Ein Mensch fällt aus Deutschland

Die Wut, die wir so nicht kannten, der Hass,  das Gefühl vieler, dass es so nicht weitergehen könne, weil nichts mehr wahr ist, man niemandem mehr trauen kann, dass es einen Wandel bräuchte, einen kleinen Hitler vielleicht, einen Krieg, möglicherweise, die Brandbeschleuniger, die in vielen Ländern an der Macht sind oder nach der Macht greifen: Wir stecken bis zum Hals mitten in diesem Schlamassel und manchmal, so scheint es mir, schlagen die Wellen auch schon über uns zusammen.

Einen Schritt zurück, etwas Abstand einnehmen und mal in eine andere Richtung gucken, ein Buch lesen, statt der breaking news, statt der push-Nachrichten auf dem Handy. Ein altes Buch, eins aus dem Jahr 1936. Konrad Merz, der eigentlich Kurt Lehmann hieß, hatte bis zur Machtergreifung, die in Wahrheit ja durch nichts anders als eine demokratische Wahl zustande gekommen war, ein gewöhnliches Leben in Berlin geführt.  1933 emigrierte in die Niederlande, nachdem er seiner jüdischen Herkunft wegen sein Studium hatte abbrechen müssen. Sein Roman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ gilt als der erste Exilroman, jedenfalls der erste in der Folge der Flucht aus Nazideutschland entstand. Das Exil, die Erfahrung der Fremde, des völlig auf sich gestellt seins, der Ratlosigkeit und permanenten Unsicherheit, der Angst vor dem, was kommt, vor dem was wird, sie spricht aus diesem Buch und ist auch heute noch zu fühlen.

„Saat unterm Schnee. Und sie wird aufgehen in jenem Sommer. Dafür bluten wir. Für jenen Sommer. Den wir vielleicht nie erleben werden.“

Dabei schreibt da jemand mit Humor, mit so viel Humor, wie ihm eben noch bleibt, mit einem literarischen Anspruch und mit einer Hellsichtigkeit, was die Zukunft Deutschlands betrifft, die mich immer wieder betroffen machte. Dem Roman ist ein kleiner, früher entstandener Text beigefügt, ‚Aus dem Tagebuch eines Berliner Studenten‘ und wer diesen Text liest, der kann nicht mehr glauben, dass irgendwer nicht wusste, was in Deutschland passierte, nicht ahnte, was da noch kommen würde.

Konrad Merz hat das Exil überlebt, obwohl die Niederlande von Deutschland überfallen und besetzt wurden. Er fand Menschen, die ihm halfen, die ihn versteckten und dabei ihr Leben riskierten.

Konrad Merz hat gleich zwei Botschaften für uns, zwei jedenfalls, die ich festhalten möchte: Nicht wegschauen und schweigen, wenn da jemand in unserem Namen zu handeln vorgibt. Aber auch dies: Wer seine Heimat verlassen muss, verliert mehr als Arbeit, Wohnung und Freunde, er verliert den Boden unter den Füßen, alle Gewissheiten und Perspektiven. Das darf uns nicht gleichgültig sein.

12 Gedanken zu “Ein Mensch fällt aus Deutschland

  1. In der Nähe meines Dorfes gab es eine Außenstelle vom KZ Neuengamme, mit dem wunderschönen Namen „Engelsburg/Schwesing“. Überwiegend niederländische Juden aus Putten/NL und Dänemark haben hier gelitten, sind hier gestorben, wurden ermordet und weggeschmissen. Die Alten haben es gesehen, auch wenn sie nie etwas geahnt haben (wollen). Die Gleichgültigkeit der Ohnemichels darf nie die Oberhand gewinnen.

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  2. Das sind sehr wichtige Botschaften. Ich kenne das Buch nicht, aber traf einen Menschen der ähnliches erlebte und in Frankreich überlebte. Trotz allem Unterricht in den Schulen scheinen diese Botschaften aber heute immer noch sehr, sehr wichtig zu sein. Ich werde niemals schweigen.

