Der Griff zur Zigarette

Nichtraucher! In den 50er-60er Jahren galt das fast als Beleidigung. Die Schlote rauchten und Erhards Zigarren symbolisierten den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Landes. Rauchen war dufte. Cool, würden heutzutage meine Töchter sagen und ich hatte es noch nicht einmal probiert, konnte nicht mitreden – dabei war ich schon elf. Mein Entschluss stand fest: Wenigstens eine Zigarette würde ich rauchen! Zugegeben, ich sah diesem Initiationsritus mit einem flauen Gefühl in der Magengrube entgegen, immerhin hatten mich Helmut, Charles, Martin und Dieter, die Pausenclique vom Schulhof, ganz schön unter Druck gesetzt, bis ich endlich dazu bereit war. Dafür akzeptierten sie mich, kaum stand mein Entschluss fest, sogleich als Mann unter Männern.

Erst galt es, ein unerwartetes Hindernis zu überwinden, denn Zigaretten besaß keiner der Jungs. Zigaretten waren keineswegs knapp, überall hingen Automaten und praktisch jeder Mann rauchte so selbstverständlich, wie es umgekehrt selbstverständlich war, dass Frauen nicht rauchten. Overstolz, Juno, Reval oder Peer Export, die Markennamen waren uns ebenso geläufig, wie die der noch seltenen Autos.

Zigaretten waren außerdem nicht teuer, für eine Mark gab es eine ganze Schachtel. Leider reichte unsere zusammengeworfene Barschaft gerade für ein Döschen Monopol-Zündhölzer. Taschengeld kannten wir nur aus der Kinderstunde im Fernsehen, und daheim um Geld für Zigaretten zu bitten, schien keinem von uns eine gute Idee. Seltsamerweise überlegte ich keine Sekunde lang, wie die Pausenclique dieses Problem bisher gelöst haben mochte. Ich fühlte, glaube ich, damals nur eine gewisse Erleichterung, als ich mich bereit erklärte, meinen ersten Rauchversuch, wenn auch mit Bedauern, zu verschieben. Im Stillen hoffte ich vielleicht sogar, dass meine Mitschüler den guten Willen für die Tat nähmen und ich noch einmal davon kommen könnte.

Die Pausenclique zögerte, wohl weniger aus Ratlosigkeit, sondern eher eine angemessene Bedenkzeit lang, wie sie Heinz Megerlein in seinem Fernsehquiz „Hätten Sie’s gewusst?“ seinen beiden Kandidaten gewährte, dann kam Helmut mit seinem Vorschlag: „Wir klauen einfach ein Päckchen bei Edeka!“

Eben noch hatte ich mich für mutig und ein wenig verrucht gehalten, weil ich heimlich rauchen und damit gegen irgendwelche Gesetze verstoßen wollte. Nun erkannte ich, wie leicht man auf die schiefe Bahn geriet, wenn man nur ein bisschen vom rechten Weg abwich. Liebend gern hätte ich mich einfach davon gemacht, rauchen wollte ich genau genommen gar nicht, bei einem Diebstahl mitzuwirken traute ich mich ganz gewiss nicht. Noch weniger allerdings wagte ich, das auch zuzugeben und als Feigling dazustehen. Folglich schwieg ich und hörte scheinbar ruhig doch innerlich zitternd den bestens ausgearbeiteten Plan an.

Im kleinen Edekaladen, nur ein paar Hundert Meter von der Gemeinschaftsschule Hagen-Halden entfernt, arbeitete nur ein Verkäufer, ein älterer Mann, den galt es abzulenken und im rechten Moment in das Regal neben der Kasse zu greifen, raus und fertig. Kein Problem, es konnte überhaupt nichts schief gehen. Ich kannte die einschlägige Kriminalliteratur noch nicht, sonst hätte ich geahnt, dass es so simpel nicht sein konnte.

Außerdem war da noch eine Kleinigkeit: Ich sollte den Griff ins Regal tun. Bevor ich protestieren konnte, ein Wort, das ich damals noch nicht kannte, da es in Deutschland erst im Jahre 1968 eingebürgert werden würde, sicherten mir die Jungs bereits ihre Unterstützung zu und immer noch wurde ich nicht misstrauisch. Ich war nicht gerade everybodys Darling, einen guten Kopf größer als alle anderen, spindeldürr, ein grottenschlechter Sportler und höchstens mittelmäßiger Schüler, klar, dass ich nach jeder Chance griff, die mir die Clique bot. Keinen Moment lang glaubte ich, dass die Bande einen Dummen brauchte, der den Kopf für sie hinhielt.

