„Da kommen und gehen sie – Männer, Frauen, Deutsche und Ausländer, Gäste, Besucher … und niemand kennt sie. Ich kenne sie. Ein Blick – hübsch, wenn man sich ein bisschen mit Psychologie abgegeben hat. Ich blättere in den Leuten wie in aufgeschlagenen Büchern.“
Kurt Tucholsky: In der Hotelhalle
Irgendwer übernachtete immer in einem Flughafen. Manche strandeten dort, weil sich ihr Anschluss verzögerte, andere, weil sie mit Verspätung eingetroffen waren und den Anschlussflug verpasst hatten. Wenn ein Vulkan oder ein Streik ausbrach, sah es hier allerdings noch ganz anders aus. Dann blieb kein Fleckchen frei, auf dem sich jemand ausstrecken konnte. Marco Leutner glaubte alle Typen von Reisenden zu kennen, denn seine Monitore im Kontrollraum zeigten die Bilder aller Überwachungskameras, die im Abflugbereich des Flughafens installiert waren – und die erfassten jeden, der sich dort aufhielt.
„Die da…“ Marco deutete auf den Monitor rechts oben. „Die Rothaarige.“
„Okay!“ Sabrina Hoppe, Produktmanagerin Videoüberwachung, ließ das Handbuch für einen Moment sinken und warf einen Blick auf die Frau.
„Stephan? Bist du dabei?“ Marco sah zu seinem Kollegen hinüber, der die Monitore im Ankunftsbereich beaufsichtigte.
„Klar. Wen haben wir denn da? Rote Haare… der erste Rothaarige der Bibel war Esau, der sein Erstgeburtsrecht für einen Teller Linsengericht – rote Linsen natürlich – an Jakob verkaufte. Rothaarige sind irgendwie anders, unsere Unbekannte… Kerstin… Ist Kerstin überhaupt eine echte Rothaarige?“
Sabrina schüttelte den Kopf. „Was für eine Frage. Natürlich. Guck doch mal auf den Hauttyp. Blass, Sommersprossen. Das ist kein Tizianrot, das ist ein Karottenkopf. Kerstin Rosewitter heißt sie übrigens, 37 Jahre alt.“
„Warum gerade 37?“ wollte Marco wissen.
„Hab ich gerade gegoogelt. Wenn sie Kerstin heißt, passt das Geburtsjahr 1976 ganz gut. Da war der Vorname ziemlich beliebt.“
„Gut. Weiter. Beruf?“ Marco mochte das Spiel, besonders dann, wenn die Beschreibungen gut fundiert waren.“
Jetzt war Stephan wieder an der Reihe.
„Eher unauffällig gekleidet.“
„Und was soll das heißen? Sie hat sich hingelegt und will schlafen. Da bietet sich nicht gerade ein Modellkleid an.“
„Akzeptiert.“ Marco nickte. „Aus der grauen Jacke können wir nicht viel schließen. Aber sie ist organisatorisch stark.“
„Weil?“ unterbrach Stephan.
„Weil sie ein Kissen und eine Decke dabei hat. Damit lässt sich eine Nacht im Flughafen aushalten. Außerdem ist sie Vorgesetzte, jedenfalls höherrangig als ihre Mitreisenden.“
„Weil sie eine Decke dabei hat? Soviel Organisationstalent hat jede Sekretärin!“ spottete Sabrina.
„Kerstin ist aber keine Sekretärin. Sie liegt, die andren sitzen, sie hat die Decke. Außerdem hat sie kein Gepäck, auf das sie achten müsste. Das machen die andreren für sie. Sie darf schlafen – also hat sie eine Leitungsfunktion.“
„Sie reist also mit ihren Kollegen.“ fuhr Sabrina fort. „Nicht nur mit Handgepäck, da sind schon ein paar größere Gepäckstücke. Es geht also nicht einfach zu einer Geschäftsbesprechung zu einem Kunden in Hamburg… sondern…. sondern sie sind auf dem Weg zu einem Projekt, das einige Wochen in Anspruch nehmen wird. In Hamburg. Medien, Kultur, Hafen… internationale Bauausstellung in Wilhelmsburg. Die IBA, natürlich. Sie ist Architektin, reist mit ihrem Team nach Hamburg, um bei der Umsetzung eines ihrer Entwürfe in Wilhelmsburg mitzuwirken. Organisationstalent, Leitungsfunktion, passt doch.“
„Schön. Sie fliegt nach Hamburg. Sie kommt aber nicht aus Düsseldorf, sie ist ja nur hier gestrandet. Sie ist mit einem Zubringerflug hergekommen… oder per Bahn… per Bahn! Das Architekturbüro ist nämlich ökologisch korrekt ausgerichtet, schon wegen der IBA-Teilnahme. Die… würde eigentlich sowieso per Bahn nach Hamburg fahren. Die würden doch nicht fliegen. Nicht von Essen aus.“
„Sie wohnt also in Essen?“ unterbrach Stephan Marcos Gedanken.
