Sieben Uhr elf stand auf dem Fahrplan, immer noch. Wie jeden Tag. Ich blickte auf die Bahnhofsuhr, dann kontrollierte ich sicherheitshalber noch einmal meine Funkarmbanduhr: Verspätung!
„Bitte steigen Sie ein. Die Türen schließen automatisch. Ihr Zug fährt jetzt ab.“
Überall Koffer. Kinder, die ihr Bestes taten, um verloren zu gehen, um sogleich die glückliche Wiedervereinigung mit den fast schon verzweifelten Eltern genießen zu können. Paare, die sich für Tage, Wochen oder Monate trennten.
Die obersten Stufen nahm ich im Sprint, erreichte im letzten Moment den Waggon, in dessen Tür der Schaffner stand und das Abfahrtsignal gab und fand mich gleich darauf auf einem der letzten freien Plätze. Sieben Uhr dreizehn, langsam setzte sich der Bahnsteig in Bewegung und glitt mit zunehmender Geschwindigkeit vor dem Fenster vorbei.
Ohne die Verspätung hätte ich den Zug wohl nicht mehr erreicht, dennoch verspürte ich einen gewissen Ärger auf die Bahn, die so zuverlässig unpünktlich war, dass ich es selbst schon wurde. Nachdem ich etwas zu Atem gekommen war, zog ich den Roman, den ich zur Zeit las, aus meiner Aktentasche und versenkte mich in mein Buch, nicht ohne zuvor das Lesezeichen in meine Jackentasche gesteckt zu haben, weil es nirgends in dem Abteil einen freien und sauberen Ort dafür gab.
Es ging einfach nicht, hier konnte ich nicht lesen! Man quasselte mir in den Text. Aus der Lautstärke ließ sich meist auch auf das Niveau der Sprecher und des Gesprächs schließen. „Milano“ hörte ich, auch wenn ich nicht horchen wollte und hatte ausnahmsweise kein schlechtes Gewissen dabei, ein Gespräch zu belauschen, weil ich nämlich kein Wort verstand. Italiener.
Bella Italia, nie dort gewesen. Sollte schön sein. Das Fernweh, das ich in langen Jahren als Pendler auf immer derselben Strecke eingeübt hatte, sprang automatisch an.
Wie das wohl wäre? Einmal einfach einsteigen, die würden schon ohne mich auskommen. Weg sein, ohne Fahrkarte auf dem Weg ins Abenteuer! Ungeplant, ohne Koffer, ohne Reiseführer, frei wie ein Vogel. Ich spürte ein Kribbeln im Bauch. Rechts ab in die Freiheit, links ab in eine andere Zukunft, geradeaus nach Hause zu Langeweile, Ordnung und Sicherheit
Wie die Ankunft wohl sein würde? Die fremden Lichter, der betörende Duft unbekannter Blumen, das bunte Leben auf den Straßen und Plätzen. Ich bemerkte, dass mir die Worte fehlten, um das Bild der Fremde aufzurufen, zu viel Routine, zu viele Wörter für arbeiten, ausharren, weitermachen.
Die Sprache? Könnte ich mich verständlich machen, dort, in der Fremde? Bei den Fremden, den temperamentvollen, aufbrausenden kleinen Männern mit den schwarzen Haaren?
Wo sollte ich schlafen, was könnte ich essen?
Von vorn näherte sich der Schaffner. Ich zückte das Portemonnaie mit dem kleinen Plastiketui, in dem meine Monatskarte steckte.
Es knackte im Lautsprecher, gleich darauf sagte eine freundlich routinierte Frauenstimme: Ich begrüße Sie an Bord des ICs 522 nach Mailand und wünsche Ihnen im Namen des ganzen Teams eine gute Reise.“
Ich sprang auf und zog die Notbremse.
Die Notbremse zieht dann manch einer doch, weil er/sie über den eigenen Mut erschrickt …
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Genau! Oder wenn ein Traum wahr zu werden droht!
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Wenn die Freiheit winkt und das Fernweh lockt, da zieht dein Protagonist die Notbremse. Da ist ja ein Koitus Interuptus noch schöner 😉
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Weil die Freiheit ein Tagtraum ist, den viele träumen. Wenn dafür aber die Sicherheit des Alltags geopfert werden muss, dann ist der Pauschalurlaub vielleicht doch die bessere Alternative.
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Lol Feigling! 😉
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Gott sei Dank funktionieren wir oft so, sonst gäbe es diese Geschichte nicht! 😉
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