Der Weinende Studentenbote

DBSB

Das Jahr geht zu Ende, wir blicken zurück… bla bla bla. Brauche ich etwa einen anständigen Grund, um hier etwas zu veröffentlichen?

Ja? Gut, den habe ich.

Manchmal führt das eine zum anderen, Jules schrieb über Schrift und Materialität. Ich dachte darüber nach, ob es mir etwas bedeutet, dass ein Text als PDF, als Word-Datei, als Computerausdruck oder als mittelalterliche Handschrift vor mir liegt. Mich, so dachte ich, interessiert der Text.

Wie das so ist, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, fällt einem Information vor die Füße, wo man geht und steht. Der Deutschlandfunk berichtete über die bevorstehdende Abschaltung der Mittelwelle – und ein Kommunikations- oder Medienwissenschaftler erzählte etwas darüber, dass sich hier eben die Materialität ändere. Während wir über Papier und Bildschirm nachdenken, beklagen andere den Verlust des Rauschens. Meine Mutter bedauert auch den Verlust Rauschens, aber das ist eine andere Geschichte, sie kommt aus Ostpreußen und ist in Rauschen geboren worden, wie gesagt, eine andere Geschichte. Wir bedauern den Verlust des Knisterns, des Raschelns, der Materialität des Papiers, der Tinte.

Stopp, ich steige da gerade in eine Diskussion ein, die ich jetzt nicht führen wollte. An dieser Stelle geht es mir um ein Stück Papier, um ein paar Stücke Papier, die tatsächlich – so wie sie sind – Bedeutung für mich haben. Mitte der siebziger Jahre, das genaue Datum weiß ich nicht, fand erstmals ein Text, den ich geschrieben hatte, den Weg aus der Schublade. DER WEINENDE STUDENTENBOTE, ein satirisch gedachtes Blatt, von zwei BWL-Studenten der Fachhochschule Emden gemacht, druckte meinen Beitrag. Hier ist er nun:

OSTFRIESLAND MUSS ENDLICH FREI WERDEN
DIE OSTFRIESISCHE BEFREIUNGSFRONT INFORMIERT
Unterdrückte Völker der Welt erheben sich! Ostfriesen – nehmt euren Platz ein unter den Freiheitskämpfern aller Nationen! Nieder mit der kolonialistischen Bundesrepublik, boykottiert die Verwaltungseinrichtungen der Besatzer. Nur die Häuptlinge können uns vertreten, nur die OBF ist Eure Organisation!
Die OBF fordert:
Unabhängigkeit für Ostfriesland! Weg mit der diskriminierenden Vorsilbe „0st“!
Aurich wird Hauptstadt und eigene Briefmarken, Münzen und Botschafter kommen auf den Markt! Die BRD wird nicht diplomatisch anerkannt! Unterricht in ostfriesischen Schulen nur noch in Platt! Dozenten an der FH müssen ihre Vorlesungen in Platt halten.
Wichtige Werke der Weltliteratur müssen ins Platt übersetzt werden. Vordringlich wäre hier die Bibel, der Schimmelreiter, Emanuelle, das Kapital, Grimms Märchen und G.Wöhe: Bilanzierung und Bilanzpolitik. Gründet eine 0BF-Hochschulgruppe! Nichtostfriesen werden aufgefordert, aus Solidarität das „R“ zu rollen! Die OBF kennt keine Parteien mehr, sie kennt nur noch Ostfriesen.
(Mit Genehmigung der OBF aus dem Plattdeutschen übersetzt)

Tja, ich kann es nicht mehr ändern. Das war der Anfang.

 

6 Gedanken zu “Der Weinende Studentenbote

  1. Ein herrliches Zeitdokument ! Gut, dass du es verwahrt hast. In den 70ern entstanden in Studentenkreisen überall solche Periodika, noch mit Schreibmaschine getippt und mit handgeletterten Überschriften, gedruckt im Offsetdruckverfahren, dessen Verbreitung die erste Demokratisierung der Publikation einleitete. Ich habe viele derartige Blätter in der Astadruckerei gedruckt. Manche wandelten sich bald zu richtigen Zeitschriften und waren am Kiosk zu haben wie der Aachener Klenkes, der zuerst von den linken Basisgruppen herausgebracht wurde, dann sich zur Zeitschrift mauserte und heute nur noch ein Gastro- und Shoppingführer ist wie viele dieser ehemals alternativen Blätter. Manche Satiriker haben angefangen wie du, beispielsweise Martin Sonneborn und Benjamin Schiffner (Die Partei/Titanic)

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  2. Pingback: Herb Lubalin, Upper and lower case und die Demokratisierung der Druckschrift

  3. Solche Dinge haben wir also vor über 40 Jahren verzapft. Schön ist es über Deine Gedanken, Erlebnisse und Ansichten zu lesen und ich freue mich, Dich weiterhin so aktiv zu erleben. Herzlichst Dein ehemaliger Schreibkollege Jürgen vom Weinenden Studentenboten.

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  4. Hallo Jürgen, danke für deinen Kommentar. Ich habe gelegentlich Mal von Dieter gehört, was du so machst. Aber das ist nun auch schon länger her. Ja, unser Alter sollte uns nicht im Wege stehen. Diese Form, der Welt zu erzählen, was ich für berichtenswert halte, ist sehr praktisch, weil ich schreiben kann aber nicht muss und völlig frei in der Wahl der Form und Inhalte bin.
    Schöne Grüße
    Manfred

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