Wir betreten den Laden, Dieter, Charles, Martin und Helmut verteilen sich unter großem Getöse sogleich überall im Raum, während ich mich im Eingangsbereich herumdrücke. Alles ist ganz unwirklich, so, als würde ich gar nicht hier sein, sondern einem Film zuschauen. Wie vorhergesagt, ist der Mann allein im Geschäft und die hektischen Bewegungen meiner Komplizen beunruhigen ihn. Überall wird etwas angefasst und hochgehoben, lange hält er es nicht aus und wie beabsichtigt geht er nach hinten, dort, wo ihm die Regale die Sicht auf die Kasse versperren. Jetzt? Gleich wird er wieder hersehen! Jetzt! Ich bin fast starr vor Furcht, heiß ist mir und mein Herz rast, dann packe ich ins Regal, greife mir eine Schachtel HB, genau wie abgesprochen und schon sind meine Kumpane wieder da, gleich darauf verlassen wir zusammen den Laden.

Wenn es das perfekte Verbrechen gibt: Wir hatten es soeben begangen. Noch heute würde ich darauf wetten, dass der Händler nie bemerkt hätte, dass ihm ein Päckchen Zigaretten fehlte. Wenn ich auch nicht gewollt hatte, vor Angst fast gestorben und soeben noch am liebsten weggelaufen wäre, jetzt war ich stolz. Die Erleichterung ließ mich vermutlich etwas größer werden, zumindest aber gerade stehen. Großspurig zeigte ich meine Beute vor und erntete die schulterklopfende Anerkennung meiner Mittäter.

Die Hand in meinem Nacken gehörte jedoch keinem von ihnen, dafür war sie zu groß und zu stark. Der Kaufmann hatte uns erwischt, das heißt mich, denn die anderen hatten die weiteren Ereignisse nicht abgewartet. Heute weiß ich, dass es ein Fehler war, unsere Beute direkt vor dem Schaufenster des Geschäftes teilen zu wollen. Andrerseits: wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn mein erster Coup geglückt wäre! Geraucht habe ich später übrigens dennoch, HB ist nie zu meiner Marke geworden.

7 Gedanken zu “Der Griff zur Zigarette

  1. Eine wunderbare Geschichte. Ja, der Cliquendruck war oft groß, was war denn deine Strafe? Meine erste Zigarette rauchte ich auf einem Baum (ich war mehr mit Jungs unterwegs als mit Mädchen) Mir wurde natürlich sofort übel und schwindlig und ich ließ es dann lange bleiben. Später bekam ich dann leider immer welche von einem Verehrer geschenkt: Kurmark hieß die Sorte, die gab es nur in Süddeutschland und man fühlte sich so erwachsen wenn man rauchte. Welche ein Irrtum !

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  2. Ich staune immer wieder (um nicht zu sagen verzweifle), wenn ich sehe, zu was sich ansonsten durchaus vernünftige Jugendliche bewegen lassen, im verzweifelten Bemühen, dazuzugehören und nicht ausgestossen zu werden. Und wie viel gefährdeter sind noch einmal die unvernünftigen… wobei, was heisst da Jugendliche…?
    Was mich betrifft, darf ich behaupten, noch nie eine Zigarette geraucht zu haben. Der Gestank meiner Eltern hatte mir gereicht. Wobei auch das durchaus unbekömmliche „Rauchen“ einer Niele einen nicht unwesentlichen Einfluss gehabt haben dürfte… 😉

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    • Die Niele musste ich erst nachschlagen, ihr raucht nicht nur seltsame Sachen, ihr habt auch noch interessante Namen dafür. Grundsätzlich hast du Recht, die Gruppe hat eine Menge Einfluss auf das Verhalten, positiv wie negativ. Als soziale Wesen können wir uns dem kaum entziehen, das Rauchen ist da noch ein fast harmloses Beispiel.

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      • Ach ja, die gute alte Waldrebe. Der einfachste und billigste Weg für Kinder, im Verborgenen etwas „Rauchen“ zu spielen. Riecht aber scheusslich. Zu mehr als einem spielerischen Versuch hatte ich es nicht gebracht.

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    • Das habe ich geahnt, schön, dass es jetzt auch bewiesen ist – obwohl ich befürchte, dass eine vergleichbare Studie über den Verzehr von Möhren zu einem ähnlich schockierenden Ergebnis käme.

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