Osterbrink und das Abkratzen in Telgte

Immer wenn es spannend wurde, übernahmen die Kollegen aus Münster. Im Umkehrschluss bedeutete das wohl, dass es wieder mal um Killefitt ging. Kommissar Osterbrink trank den letzten Schluck Kaffee aus dem Pappbecher und stieg in Telgte aus dem Zug der Eurobahn. Nicht mal einen Dienstwagen hatte er bekommen, der Fall schien in seiner Dringlichkeit noch hinter der mutwilligen Verschmutzung der öffentlichen Toiletten am Marktplatz zu rangieren.

Die zwanzigminütige Bahnfahrt hätte natürlich gereicht, um sich mit den Details vertraut zu machen. Immerhin hatte Osterbrink die Mappe mit den Unterlagen in seiner Aktentasche. Ausgerechnet diesmal bekam er aber einen Sitzplatz mit Kopfhöreranschluss. Er hatte sich durch alle Sender geschaltet und war schließlich bei einer Reportage

hängen geblieben. „Faust, gefolgt von Sommernachtstraum und Kabale und Liebe.“ hatte der Berichterstatter gesagt und Osterbrink hatte einen Moment lang geglaubt, dass es um ein Pferderennen ging. Es war aber nur um die Aufführungshäufigkeit von Bühnenstücken in Deutschland gegangen und bevor er abschalten konnte, war er auch schon eingenickt.

Glücklicherweise hatte ihn die Meute der in Telgte einsteigenden Schüler aus dem Schlaf gerissen, so dass er jetzt, wenn auch unvorbereitet, so doch zumindest pünktlich den Tatort hätte erreichen können. Für einen Abstecher zum Friseur reichte es leider nicht mehr, obwohl die beiden Strähnen wieder einmal gestutzt werden müssten, die er sich über den fast kahlen Schädel zu kämmen pflegte. Andrerseits war es fast schon Mittag, weshalb er eine kleine Pause einlegte und in einer Kneipe ein Mettbrötchen und ein kleines Helles orderte. Eine Tageszeitung und die Thekengespräche, mehr brauchte es nicht, um Osterbrink auf die Höhe der Ereignisse zu bringen.

Totentanz: ganz Telgte schien über nichts anderes zu reden, an nichts anderes zu denken. Kurzfristig dachte Osterbrink an eine makabere Variante der schwarzen Messen, eine Art Disco für Nekrophile. Dann kapierte er, dass es um eine Zeichnung am Heimathaus ging, wüst, nackt und anstößig. Und das soll ich jetzt beurteilen? Na schönen Dank, liebe Kollegen, dachte Osterbrink. Er sah die wütende Meute schon vor sich, auf dem Weg zum Heimathaus: Mistgabeln, Bügeleisen und Notebooks drohend erhoben. Und er allein, mit der Pistole in der Hand, die Freiheit der Kunst verteidigend. Unterwegs war ihm ein Plakat aufgefallen, daran erinnerte er sich jetzt: Aufkreuzen in Telgte. War das etwa ein Aufruf zur Selbstjustiz? Mit einigem Unbehagen erkannt er, dass er auf einem Pulverfass saß, das mitten in einem Wespennest stand. Ließe er die Bürger gewähren, gäbe es ein mächtiges Presseecho. Stellte er sich aber dem Mob in den Weg… er mochte gar nicht daran denken. Gut, die Entscheidung war also schon gefallen.

In Gedanken versunken blieb Osterbrink bei einer kleinen Menschenansammlung stehen. „Schweinerei!“ hörte er und „Das soll Kunst sein?“ Während er noch darauf gehofft hatte, vom Feierabend überrascht zu werden, hatte ihn sein Weg zum Heimathaus geführt. Er blickte zu der Wand hinüber, der die Aufmerksamkeit der Menge galt. Da machte sich doch einer an einem, nein, an dem Bild zu schaffen! Der Ordnungshüter in Osterbrink gewann die Oberhand – zumal die Gruppe der Anwesenden klein war und unbewaffnet schien. Er eilte zu dem Mann, der das Bild von der Wand zu wischen versuchte und nahm ihn fest. Unter dem Gejohle der Menge, das Osterbrink überhaupt nicht einzuordnen wusste, machte er sich mit seinem Gefangenen auf den Weg zurück in die Kreisstadt.

In der Eurobahn erklärte ihm der junge Mann, dass er der Urheber des Bildes sei, das er gerade auf Anweisung des Museumsdirektors von der Wand hatte entfernen wollen.

Kleine Ergänzung: In Telgte fand tatsächlich eine Veranstaltung statt, die ‚Aufkreuzen in Telgte‘ hieß. Kunst fand auch im öffentlichen Raum statt, das Echo war gemischt, wie nicht anders zu erwarten und wohl auch nicht anders gewünscht. Mein Kommissar Osterbrink ermittelte in Telgte das erste Mal, hat aber inzwischen einige weitere Fälle… nein, gelöst sage ich wohl besser nicht.

2 Gedanken zu “Osterbrink und das Abkratzen in Telgte

  1. Schöne Geschichte, lieber Herr Voita,
    aber als ich den Titel las, habe ich mich zunächst sehr erschrocken!
    Ich habe nämlich in Telgte sehr alte (und z.T. schon „kränkliche“) Verwandte. Da schrecken solche Meldungen erst einmal auf! 😉
    Aber nun hat sich glücklicherweise alles geklärt. Nicht nur durch das Lesen Ihrer Geschichte, sondern auch, dass es sich in meinem Fall um den Ort Tegte bei Peine handelt. 😉
    Gruß Heinrich

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    • Danke! Dass es ein Telgte in der Nähe von Peine gibt, war mir bisher neu. Unser Telgte ist das aus dem ‚Treffen in Telgte‘ von Günter Grass. Ein hübscher, friedlicher Ort, der sich durch provokante Kunst schnell aus dem seelischen Gleichgewicht bringen lässt. Abkratzen wäre auch nicht meine Wortwahl, aber bei einer Veranstaltung, die ‚Aufkreuzen‘ hieß, kann man doch nicht anders, oder?

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