Ich bin noch ganz aufgewühlt.
Was sollte das denn gerade? Dabei bin ich sonst eher der bedächtige Typ. Also ruhig geblieben bin ich schon, ich hab ihm keine Szene gemacht, nicht rumgebrüllt oder Türen geschlagen, aber auf dem Heimweg hab ich es einfach nicht aus dem Kopf gekriegt. Wünscht er mir alles Gute. Ich kenne den Mann nicht. Habe ihn nie zuvor gesehen – und er wünscht mir alles Gute.
Ich darf doch wohl bitten. Geht’s denn noch?
Eine rein geschäftsmäßige Begegnung. Unterlagen abholen. Guten Morgen. Danke schön. Bitte schön. Und alles Gute für Sie.
Hä? Wieso? Sehe ich so aus, als hätte ich das nötig? Weiß der mehr als ich?
Wir sind hier doch nicht in Italien! Nicht das ich etwas gegen Italien hätte. Ich habe keine Ahnung von Italien, kann ja nicht mal Italienisch. Aber diese spontane Emotionalität… die verbindet man doch mit dem Süden, oder? Ciao und Küsschen. Das hätte mir ja gerade noch gefehlt.
Das hier ist Westfalen. Münsterland. Nicht von ungefähr heißt das politische Modell, das die Unabhängigkeit von Staaten, aber auch die Zulässigkeit des Krieges regelt, Westfälisches System. Hier kann man Leute erschrecken, wenn man sie grüßt, ohne sie zu kennen. Grüßen heißt, leicht den Kopf bewegen. Die angemessene Reaktion darauf ist ein gemurmeltes ‚Gmm‘. Es reicht aber auch, nur die Lippen ansatzweise zu bewegen. Und die korrekte Antwort auf ein ‚Wie geht’s?‘ lautet ‚Muss!‘. Wobei über das Ausrufungszeichen noch zu diskutieren wäre. Aber ‚Alles Gute für Sie‘?
Das ist ja… Muss man sowas hinnehmen? Kann man sich nicht dagegen wehren? Da muss es doch einen Tatbestand geben, irgendwas, Sittenwidrigkeit, grober Unfug oder so.
Darüber muss ich noch mal nachdenken.
Bis dahin alles Gute!
Ein Psychologe, dessen Buch mir leider abhanden gekommen ist (oder war es Watzlawick) teilt Grußformeln in Streicheleinheiten. Wer „Guten Tag, Herr Sowieso“ sagt, gibt zwei Streicheleinheiten und erwartet auch zwei Streicheleinheiten zurück. Peinlich ist, wenn dem namentlich Gegrüßten der Name des anderen nicht einfällt. Dann kann er nur eine Streicheleinheit zurückgeben, bleibt dem anderen also eine schuldig. Da der Grußvorgang im hohen Maße konventionell ist, bereitet das beiden Unbehagen, genau wie deinem literarischen Ich nicht gefällt, von einem Geschäftspartner drei oder vier Streicheleinheiten zu bekommen. Oder wenn man einen Münsteraner grüßt, ohne ihn zu kennen. 😉
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Grußformeln in Streicheleinheiten umzurechnen, klingt für mich sehr plausibel. Es würde auch erklären, warum manche Leute so entschieden darauf bestehen, jeweils die Tageszeit angesagt zu bekommen.
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Kurz, knapp, knackig. Amüsant sowieso. Ich lese dich gerne 😊
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Das wiederum gefällt mir. Danke sehr.
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Du wärst hier im Süden ständig am grübeln, hier wird geschwätzt was das Zeug hält. Und alles Gute wünsche wir hier auch oft. Abgesehen vom „Grüß Gott“ gibt es mannigfaltige Möglichkeiten sich Fremden zu nähern.
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Ich bin überzeugt davon, dass es da große Unterschiede in der …. nennen wir es mal oberflächlichen Aufgeschlossenheit Fremden gegenüber gibt. Hier ist man sachlich höflich und wird mit zunehmender Bekanntschaft unfreundlicher, während man im Süden überschwänglich freundlich beginnt und zu freundlich desinteressiert wechselt… so etwa?
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Gut erkannt. Zur wirklichen Bekanntschaft muss man dann schon schwäbisch schwätze oder zumindest sehr viel Geduld haben bis man sich dann vielleicht mal wirklich näher kommt.
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Ein kleines Gespräch hier und da und eine langsame Annäherung, das finde ich durchaus eine angemessene Methode, um sich langsam anzunähern.
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die münsterlandgrußbeschreibung erinnert mich doch sehr an berlin – ich bin lange genug hier, dass ich misstrauisch werde, wenn jemand besonders freundlich ist (der will mir auf jeden fall was verkaufen …) – dagegen: Leben Sie wohl! – damit kann man mich erschrecken 😉 (alles gute und leben sie wohl, als ob die leute was wüssten, zu dem man selbst keinen zugang)
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Also, ich würde das ganz cool wegstecken und mir keinen Kopf darüber machen. Anders wäre es, wärst Du der zart besaitete Typ, der hemmungslos in Tränen ausbricht, wenn ihm mal jemand was Gutes wünscht, aber Du hattest Dich und die Situation doch offenbar gut im Griff.
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Moment, ich konnte gerade wegen der Tränen nicht so genau lesen.
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Vorsicht. Aus einer ähnlichen Bemerkung und einem digital gereichten Taschentuch ist vor Jahren mein Taschentuch-Reservat entstanden.
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