Fußweg zum Rock’n Roll

lc3a4den-alltagskulturJules van der Ley hat dieses Erzählprojekt angeregt und damit wohl einen Nerv getroffen. Wer, so fragte sich Jules, liest das eigentlich noch? Geht es um das Lesen oder ist das Schreiben schon genug? Doch, vielleicht ist es das, gerade bei diesem Projekt, bei dem wir immer tiefer graben und Dinge hervorholen, die vergessen schienen. Genügt es nicht, mit einer Taschenlampe im eigenen Keller unterwegs zu sein? Nein! Mir jedenfalls geht es so, dass die vielen verschiedenen Beiträge mein Bilder vervollständigen, mich anregen, noch einmal tiefer zu graben, an einer anderen Stelle zu suchen, so dass ich schließlich etwas staubig aber glücklich wieder auftauche.

Fußweg zum Rock’n Roll

Gerade will ich anfangen, da stolpere ich über den Namen des Schreibprojektes. Die Läden meiner Kindheit… Kindheit, gut, Jules wird mir verzeihen, wenn ich mit einem erweiterten Kindheitsbegriff hantiere, die Frage ist nur, ob ich mir das gestatten kann. Die Lebensphase bis zum vierzehnten Lebensjahr wird regelmäßig als Kindheit bezeichnet, die Pubertät schließt sich an. Kindheit als soziale Konstruktion bezeichnet aber auch die Freiheit von beruflicher Arbeit, damit kann ich leben.

Ich war dreizehn oder vierzehn, als ich den Plattenladen entdeckte – und ich wäre ziemlich sauer gewesen, wenn  man mich als Kind bezeichnet hätte. Mitte der sechziger Jahre. Schlaghose, breiter Ledergürtel, knallrotes Hemd. Immer unrasiert, weil ich mich noch nicht rasierte. Kinder? Das waren die Kurzen, ich interessierte mich für Musik, für Beat und hatte die ersten Fotos aus der Bravo oder vergleichbaren Publikationen ausgeschnitten und an die Wand über meiner Schlafcouch gehängt. Ein Plattenspieler stand auf dem Bettkasten, in dem über Tag das Bettzeug verschwand. Ein paar Platten hatten sich auch schon angesammelt, Schlager. Kannte ich aus der Plattensammlung meines Onkels.

Aber dann waren da die Beatles – und ich wollte die Kontrolle über meinen Musikkonsum übernehmen. Ein Akt jugendlicher Rebellion. In unserem Vorort gab es alles, was man brauchte, aber nichts, was ich ersehnte. Also ab in die Stadt. Hagen war damals eine florierende Industriestadt und noch nicht die Heimat der deutschen Popmusik. Nena ging vermutlich noch in den Kindergarten. Komm nach Hagen, werde Popstar, mach dein Glück!, sangen Extrabreit erst viel später.

Mein Glück war ein kleiner Plattenladen, den ich nach einem Fußmarsch von dreißig oder vierzig Minuten erreichte, die Straßenbahn schenkte ich mir, das Geld hätte mir beim Kauf einer Schallplatte gefehlt. Einmal, an einem Wochenende, kam ich dabei an einem Hotel vorbei, in dem eine Band spielte. Nachmittags. Junge Leute standen draußen, rauchten, hatten lange Haare, also das, was man damals für lange Haare hielt. Gammler, möglicherweise. Irgendwie gefährlich, irgendwie faszinierend. Und Mädchen!

Die Innenstadt fing gerade mal an, dann kam auch schon mein Laden. Ich brauchte, traute mich wohl auch nicht, weiter in die große Stadt, und versäumte so sicher auch die besser sortierten Läden. Aber ich hatte ja alles, was ich wollte. Ein kleines Geschäft, auf Radio- und Fernsehgeräte spezialisiert. Mit einem Kasten, in dem die Singles standen. 4,75 DM pro Stück. Langspielplatten 18 Mark. Meistens war ich der einzige Kunde in dem dunklen Laden, blätterte ein Weilchen durch das sehr überschaubare Angebot und genoss die Möglichkeit, etwas auszuwählen und mitzunehmen. Es gab sogar die Möglichkeit, sich eine Platte anzuhören.