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  3. Habe noch mal beim Amsterdamer Querido-Verlag gestöbert, wo Merz´ Exilroman ja zuerst erschienen ist: illustre Mitautoren, auch Thomas Mann, dessen kalifornische Villa jetzt gerade vor dem Verschwinden für sinnfreie Neubauten gerettet wurde. Ich kannte Konrad Merz nicht, aber der Hinweis auf das dem Roman beigefügte Tagebuch und das Zitat der ‚Saat unterm Schnee‘ erinnert mich an Victor Klemperer, der an der Entmenschlichung der Sprache die Zeit erkannte. Und ein bisserl scheint´s mir auch heute so, daß Sprache nicht nur im Rap und mit der SMS-Erfindung mit neu-altem Ungeist getreten wird.

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    • Es ist natürlich der Querido-Verlag, der mich auf die Spur von Konrad Merz gebracht hat. Wir haben als Gesellschaft viel zu wenig aus den Exilerfahrungen gelernt – und viel zu wenig aus den Gründen, die zum Exil führten. Und alles fängt immer mit der Verrohung des Denkens und Sprechens an.

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    • Mein Professor Philippe Charru pflegte uns folgende Argumentationskette vorzulegen:
      Kultur hängt ab von der Fähigkeit zu unterscheiden (zB. Bach von Mozart)*
      Die Fähigkeit zu unterscheiden hängt ab von der Fähigkeit wahrzunehmen.
      Die Fähigkeit wahrzunehmen hängt ab von der Fähigkeit zu sprechen.
      Oder kurz: Unsere Sprache bestimmt unsere Kultur!… was für Aussichten !?!

      *Perfekt vor Augen geführt von Steven Spielberg in „Schindlers Liste“:
      https://www.youtube.com/watch?v=5yR0wlrq_h4 (ab 1:40)

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  4. Danke für Deinen Text Manfred.

    Ich habe Mühe nachzuvollziehen, dass die lauten rechten Stimmen von heute, die Enkel der Nazis sind.
    Ich bin davon ausgegangen, dass viel viel mehr Generationen nötig wären, bevor es denkbar werden könnte, dass ähnliche Menschen verachtende Gedanken wieder aufkommen.

    Ist das vielleicht doch vererbbar?

    Ich habe heute von einer Studie aus Israel gehört, (bisher nicht selbst gelesen) indem es heiße, dass rassistische Haltungen, Überzeugungen und Gedanken auf die Enkel und Enkelskinder vererbbar seien.

    Diese Vorstellung ist furchterregend. Ich hoffe, die Studie irrt sich.

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    • Ich hoffe sehr, dass es da keine Vererbung gibt, aber ich befürchte, dass es immer Menschen geben wird, die für solche Ideen empfänglich sind und, was vielleicht noch schlimmer ist, es immer Politiker geben wird, die mit genau diesen Themen Stimmung machen, um Macht für sich zu gewinnen.

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      • Wer mit Klischees nicht spielt, gehört eigentlich schon zum brutalen Lager. Es gibt viele Studien zu Vorurteil, Rassismus und Antisemitismus. Von Vererbbarkeit habe ich nie gelesen, aber davon, daß solche antihumanen Dinge sich gerne in materiell oder geistig untengehaltenen Milieus fortsetzen. Gut leben können und sich bilden können sind wohl erste Bedingungen, daß es einmal besser wird.

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  5. Es ist erschreckend, beklemmend und nicht nachvollziehbar, dass nach wenigen Jahrzehnten das Vergessen schon so um sich gegriffen hat. Parolen ähneln sich und der Hass ist unheimlich präsent.
    Gerade die politische Stimmungsmache ist, wie du weiter oben schreibst, schlimm.
    Deswegen braucht es solche Texte, die die Erinnerung hervorrufen und auch die Lektüre von Büchern, die uns einen Blick zurück werfen lassen.
    Lange ist es noch nicht her.

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