An der Ecke, an der eine Ladenpassage begann, die den Nord- und den Südtunnel miteinander verband, sozusagen der Westtunnel, genau an der Nordwesttunnelecke, befand sich eine Bahnhofsbuchhandlung, die mir viel bedeutete. Allerdings kaufte ich dort so gut wie nie etwas, denn um 6:40 Uhr hatte ich schon die Tageszeitung gelesen, war aber für literarische Produkte noch weitgehend unempfänglich.
Im Winter jedoch, wenn die Kälte von den Bahnsteigen ungehindert durch den Nordtunnel zog und mich zittern ließ, bog ich um diese Ecke und trat in einen Strom warmer Luft, der mir regelmäßig einen wohligen Schauer über den blassen Körper laufen ließ. Diese kleine Freude, dieses achtlos gewährte Geschenk, verdankte ich der Bahnhofsbuchhandlung, die ihre Türen zu jeder Jahreszeit geöffnet hielt, um sich möglichen Käufern einladend zu präsentieren, ihre Bediensteten aber nicht einen eisigen Tod sterben lassen mochte.
The best things in life are free, dachte ich dann und warf im vorübergehen noch einen Blick auf die Bahnhofstoiletten, deren Benutzung 50 Cent kostete.
Bahn fahren war damals
für mich ein pseudoreligiöses Erlebnis. Es begann mit den Ankunfts- und Abfahrtzeiten der Züge. Die Zahlen auf den Fahrplänen bezogen sich nicht auf Vorgänge in der realen Welt, sondern entsprangen einem festen Glauben – und Glauben unterscheidet sich von Wissen eben dadurch, dass er letztlich nicht beweisbar ist. Insofern gehörten die Fahrplangestalter der Bahn zu einer kleinen religiösen Minderheit, denn wurde auf Bahnsteig drei die Abfahrtzeit 7:11 Uhr angegeben, glaubte das von uns Reisenden kaum einer.
Am Ausgang der Bahnhofshalle, dort, wo links und rechts die Treppen zu den Bahn-steigen begannen, hing ein Plan des Bahnhofs und direkt darunter auch ein Stadt-plan. Ein Service der Bahn, sah ich davon ab, dass die beiden Karten so tief angebracht waren, dass man niederknien musste, um etwas sehen oder gar lesen zu können. Keine so schlechte Idee, denn vieles dort war so alt, dass ein gelegentlicher ehrfürchtiger Kniefall angemessen gewesen wäre. Und kam nicht auch dem Kniefall eine religiöse Bedeutung zu?
Auf dem Bahnsteig lauschte ich andächtig den oft unverständlichen, aber immer bedeutungsvollen Durchsagen. Längst war mir die Stimme der Ansagerin vertraut, was eine fast anheimelnde Atmosphäre schuf, selbst wenn nur der Hinweis verlesen wurde, aus Sicherheitsgründen kein Gepäck unbeaufsichtigt stehen zu lassen und nur in den gekennzeichneten Zonen zu rauchen. Dieser Vortrag gelang so gut, dass ich stets aufs Neue fasziniert zuhörte, wiewohl ich längst wusste, welcher Zug von welchem Bahnsteig fuhr und alle denkbaren Begründungen für Verspätungen auswendig kannte.
Lange fragte ich mich, worin das Besondere ihrer Vortragstechnik liegen mochte – und es war nicht leicht, sich am frühen Morgen solche Fragen zu stellen, doch irgendwann hatte ich ihre Technik durchschaut.
Ganz zum Ende einer jeden freundlich desinteressierten Durchsage verließ sie offenbar die Kraft, denn während sie bis dahin zügig ihren Text abspulte, zog sie jeweils den letzten Vokal der letzten Silbe einer jeden Durchsage in die Länge und senkt dabei die Stimme. Auf diesen Moment wartete ich und wenn sie es doch einmal schaffte, ihre Ansage konzentriert zu Ende zu bringen, war mir, als habe sie einen Witz erzählt und die Pointe vermasselt.
Erinnert sich da jemand an die letzte Predigt – vielleicht Weihnachten? Sprechen nicht auch unsere Pfarrer in einem unnachahmlichen Singsang, einer Sprache, die außerhalb der Kirchen völlig ungebräuchlich ist, einer Art kirchisch? Und erteilen sie uns nicht auch Ermahnungen und Gebote für unser tägliches Leben? Vorsicht bei der Einfahrt des Zuges! Die Türen schließen automatisch. Treten Sie bitte zurück. Der Zug fährt jetzt ab! Können wir daraus nicht auch für unser Leben lernen? Für wie viele arme Sünder ist der Zug nicht längst abgefahren?
So stand ich schließlich um 6:41 Uhr auf Bahnsteig drei und las die lustigen Ankün-digungen (so fuhr zum Beispiel von Gleis zwei eine Regionalbahn nach Rh!ine). Un-ter der Fahrzielanzeige des Zuges standen zwei Zusatzinformationen: „Hält nicht überall“ und „Hält nicht in Sprakel“. Was für Herausforderungen am frühen Morgen!
War Sprakel etwa ein Synonym für überall?
War ich es, der diese Rätsel lösen sollte?
So wartete ich, intellektuell angenehm angeregt, auf meinen Zug, auf den die mysteriöse Botschaft „HAMM2O ST“ verwies. Derweil lief auf dem Gleis gegenüber ein Nahverkehrszug ein. Noch während er bremste, suchte ich die Fensterfront ab.