Neben der Kasse befand sich ein in dunklem Braun gehaltener Holztresen mit einem Plattenspieler und zwei blässlichen Bakelit-Hörern, nicht Kopfhörern, wie wir sie später kennenlernten, sondern Teilen, die mehr an eine Handbrause erinnerten, an einen Telefonhörer, ja, genau, an einen dieser schweren schwarzen Telefonhörer dieser Jahre. Nie habe ich davon Gebrauch gemacht. Ich habe meine Schallplatte ausgesucht, brav bezahlt und zuhause abgespielt, obwohl ich den Titel auf der A-Seite ohnehin schon auswendig kannte und die B-Seite meist nur die Funktion hatte, die Rückseite nicht einfach leer zu lassen. Mr. Tambourine Man von den Byrds war übrigens meine erste Single. Und ich müsste nachschauen gehen, um zu wissen, was auf der Rückseite war.

21 Gedanken zu “Fußweg zum Rock’n Roll

  1. Pingback: Die Läden meiner Kindheit – Neue Beiträge

  2. Herrlich! So schließt sich Mal wieder ein Kreis. Von hier zu Jules, kopfüber ins Projekt getaucht und jetzt bei Dir wieder Luft geholt. In dem Alter habe ich Plattenläden auch geliebt. Und einmal auf dem Weg dorthin, mitten auf der Zeil wurde ich mit einer Bhagwan-Platte beschenkt. Sie sah schon spannend aus und ich war auch immer auf der Suche nach neuer Musik. Das geschockte Gesicht meiner Mutter, als ich mit der Platte unter dem Arm nach Hause kam, vergesse ich sicher nicht.😉 Meine erste Platte, war von Bob Marley, wenn ich es richtig erinnere und die Kopfhörer im Plattenladen stülpten sich schon über beide Ohren.

    Danke Euch für diese anhaltende Freude an diesem Projekt.

    Liebe Grüße
    San

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  3. Du hast Recht, die Fülle der Erinnerungen in anderen Beiträgen, hilft auch der eigenen auf die Sprünge. So hat mich dein heutiger Eintrag an den Friseur erinnert, der mir immer einen „Cäsarschnitt“ verpasste, der, wenn er länger geworden war, glatt als sogenannte Beatles-Frisur durchging. An die von dir beschriebenen Ohrhörer im Plattenladen erinnere ich mich auch noch, aber ich war mit 14 noch nicht cool genug, mir einfach Platten vorspielen zu lassen. Was ist denn nun die B-Seite von Mr. Tambourine Man? B-Seiten fand ich immer faszinierend, weil man sie im Radion fast nie zu hören bekam wie das phantastische „2000 Light Years from Home“ auf der B-Seite von „We Love You“ von den Rolling Stones.

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  4. Auch mein erster Laden war wohl musikalisch. Jedenfalls nahm ich als busfahrender junger Schüler meistens nicht die nächstgelegene Haltestelle, sondern schlenderte zum Neumarkttunnel zu Osnabrück, wo unten in der Ladenzeile auch JPC sein Wesen trieb. Gekauft habe ich jahrzehntelang nur Langspielplatten, so daß die B-Seiten schon wichtig waren; und irgendwann hing ein selbstgemalter/abgepauster Zappa über meinem Schreibtisch. 😉 Auf der Busfahrt, meistens vom Berliner Platz dann, immer Palaver mit den Älteren meines Dorfes, die natürlich alle Platten schon kannten, sogar die von Velvet Underground, auf die ich mächtig stolz war. – Im JPC gab es auch die „Musikduschköpfe“, in Frankfurt gut fünfzehn Jahre später nicht mehr in dem Laden, der unten in meinem Haus einzog: drei Treppen runter in eine beste Second-Hand-Sortierung. Himmel! Die Musical-Box zählt heute zu den Top-Vinyl-Adressen der Bembelmetropole. Und Hagen? Gerne: Aber nur in die Läden der beiden einschlägigen Museen. 😉