„Nein, dort ist ihr Büro. Sie wohnt da in der Nähe, am Baldeneysee.“
„Ja, in Fischlaken. Das kenne ich.“ stimmte Sabrina zu. „Schön ruhig, eigentlich ländlich, aber mit ganz kurzen Wegen nach Essen.“
„Gut. Wie sind die denn hier nach Düsseldorf gekommen?“
„Die Fachhochschule… da haben die Architektur studiert… Kerstin zumindest. Die hatten ein Ehemaligentreffen, in der FH, die ist ganz in der Nähe. Das hat länger gedauert und dann…“ Marco blickte die Kollegen nacheinander an…
„Natürlich!“ Sabrina führte seine Idee fort. „Dann war es zu spät für den Nachtzug…, nein, darum ging es nicht, dann hätten sie ein Hotel im Hamburg gebraucht. Sie wollten aber kein Hotel buchen, zu teuer… oder einfach nicht politisch korrekt. Ab morgen übernachten die nämlich in Hamburg bei alten Freunden.“
„Genau. Ganz genau.“ Jetzt war auch Stephan wieder dabei. „Deshalb sind sie zum Flugplatz gekommen, hier kann man ja kostenlos schlafen.“
„Also so geht das ja wohl nicht. Wir sind hier doch kein Asyl für knausrige Ökos. Ich ruf mal die Jungs von der Security. Die sollen die drei rausschmeißen.“
„Seltsam“, stellte Sabrina fest. „Jedes Mal endet das so.“
Tucholsky würde sich wundern, welche Einzelheitebn in den aufgeschlagenen Büchern zu finden sind. Das beinah unschuldige Spiel deiner Protagonisten mit Spekulationen wird leider von realen Entwicklungen der Gesichtserkennung kaputt gemacht. Desgl. maschinenlesbare Ausweise mit RFID-Chips bringen im Nu den gesamten Datenschatten auf den Überwachungsschirm.
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Es gibt eben nur noch Verdächtige und bereits Überführte. Aber alles nur zu unserer Sicherheit – oder eben auch mal aus Willkür.
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Auf einem Parkplatz in Clearwater (Florida) hatte mal der Hersteller von Videoüberwachungsanlagen zu Werbezwecken eine Kamera postiert, die jeder am heimischen Computer steuern konnte (nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“). Es war ein Heidenspaß. Ich bin schrecklich gerne auf diesen Link gegangen und habe mir die wildesten Geschichten ausgedacht. Leider hat sogar im überwachungsfreudigen Amerika wohl jemand etwas dagegen gehabt. Die Kamera ist nicht mehr online. Schade. Ich wollte immer was dazu schreiben. – Super Geschichte!
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Danke. Eigentlich geht es auch genau darum: Die Phantasie spielen zu lassen, Personen eine Geschichte anzudichten, daraus wieder weitere Folgen zu ziehen – und am Ende zu glauben, was man sich da zusammengesponnen hat.
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Auf dem Flughafen möchte ich nicht stranden, wo gleich drei Kontrollbeamte sich mit der Identität einer Rothaarigen ergötzen, während am unteren Bildrand einem Geschäftsmann gerade das Gepäck geklaut wird 😉
Aber die Lust am Spiel verstehe ich gut 🙂
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Wer ließe sich nicht gern einmal ablenken und was ist langweiliger als der Versuch, einen Gepäckdiebstahl zu verhindern?
Das „Wer bist du?“ Spiel spielen vermutlich viele. Es macht Spaß, sich einen Lebenslauf für eine Fremde auszudenken – es macht aber auch Spaß, das für einen Freund zu tun. Zur Hochzeit meines Freundes Dieter haben sein Bruder und ich einen fiktiven Lebenslauf für Dieter geschrieben und mit Fotos aus seinem Leben dokumentiert. Was da so alles geht!
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Bei Deiner Fantasie… der arme Dieter! 😉
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Charakter-Entwicklung mal ganz anders. Aber das Spiel gefällt mir.
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