer zu greifen, das Los der Menschheit zu ändern oder wenigstens eine Katastrophe zu verursachen.

Aber nein. Meine Tochter fragt mich nach meiner Botschaft an die Nachwelt, dem Sinn und Ziel meiner Existenz. Und was sage ich? 64 Jahre sind durch und ich habe meinem Kind und der Welt nichts anders zu sagen als „Wir erreichen gleich die Endstation. Bitte alle aussteigen und denken Sie daran, Ihr Gepäck mitzunehmen.“

37 Gedanken zu “Verpasst

  1. Beeindruckend und berührend geschrieben…

    Wenn unterschiedliche Generationen verbal aufeinander treffen, dann gibt’s immer wieder verblüffend geheimnisvolle Momente der Wahrheit…

    Liebe Morgengrüße vom Lu

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  2. Meine Tochter kann sich auch vieles, vorallem was vor ihrer Geburt war nicht vorstellen und das Interesse daran ist eher oberflächlich. Spuren von uns bleiben, wir haben doch einiges erkämpft, aber nun ist es Zeit für die nächste Generation und die haben eigene Botschaften. Unsere Errungenschaften werden als selbstverständlich angesehen, ein Denkmal wird uns niemand dafür setzen. Ich lege auch keinen Wert darauf.

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    • Es gibt eben immer nur die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sind ziemlich unsichere Gebiete. Aber mit unserem Wissen und unseren Erfahrungen können wir, hoffe ich zumindest, unseren Kindern eine Art Navi zur Verfügung stellen. Welche Ziele sie dann einstellen, wohin sie dann wollen, dass ist ihre Sache.

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      • Wir als Navi, das funktioniert aber nur bis zu einem gewissen Alter, war doch bei uns auch so, oder 😉
        Ich zumindest wollte alles ganz, ganz anders machen als meine Eltern. Aber einige Grundsätze sind hängengeblieben, das ist klar.

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  3. Weil die Gegenwart so gewaltig ist, scheint die Vergangenheit immer unwichtiger zu werden. Doch wir stehen alle auf den Schultern unserer Vorfahren, und jeder einzelne hat uns etwas für uns Unwägbares hinterlassen. Zu erkennen ist es noch zwischen Eltern und Kindern. Denen den notwendigen Halt zu bieten und nicht zu wanken, ist doch schon mal ein gutes und wichtiges Lebensziel. Einiges von dem, was du geschrieben hast, ist eine Botschaft an die Nachwelt, aber es ist wie eine Flaschenpost, von der man nicht weiß, ob sie mal jemand aus dem Wasser fischt. Letztlich ist aber die Schrift generationenübergreifend, und was geschrieben ist, wirkt schon heute mal hier, mal da. Das ist immerhin etwas.

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  4. Da oben steht sehr viel und ich beneide deine Töchter, dass sie irgendwann in dem literarischen Fundus ihres Vaters stöbern können und manches entdecken, was sie vielleicht im Gespräch überhört oder für nicht allzu wichtig gehalten haben.
    Ein beindruckender Text.

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  5. Lieber Manfred, wie alt ist deine Tochter und welche Schule ist das, in denen Lehrer solche Hausaufgaben aufgeben? Botschaften an die Nachwelt? Soll sich deine Tochter jetzt schon mit deinem Ableben konfrontieren oder habe ich da etwas missverstanden? Text, der zum Nachdenken über Vieles anregt. Liebe Grüße aus Wien

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    • Lieber Helmut, meine Jüngste, um die es hier geht, ist 21 und studiert Soziale Arbeit an einer Fachhochschule. Ich weiß nicht, ob ihr in Österreich ein vergleichbares Bildungssystem habt. Sie hat sich für ein Seminar entschieden, in dem es eine kreative Aufgabe gab. Ihre Idee war es, ein ABC-Heft zu gestalten, ein Heft, in dem sie zu jedem Buchstaben Text oder Bilder findet. Bei P war Papa dran. Die Richtung, die unser Gespräch nahm, habe in meinem Text etwas übertrieben, aber es sind Gedanken, die mich nachher beschäftigten.
      Viele Grüße aus einem grauen und nassen Warendorf
      Manfred

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      • „Bei P war Papa dran.“ Herrlich! Ich zum Bleistift habe zehn Jahre lang wegen Diskussionserfahrungen gedacht, mein Sohn würde Philosophie studieren, ganz nach dem Papa, aber Pah: Biomedizintechnik macht er, der olle Sack! 🙂

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  6. Danke für die Aufklärung. Hatte angenommen, dass du spät Vater geworden bist und deine Tochter aus der Grundschule kommt und dir diese Fragen stellt.Tolle Idee deiner Tochter, ein ABC Heft zu führen. Da ist sie ja mit P schon weit vorgedrungen. Dabei ist das Jahr erst 9 Tage alt.
    Liebe Grüße
    Helmut

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  7. Ich finde es gut, wenn die Jüngeren die Älteren fragen (wenn sie sich dafür interessieren). Inzwischen bereue ich es, die Generation vor mir, von der nun keiner mehr lebt, nicht mehr gefragt und das aufgeschrieben zu haben. Das sind Zeitzeugnisse, die man in ein Größeres einordnen kann.