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    • Langspielplatten waren Stufe zwei, da habe ich wohl die Entwicklung der Popmusik nachvollzogen, weg vom Hit hin zum Konzeptalbum. Sgt. Pepper war wohl der Wendepunkt bei mir, kostete auch nicht mehr 18 Mark, sondern für mich sehr überraschende 21 Mark. Hagen… ja, es gibt bis auf Schumacher und das Karl-Ernst-Osthaus Museum nicht so viele Punkte, die man da anlaufen muss. Obwohl: Ich habe lange nicht mehr außerhalb der Innenstadt nachgeschaut, muss vielleicht mal in die Gegenden, in denen ich meine Kindheit verbracht habe. Halden, Hohenlimburg, Hagen-Eppenhausen.

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      • Heute natürlich die Museen (Emil first!), aber in Haspe waren wir vor wenigen Jahren mal auf einem Weihnachtsmarkt in der Gesamtschule, wo u.a. Tuch verkauft wurde, Halstücher, Unikate, sagenhaft schön. War ein Tip, hätten wir sonst nie gefunden. – Klar bliebt Hagen eine musikalische Hauptstadt! Damals wußte ich gar nicht, wo der schwarze Teller so produziert wurde …

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  5. Auch das, ein schöner Ausflug. Diesmal in Läden, die ich so nicht mehr kenne, während mir andere trotz der Jahre dazwischen bekannt vorkamen.
    Auch wenn Platten sicher mehr Seele haben….ich bin wenigstens noch Expertin im bereinigen von Bandsalat 😉

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  6. Die Bakelithörer mit ihren grottigen Sound. Und dann die Bedienerschaft, die immer nach einer halben Minute kam und brutal die Nadel in die nächste freie Rille drückten, weil alles sollte man sich ja nicht anhören. …

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    • Was ich nicht im Regal stehen habe, kann mir nicht viele Jahre später als Quelle für Erinnerungen dienen. Ich kann mir mit der Musik und den Covern mancher Platten die sechziger oder siebziger Jahre holen und weiß oft noch, wann oder warum ich eine Platte gekauft habe.

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  7. Pingback: Buchdruckerei Eupen

  8. Rein altersmäßig ist es eigentlich nicht möglich, daß ich mich an diese Nicht-Kopfhörer erinnere – und doch habe ich sie vor Augen und sogar das Gefühl des ans Ohr gedrückten „Duschkopfes“ ist präsent. Spinne ich oder gab es irgendwo in Bonn oder Siegburg einen unfaßbar altmodischen laden? Ich weiß es nicht!
    Aber ich weiß, daß es irgendwann im Plattenladen kleine Kabinen gab. Man gab die Platte ab, bekam eine Kabinennummer zugeteilt, der Mensch in der Mitte zwischen all den Kabinen hat dann von innen irgendwann die Platte vorsichtig aufgelegt, und unsereins saß (nein, STAND) in der Kabine und lauschte….. das Prinzip gab es sogar noch Ende der 80er in Flensburg mit CDs: abgeben, von der Innenseite eingelegt bekommen, am Stand (ohne Kabine) mit den Kopfhörern konnte man sich mit 2 Knöpfen „vor“, „zurück“, durch die Tiel hören.

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    • Diese Kabinen kenne ich nicht, eine lustige Idee! Inzwischen ist die CD ja schon wieder fast vom Markt verschwunden und meine Töchter können sich bestimmt nicht vorstellen, in einem Laden eine Hörprobe zu nehmen.

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      • Stimms sie allerdings nie erleben werden – und da fehlt ihnen was, definitiv! – ist das aufnehmen einer gut zusammengestellten Kassette – und das gewschenktbekommen einer solchen. Mitsamt liebevoll gestaltetem Einleger für die Hülle, natürlich, und ganz vielleicht sogar mit einr aufgesprochenen Anmoderation oÄ. HACH! Musik ist jetzt sowas inflationäres, kurzlebiges geworden, finde ich.

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      • Ja! Mit Freunden habe ich vor vielen Jahren sogar Kassettenpost ausgetauscht, genau so, mit Einleger, mit Moderation und sorgfältig ausgewählter Musik. So eine Kassette konnte auch schon mal statt eines Liebesbriefs verschenkt werden.

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