War er an diesem Morgen wieder da? So lange hatte er mir allmorgendlich einen Moment der tiefen Freude beschert: der Mann, der seine Arme um seine Tasche ge-schlungen hielt, die wiederum so sicher auf seinen Oberschenkeln ruhte, wie unsere Erde auf den Schultern des Atlas. Der Mann bot, von seligem Schlummer umfangen, der Welt nur seinen halbgeöffneten Mund und den nach hinten geneigten Kopf feil. Die meisten Menschen sehen wir nur im wachen Zustand, der Anblick eines schla
fenden Menschen hat schon deshalb etwas Anrührendes. Diesen Mann hingegen hatte ich noch nie wach gesehen!
Er saß nicht auf seinem Platz. Ich weiß nicht, ob Sie das Verhalten von Berufspend-lern kennen. Berufspendler: was für ein Wort, es hat so etwas von professioneller Esoterik, Berufspendler kontra Amateur-Rutengänger…. Falls Sie diese Spezies nicht kennen sollten: wir neigen dazu, regelmäßig die gleichen Sitzplätze in immer dem gleichen Abteil zu belegen. Wir verzichten lediglich darauf, unser Revier zu markieren.
Deshalb war ich einigermaßen irritiert, als er nicht auf seinem Stammplatz saß. Nun legte ich ein für Berufspendler mindestens ebenso ungewöhnliches Verhalten an den Tag. Ich ließ meine Aktentasche auf dem Bahnsteig stehen, um einmal den Zug in seiner vollen Länge abzuschreiten und mich davon zu überzeugen, ob der Mann eventuell auf einem anderen Platz saß. Dem war aber nicht so, natürlich nicht.
Noch während ich am anderen Ende des Zuges stand und darüber meditierte, was diese Abwesenheit bedeuten mochte und wie ich den Tag ohne die Begegnung mit der personifizierten Ruhe überstehen sollte, hatte die Bundespolizei schon meine Tasche als herrenloses Gepäckstück identifiziert und gesprengt.
Plötzlich verstand ich, was es hieß, aus religiösen Gründen verfolgt zu werden.
Die Sprengung kommt so unerwartet, dass ich doch herzlich auflachen musste. Da ergehst du dich in Betrachtungen, beginnend bei der Bahnhofsbuchhandlung und den guten Dingen, die umsonst sind „Kicks voor nix“ (wie wir Holländer sagen) über die Imponderabilien des Zugverkehrs, Betonung der Lautsprecherdurchsagen bis hin zur Psychopathologie der Berufspendler, dann sieht man dich am Zug entlangeilen und hat keine Ahnung von der ignoranten, aber durchaus eifrigen Polizei. Wenn schon kein Terrorist so früh aufstehen will, dann sprengt die Polizei eben selber, hehe. Dein armer Henkelmann.
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‚Der arme Henkelmann‘ wäre doch noch mal ein Name für ein Konkurrenzprodukt zu ‚der kleine Häwelmann‘. Wer kennt denn noch den Henkelmann in seiner schlichten Blechheit?
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Wunderbare Geschichte! Und nun verstehe ich auch, warum ich neulich, als ich in der Museumsaufseherin in der Zitadelle Spandau eine Frau wiedererkannte, der ich mehrmals in der Bahn begegnet sein muss („mehrmals“, denn ich habe ein miserables Personengedächtnis), warum ich also im selben Augenblick zu der festen Überzeugung gelangte, dass ich sie nun nie wieder in der Bahn treffen werde. Es hat die ganze Bahnfahrerei eben tatsächlich was Spirituelles.
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Mit deinem Erlebnis löst du bei mir eine ganze Reihe von Erinnerungen an Film- oder Buchszenen aus, die in der Bahn spielen und ein magisches bzw. rätselhaftes Element beinhalten. Ja, die Bahn und die Bahnhöfe sind wegen der Aufbruchstimmung, wegen des Reisefiebers, wegen des Abschiedsschmerzes vielleicht besondere Orte, die uns empfänglicher machen für Stimmungen und Bilder.
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Eine schöne Geschichte über morgendliche Routinen am Bahnsteig.
Morgen Früh werde ich einmal genauer auf die Ansagen achten und der Buchhandlung ein bisschen dankbarer sein.
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Ach, die Ansagen… Große Bahnhöfe haben sie automatisiert, was es nicht besser macht. Kleine Haltepunkte lassen uns Reisende gern mal einfach ohne Durchsagen ratlos auf dem Bahnsteig zurück – aber die Durchsagen in den Zügen, zuletzt im ICE nach Berlin, die haben es noch in sich. Da nimmt man gern mal eine Verspätung in Kauf, um einen Text noch einmal in diesem wunderschönen sächsisch geprägten Englisch zu hören, energisch beginnend und dann langsam verebbend…
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Ähnliches auch in München. Die Ansagen im regional gefärbtem Dialekt. Man gewöhnt sich an den Singsang und hat sie liebgewonnen. Dann eine Ansage die nicht vom Band kommt – sächsisch. Das Ansagen-Callcenter scheint in Sachsen zu stehen.
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Da nimmt man die Verspätung gleich gelassener hin, weil man weiß, dass es Menschen gibt, die tagein- tagaus mit Sächsisch leben müssen.
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Wunderbar gelungene, quasi fast schon meditatiefe Kurzprosa über Bahnhofsgeräusche, die wohl jede/r von uns Berufspendlern nur zu gut kennt, wenn mann/frau auch mal länger auf den Zug warten muss…
Und dann: PENG!
Das Leben geht weiter, auch das religiöse…
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