    Es ist schon alleine erstaunlich, wie rasant sich die Zeiten verändert haben, in jeglicher Hinsicht.

    ‚Botschaft‘ an die Nachwelt allerdings, das ist mir ein paar Nummern zu groß 😉
    LG, Ingrid

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    • Ja, da hast du natürlich Recht. Es wäre auch völlig vermessen, eine solche Botschaft zu formulieren bzw. zu glauben, dass es eine Nachwelt gibt, die sich auch nur eine Sekunde für diese Botschaft interessieren würde. Vermutlich würde jeder Versuch, eine solche Botschaft zu formulieren, pathetisch und zugleich banal ausfallen. Was könnte man denn sagen, außer ‚Vertragt euch, seid friedlich und fair… übt immer Treu und Redlichkeit, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr…. Ha! Dann hätte ich doch noch eine Botschaft, mit der die Nachwelt etwas anfangen könnte: Der Schatz liegt auf der Insel XXX, dreihundert Meter landeinwärts, drei Schritte links von der Palme.

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    • Je älter man wird, desto weniger Menschen gibt es, die Lust und Zeit haben, sich die langen und länger werdenden Geschichten anzuhören, die unsereiner zu erzählen hat. Da ist es doch schön, wenn das eigene Kind eine schulische Aufgabe so für sich interpretiert, dass man sich und anderen erzählen kann – oder darüber nachdenken muss, was man gern erzählen möchte. Viele Grüße zurück, Manfred

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  8. Lieber Manfred!

    Wärst du mein Vater oder mein Großvater, hätte ich es gerne, wenn du mir von deinem Leben und Stationen deines Lebens erzählst. So gerne hätte ih von meinem Großvater und vor allem von meiner Großmutter erfahren, wie sie ihr Leben gelebt hat in und nach den Wirren des zweiten Weltkriegs. Wennes wenigstens Briefe, Notizen oder Tagebücher gäbe. Nichts! Beide sind schon gestorben, ich kann sie nimmer fragen.

    Allerdings lebt meine Mutter noch und ich bin voller Frage und Staunen, wie sie sie durch die Zeit gebracht hat. Voriges Jahr habe ich angefangen, ihr so manche Fragen aus dem wunderbaren Buch von Elma van Vliet „Mama erzähl mal: Das Erinnerungsalbum deines Lebens“ zu stellen. Die Fragen sehe ich als Anstoß, um miteinander tiefer ins Gespräch zu kommen über die Mutter (Eltern) selbst und ihre Erlebnisse.

    Mein Bedauern darüber, dass ich meine Großeltern nimmer fragen kann, war mir Anlass genug, selbst ein Tagebuch zu beginnen für meinen Enkel. Wenn er erwachsen, vielleicht selbst Vater geworden, wird er eines Tages das Buch in seinen Händen halten. – Wenn es ihn interessiert.

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    • Meinen Schwiegervater haben wir regelrecht interviewt. Mit einem Diktiergerät und ganz viel Zeit haben wir uns einige Abende von seiner Kindheit bis in die Nachkriegsjahre durchgefragt. So kamen wir auch zu den Geschichten, die er nicht immer erzählte, eine wahre Fundgrube tat sich da auf! Meine Mutter hat die Geschichte ihrer Flucht aus Ostpreußen aufgeschrieben, damals, ganz zeitnah. Das ist ein Dokument, das ein gerade für meine Töchter fast unvorstellbares Geschehen sehr konkret macht. Es lohnt sich bestimmt, die eigene Geschichte zu dokumentierten, einfach, damit jemand später die Möglichkeit hat, sich damit zu beschäftigen. Wie du schon sagst, wenn es ihn interessiert.

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      • Das würde mich auch interessieren zu lesen, was da in deiner Familie da als „Schatz“ da ist. Mich interessieren ja vor allem die „kleinen Dinge des Lebens“, wie wurde Brot gebacken, welche Art von Kaffee wurde zubereitet, wer trug überhaupt schon Schuhe, wo schlief man und woraus wurden die Matratzen und Betten gemacht, woher bezog man die Kleidung oder wie wurde sie angefertigt, wie erfuhr man vom politischen Geschehen, wie wurde gekocht, Lieblingsspeisen, gab es ein Buch, wie feierte man Weihnachten, was war das Geschenk, an das man sich am längsten erinnerte, welche Heilpflanzen und Kräuter wurden gesammelt und verwendet, welche Bilder von Liebe und Sexualität herrschten vor, … usw.

        Die Flucht deiner Mutter aus Ostpreussen … wirft ein Licht auf das Thema Flucht, wie wir es jetzt so deutlich sehen mit der Flucht nach Europa.

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  9. Wieder einmal ein toller Text. Und ja, Deine Tochter fragt immerhin noch, auch wenn es „nur“ aufgrund einer Aufgabe ist. Viele machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu frage, und wenn doch, dann direkt bei Wikipedia…

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